2. Ava 2. Ellie

2. Ava

Mir klappt die Kinnlade herunter. Ich bin baff. So richtig baff. Dieser unglaublich heiße Typ soll mein bester Freund aus der Kindheit sein? Das ist ein Scherz, oder? Den Travis, den ich gekannt habe, war total mager und zierlich. Ich starre ihn für eine gefühlte Ewigkeit an. Diese blaugrauen Augen habe ich bisher in meinem Leben nur ein einziges Mal gesehen. Und dieser Mensch hieß Travis.

Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln. Ich stoße einen Schrei aus und springe ihn in die Arme. Vor Überraschung taumelt er ein paar Schritte zurück. Schließlich spüre ich seine Brust vibrieren. Er schlingt die Arme um meine Taille und ich atme sein Aftershave ein. Verdammt, sogar sein Aftershave ist sexy.

„Du hast dich aber ganz schön verändert", murmele ich in seinen Schultern.

„Sagt die Richtige", erwidert er. Ich höre ein Grinsen aus seiner Antwort heraus.

Ich drücke ihn fest. Acht Jahre ist es her, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ellie, Travis und ich waren unzertrennlich, bis Ellies Eltern starben und Travis mit seiner Familie wegzog. Somit habe ich mit einem Schlag beide meine besten Freunde verloren. Aber jetzt sind sie beide wieder da. Mein Leben ist wieder komplett.

„Warum bist du hier?", frage ich Travis und löse mich von ihm.

„Hier auf dem Flieger oder hier am Ort?", entgegnet er immer noch grinsend.

„Beides!", rufe ich beinahe schon aufgebracht. Wieso scheint ihm unser Wiedersehen so gleichgültig zu sein? Ich schlage ihn auf den Arm.

„Wofür war das denn bitte?"

„Für dein unverschämtes Grinsen", gebe ich beleidigt von mir, „und jetzt beantworte meine Frage."

Er reibt die Stelle am Arm, mit der meine Hand zuvor in Kontakt gekommen ist und seufzt. „Mann, Mann, Mann. Ein paar Jahre ist es her und schon hat sich die süße Ava zu einer Gewalttäterin verwandelt."

„Oder, Kumpel?! Du hast noch Glück, dass du nicht mit ihr unter einem Dach wohnst. Sonst-"

„Jeremiah – Halt. Die. Klappe", bringe ich zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Er hebt kapitulierend die Hände und versteckt sich beim Anblick meines wütenden Funkelns hinter einem Automagazin.

„Meine Tante und ihr Ehemann haben hier ihre Silberhochzeit gefeiert und die ganze Familie eingeladen. Und nun fliege ich in meine Heimatstadt zurück, in der ich das kommende Semester studieren werde."

Erneut stoße ich einen Schrei aus und falle Travis um den Hals.

„Das heißt, dass wir wieder in der gleichen Stadt wohnen?", frage ich aufgeregt und hüpfe dabei auf und ab.

„Nicht nur das, wir sind sogar in derselben Uni und werden uns höchstwahrscheinlich jeden Tag sehen", erwidert er lächelnd.

„OmeinGottomeinGottomeinGott!"

„Au, mein Hals."

„Entschuldige." Ich höre auf zu hüpfen und löse mich von ihm. Im nächsten Augenblick bittet eine Stewardess Travis und mich, uns auf unsere Plätze zu begeben, da es Zeit zum Abflug ist. Da Travis weiter hinten sitzt, verabschieden wir uns.

„Es ist wirklich schön, dich wiederzusehen, Ava", sagt er.

Ich nicke. „Wehe, du sagst nicht hallo, wenn wir uns in der Uni begegnen", drohe ich.

Er schüttelt lachend den Kopf. „Bis dann, Ava. Ich ruf dich an."


Ellie

Nun, pünktlich zum Start des neuen Semesters, strömen massenhaft Studenten in die Stadt und Steven's, die Bar, in der ich schon seit Beginn meines Studiums arbeite, wieder voll zu werden. Sehr zu meinem Vorteil. Denn die nächste Mietzahlung steht an und ohne das zusätzliche Trinkgeld komme ich nicht über die Runde. Meine Eltern haben mir zwar einen Haufen Geld hinterlassen, aber ich würde nicht im Traum denken, es zu benutzen. Nicht etwa deswegen, weil es ihr Geld ist – das auch – aber ich kann es ihnen nicht zurückzahlen. Sie sind nämlich für immer nicht mehr da. Ich kann den Gedanke nicht ertragen, dass sie mir etwas geben, ich ihnen aber dieses Etwas nie zurückgeben kann.

„Ey, nochmal zehn Tequilas, bitte!", ruft ein bereits angetrunkener Typ, der inmitten seiner Kumpel sitzt, zu mir rüber.

Ich gieße zehn Gläser voll und bringe diese zu seinem Tisch. Ich stelle die Gläser ab und räume die leeren weg. Als ich im Begriff bin, mich umzudrehen und hinter die Theke zu verschwinden, legt ein Typ seine Hand auf meinem Hintern.

„Nicht so schnell, Babe", ertönt eine rauchige Stimme.

Ich versteife mich und umklammere das Brett mit den leeren Gläsern so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortreten. Tief atme ich ein und aus, auch wenn die Luft vom Zigarettengeruch beschmutzt ist und mein Kopf dadurch nicht klarer wird.

Mach bloß nichts Dummes', ermahnt mich mein Hinterkopf, ‚du brauchst diesen Job.'

Es ist nicht das erste Mal, dass ich begrapscht werde. Die Uniform, die aus einem tiefausgeschnitten Tanktop und einer über den Oberschenkeln endenden Schürze besteht, lädt die männliche Bevölkerung förmlich dazu ein, einen anzufassen. Mittlerweile habe ich gelernt, nicht gleich auszuflippen und mich unter Kontrolle zu halten. Beim ersten Mal habe ich den Typen die Bierflasche auf den Kopf geknallt. Seine Kopfhaut ist aufgeplatzt und musste genäht werden. Danach hat er von meinem Boss Steven verlangt, mich zu feuern und mir mit einer Anzeige angedroht, wenn ich keine Entschädigung zahle. Steven hätte es fast getan, wäre da nicht Ava gewesen, die mit dem Typen geredet hatte und der an dem darauffolgenden Tag seine Meinung änderte und sich sogar bei mir entschuldigte.

Ich wende mich dem Typen zu. Er sieht nicht schlecht aus, muskelbepackt und markantes Gesicht. Ich lege ihm ein Glas Tequila in die Hand und beuge mich so weit nach vorne, bis ich sein Ohr erreiche.

„Viel Vergnügen damit." Er stinkt nach Schweiß und Alkohol.

Als ich mich wieder zurücklehne, sehe ich, wie sein Blick bei meinem Ausschnitt verweilt. Perverser.

Letztendlich entkomme ich der Schar von Muskelprotzen. Die Theke erscheint auf einmal wie Paradies. Ich spüle das Geschirr ab.

„Zeit für deine Pause", kündigt Steven an und scheucht mich vom Waschbecken, „ich erledige den Rest."

„Danke", murmele ich. Steven ist Anfang vierzig und für die heutigen Größenverhältnisse von Männern recht klein. Er schaut immer grimmig drein und verhält sich auch so. Es geht das Gerücht um, dass er einst Polizist war, seinen Job dann verlor, weil er den Verdächtigen einer Mordtat geholfen hat, der Inspektion zu entkommen.

Ich überquere das Personalbereich und schlüpfe durch die Hintertür nach draußen. Spätsommerliche Nachtluft dringt in meine Nase ein. Ich stoße einen erleichterten Seufzer aus. Allein fühle ich mich am wohlsten. Ich lehne mich gegen die kühle Wand des Gebäudes und starre auf die von Straßenlaterne beleuchtete Mühlhalde.

Ich hasse den Nebenjob. Er macht mir weder Spaß noch ist er nervtötend. Ständig muss ich mit Kerlen kämpfen, die vor ihren Kameraden natürlich super hart erscheinen, aber in der Realität wahre Weicheier sind. Sie kriegen es nicht hin, Mädchen vernünftig anzuquatschen, weil es ja och so peinlich ist. Stattdessen tun sie es auf grobe Weise. Zuerst ziehen sie einen förmlich mit Blicken aus und dann tatschen sie einen was weiß ich sonst wo an. Wer sich Mädchen gegenüber so respektlos verhält, der braucht sich nicht wundern, dass er keine ins Bett bekommt.

Das erste, was ich tun werde, sobald ich mein Studium beendet habe, ist zu kündigen. Der Job ist qualvoll, aber ich muss die Qual ertragen. Die Hälfte meines Lebens war qualvoll gewesen. Spaß hatte ich, seitdem meine Eltern tot sind, nie gehabt. Das Internat erlaubte keinen Spaß. Großmutter und Großvater erlaubten keinen Spaß. Ich erlaubte mir keinen Spaß. Ich bildete mir ein, dass, wenn ich ihre Erwartungen erfülle und so sein bin, wie sie es wollen, dann würden Großmutter und Großvater nach Hause holen mich und bei ihnen wohnen lassen. Dann würden sie mich lieben.

Aber nein, sie hassen mich. Genauso, wie sie meinen Vater hassen.

Das Klingeln meines Handys reißt mich aus meinen Gedanken. Ich ziehe es aus der Seitentasche meiner Schürze heraus.

Unbekannt

„Ellie Holmes. Hallo?"

„Du solltest deinen Namen nicht sagen, wenn du den Anruf eines Unbekannten annimmst", ertönt eine tiefe Stimme von anderem Ende der Leitung.

Ich nehme das Handy vom Ohr und starre auf das Display. Die Nummer ist mir absolut fremd. Wahrscheinlich ist es wieder irgendein Spaßvogel, der zu früh vom Zuhause zurückgekommen ist und sich aus Langeweile einen Streich erlauben lässt. Ich seufze und drücke auf die rote Taste.

Idiot.

-

Meine Schicht endet kurz vor Mittagnacht. Erschöpft schleppe ich mich in das Personalbereich. Ich ziehe die viel zu knappe Uniform aus und schlüpfe in T-Shirt und Jeans. Sofort beginnt meine Angespanntheit, die sich über den ganzen Abend in mir aufgebaut hat, nachzulassen. Das ist immer mein Lieblingsmoment. Ich kann wieder ich selbst sein, und nicht irgendeine Kellnerin, die sich wie eine Nutte verhalten muss, um möglichst viel Trinkgeld zu bekommen.

Gähnend trete ich aus der Bar. Die Augen halbgeöffnet, mache ich mich auf dem Heimweg. Meine Lider fühlen sich unglaublich schwer an. In der vergangenen Nacht habe ich nur drei Stunden schlafen können, weil Leah, meine Mitbewohnerin, wieder mal ihren Krisentag hatte. An so an einem Tag zieht sie sich einen traurigen Film nach dem nächsten rein und heult. Leah studiert nämlich Medizin. Das Studium wächst ihr von Zeit zu Zeit über den Kopf und ich, ein gutherziger Mensch wie ich nun mal bin, habe natürlich vollends Verständnis dafür. Manchmal, wenn mein Stundenplan es erlaubt, was ganz selten der Fall ist, setze ich mich sogar dazu und schaue mit.

„Ellie."

Ruckartig schlage ich meine Augen auf. Ist das nicht die Stimme des Idioten, der mich vorhin angerufen hat?

Offensichtlich kennt er mich ziemlich gut, wenn er meine Handynummer und sogar meinen Namen weiß. Ich höre, wie er sich mir nähert. Mit jedem Schritt nehme ich seine Präsenz deutlicher wahr. Diese Person hat eine starke Aura.

Plötzlich hämmert mein Herz hart gegen meine Brust. Gänsehaut breitet sich über meinem ganzen Körper aus. Mir stockt der Atem. Verdammt, es ist nicht eines der Muskelprotzen von vorhin, der mich vergewaltigen will, oder? Ich schiele nach links und rechts, überall Bierflaschen und ausgedrückte Zigaretten, die vom schwachen Laternenlicht beleuchtet werden, jedoch keine Menschenseele in Sicht. Vielleicht sollte ich rennen?

Nein, er würde mich mit nur wenigen Schritten einholen. Fieberhaft denke ich nach, was ich im Selbstverteidigungskurs gelernt hatte.

Nicht in Panik geraten. Ruhig bleiben. Wenn der Angreifer sich von hinten an dir heranschleicht, warte, bis er in Reichweite ist, dreh dich um, pack ihn an den Schultern und ramm ihm die Beine in die Eier. Dann LAUF.

Ich atme tief durch den Mund aus. Keine große Sache. Ist ja nicht das erste Mal, das ich mich in so einer beschissenenen Situation befinde.

Blitzschnell drehe ich mich im und verpasse dem Typen einen festen Tritt. Er krümmt zusammen und stößt einen ächzenden Laut aus.

Ich war im Begriff, ihm zusätzlich gegens Schienbein zu treten. Doch mir fallen sechs Buchstaben auf, die in seinen linken Unterarm tätowiert sind: VAUGHN. Die Rädchen in meinem Gehirn drehen sich auf einmal ganz schnell. Ich kenne den Namen.

Eher ich mich versehe, hat sich der Typ aufgerichtet. Seine Augen funkeln vor Wut.

„Was zum Teufel sollte das denn eben?!"

Meine Lippen spalten sich. Mein Mund ist staubtrocken. Bilder von gestern Nacht, Bilder, die ich den ganzen Tag unterdrückt habe, schießen mir wieder durch den Kopf. Ich starre in seine blauen Augen und fühle die Wärme, die er ausstrahlt. Ich entsinne mich das Gefühl seines harten, muskulösen Körper gegen meinen und erschauere.

Seit wann reagieren meine Hormone auf das andere Geschlecht? Ich wurde von genug Männern angefasst. Ich bin immun dagegen.

„Tut mir leid, ich wusste nicht, dass du es bist." Ich zucke gleichgültig mit den Schultern.

„Hättest du vorhin nicht so schnell aufgelegt, wüsstest du es." In seiner Stimme schwingt ein vorwurfsvoller Ton mit.

Wusste ich es doch, dass er der Idiot am Telefon war!

Ich werfe ihm einen gelangweilten Blick zu, bevor sich meine Füße in Bewegung setzen. Fast biege ich die Ecke zum Studentenwohnheim, holt er mich ein und hält mir meine Jacke vor der Nase.

„Die lag bei mir im Auto. Müsste deine sein."

Stumm nehme ich diese entgegen. „Danke", murmele ich, „mir ist das gar nicht aufgefallen." Sonst wäre ich vermutlich schon längst ausgeflippt. Die Jacke ist nämlich erst ein Jahr alt und im Vergleich zu meinen anderen Kleidungsstücken recht teuer gewesen. Ich habe weder Lust und noch überschüssiges Geld, in eine neue zu investieren.

Er grinst wölfisch. Seine nicht ganz geraden Zähne blitzen hervor. „Aber mal ehrlich, du sollst bei einer unbekannten Nummer echt nicht deinen Namen sagen."

Eine Welle der Müdigkeit überrollt mich. Mir entfährt ein lautes Gähnen. „Aha, und warum?"

„Es könnten Betrüger, Schwindler oder Stalker sein, die nach einem Zielobjekt suchen."

Er spricht in einem extra tiefen Bass, um das Ganze dramatischer zu gestalten.

Doch meine Müdigkeit übernimmt die Oberhand, sodass ich abermals lautstark gähne, anstatt mich zu gruseln.

Er verschränkt seine muskulösen Arme vor der Brust und lacht leise. „Du verletzt gerade ernsthaft mein Ego, weißt du das? Noch nie hat ein Mädchen vor meinen Augen sooft gegähnt und mir damit indirekt das Signal gegeben, ich sei langweilig."

„Hmm, du bist also ein Stalker?"

Unfähig ihm in die Augen zu schauen, verweilt mein Blick auf seine Hände. Die sind groß und lagen gestern auf meine Oberschenkel.

„Wer stalkt hier wen, hm? Wer bist du? Woher wusstest du, wo ich wohne?" Er sieht mich forschend an.

Das Bilderkarussell in meinem Kopf hört schlagartig auf zu drehen. Mit einem Mal bin ich hell wach. Das Blut rauscht mir in den Ohren. Fassungslosigkeit und Hysterie durchströmen meine Ader.

Ich bin die beste Freundin seiner Freundin und war oft genug bei denen in der Wohnung zum Besuch und ER WEIß NICHT, WER ICH BIN?

„Du bist ganz schön ignorant, was?", bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Fick dich, du egozentrisches, selbstsüchtiges Arschloch!"

Ich stampfe davon.

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