13. Fynn
13. Fynn
Der Rucksack ist vollgestopft mit Holzblöcken, die meiner Meinung nach gutes Feuer liefern werden. Außerdem setzt die Abenddämmerung ein, weshalb ich beginne, bergab zu wandern. Der Temperatur nach zu beurteilen befinde ich mich ein ganzes Stück über dem Meeresspiegel, was die dünne Schicht Frost auf Blättern beweist.
Ich bevorzuge kalte Jahreszeiten, weil Großvater ein Wintermensch war; was übrigens nicht komplett darauf beruht, dass er in Dezember geboren wurde. Er liebte einfach die Kälte und die eisige Temperatur. Vor allem aber liebte er die winterlichen Spaziergänge durch Wald, besonders wenn die Sonne scheint und einzelne Strahlen durch die Schlitzen zwischen den Ästen der Bäume auf den mit Schnee bedeckten Boden fallen. Das monotone Weiß wird dadurch einem edlen Glanz verliehen, der sogar Diamanten Konkurrenz schafft. Wenn er uns besucht hat - was leider viel zu selten der Fall war - nahm er mich mit in die Stadt und wir sind die großen Alleen hinuntergeschlendert, an denen links und rechts Markt stattfanden. Und jedes Mal hat Großvater sich beschwert, warum es denn kein Eis gäbe, wohingegen sich andere nach einer heißen Schokolade sehnen würden.
Aus dem Augenwinkel bemerke ich eine Bewegung, die von einem leisen Rascheln begleitet. Ich fasse nach hinten in meine Gesäßtasche, in der ein Taschenmesser verstaut ist, und taste mich langsam seitwärts.
„Ellie?!", stutze ich beim Anblick des distinktiven Blondschopfs.
Überrascht schnellt ihr Kopf nach rechts. Sie sitzt auf der halbfeuchten Erde, beide Hände um ihren Unterschenkel gelegt.
„Fynn-"
„Du hast dich verletzt", stelle ich fest und überwinde die letzten Meter, um das Geschehnis näher unter die Lupe zu nehmen.
„Hände weg", ordne ich an.
„Es ist alles in-"
„Hände weg. Ich möchte es nicht noch einmal sagen müssen." Aus unerklärlichen Gründen ist meine Stimme mit einer Kombination aus Erschöpfung und Wut getränkt. Ich bin es leid, diesem Mädchen über den Weg zu laufen. Sie stört mich. Ihre verdammte Intelligenz, mit der sie mich mühelos durchschaut, und ihre Unberechenbarkeit, die ihrer engelhaften Erscheinung völlig widersetzt. Sie stellt ein Enigma dar, welches nicht für mich bestimmt sein sollte. Aber zum Teufel, ich ersehne mir, dieses zu lösen! Es ist, als wären gewisse Schalter in meinem Hirn umgelegt worden - Ellie ist mir plötzlich nicht mehr egal.
Klar, die Tatsache bleibt, dass jeglicher Kontakt zu ihr keinen Gewinn hervorbringt. Jedoch ist sie seit dem Tod von Großvater die erste Person, die mir eine Lektion erteilen konnte. Sie hat mir gezeigt, wie vernichtend meine Ignoranz wirken kann, und wie furchtbar sich Schuld anfühlt. Ich frage mich, was an ihr mein Inneres berühren konnte. Von Ava weiß ich, dass Ellies Kindheit nicht gerade mit Adjektiven wie „beneidenswert" oder „unvergesslich" beschrieben werden kann. Dazu verspüre ich übrigens Affinität. Meine Kindheit mag nicht unbedingt scheußlich oder lieblos gewesen sein, dafür war sie mit unendlichen Obstakeln angereichert. Ich musste für jeden verdammten bisschen Spaß den Arsch abarbeiten. Mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden sein heißt nicht automatisch, dass man im Luxus lebt.
Ob dieses Mädchen mit dem naiven Puppengesicht den leisesten Schimmer davon hat? Wohl kaum. Genau deswegen müssen wir uns unterhalten. Sie sollte verstehen, dass ich nicht ohne Grund das tue, was ich tue. Alles lässt sich nachvollziehbar begründen. Als Ausgleich wünsche ich mir einen Einblick in Ellie Theresa Holmes Privatsphäre, oder besser gesagt - eine Aufklärung über die bodenlose Tiefe ihrer Persönlichkeit.
Zögerlich entblößt sie ihre gebräunte Wade, und lange Schürfwunden kommen zum Vorschein. Ich stoße einen gequälten Laut aus. „Hör zu, Püppchen: Sofern du nicht imstande bist, auf dich selbst aufzupassen, mache keinen Abenteuerurlaub. Diesmal hast du Glück, dass ich dich entdeckt habe. Beim nächsten Mal - ", ich lache humorlos, „wirst du womöglich verhungern, erfrieren ... Hm, fällt dir noch was anderes ein?"
Sie erwidert mein unverschämtes Grinsen. „Verblutet? Totgebissen? Lebendig begraben?", zählt sie auf.
„Unbestreitbar", entgegne ich gespielt todesernst.
„Fahr zur Hölle", murmelt sie und stützt sich zum Aufstehen auf. Ich mache Anstalten, ihr zu helfen, ernte aber einen Korb. Ohne weiteres zerre ich sie auf meinen Rücken, den Rucksack auf meiner Vorderseite befestigt. Ihre Arme legen sich zart um meinen Hals. Für den Bruchteil einer Sekunde streift eine Strähne ihrer samtigen Haare mein Gesicht. Der klassisch feminine Duft der Vanille dringt durch meine Nase und versetzt diese in einen kurzen Rausch.
Bis auf den kaum hörbaren Aufprall meiner Schuhe auf die Erde und das leichte Rascheln der Blätter herrscht Stille. Nach einer Weile ertönt ein Räuspern, gefolgt von Ellies zögerliche Stimme:„Danke. Ohne dich wäre ich wohl heute ziemlich ...", sagt sie.
„ ... abgefuckt", beende ich den Satz für sie.
„Da sind wir ausnahmsweise mal gleicher Meinung", gibt sie widerwillig zu.
Ich rümpfe die Nase. Sie sollte sich glücklich schätzen, überhaupt eine Meinung von mir zu haben.
„Bist du sonst irgendwo verletzt?", brumme ich.
„Nein", antwortet sie.
Die Wut über ihr unüberlegtes Verhalten trifft mich erneut. „Warum in aller Welt bist du den Berg hinaufgeklettert?"
„Ich habe Handyempfang gebraucht."
„Wofür? Um die neuesten Whatsapp-Nachrichten zu checken? Ich hätte dich nicht für die Art von Frauen gehalten."
Herrgott, warum klinge ich beinahe enttäuscht?
„Ich bin auch nicht die Art von Frauen, die jede Sekunde an ihrem Handy hängt, okay?", schießt sie scharf zurück, „mein Professor hat mich zur Leiterin eines sehr wichtigen und umfangreichen Projektes ernannt, das in zwei Wochen fertig sein muss. Unser Team arbeitet jede freie Minute dran, und ich habe dummerweise vergessen, für dieses Wochenende die Aufgaben einzuteilen."
„Übertriebene Ambition", murmele ich.
„Aber zum Glück habe ich sie eben erreichen können, da hat sich die Verletzung gelohnt", plappert sie weiter.
„Ja, echt", erwidere ich voller Sarkasmus und kann nicht verhindern, dass mir ein trockenes, humorloses Lachen herausrutscht.
Wie kann eine Frau derartig grob mit sich selbst umgehen? Als ich jünger war, habe ich mich gefragt, warum bei der weiblichen Bevölkerung immens viele Routinen bestehen; die Schminkroutine, die frühmorgens stattfindet, die Abschminkroutine vor dem Schlafengehen, die wöchentliche Maske-Routine, die Baden-in-irgendwelchem-Öl-in-der-Badewanne-Routine et cetera. Und dann, vor allem gab es diese Verabredungen im Spa, wo sich die Frauen neben ihrer ganzen Behandlungen über den neuesten Klatsch austauschen.
„Ach, mein Sohn. Solltest du eines Tages eine Frau heiraten wollen, achte darauf, dass diese Frau sich in erster Linie selbst liebt. Sie sollte gut zu sich selbst sein; sie sollte sich ausreichend um sich selbst kümmern; sie sollte ihre Würde wahren. Nur dann würde nämlich eine gesunde Ehe entstehen, in der sie sich nicht minderwertig fühlt und dazu fähig sein würde, eine gute Ehefrau und Mutter abzugeben."
Tja. Meine Mutter hat Recht. Wenn eine Frau sich selbst noch nicht einmal liebt, wie kann sie erwarten, dass jemand anderes sie liebt?
„Mach sowas nie wieder", warne ich. Bei der Vorstellung von Ellie mit lebensbedrohlichen Verletzungen gefriert mir das Blut in den Adern.
„Die Wahrscheinlichkeit, dass man über die Straße geht und von einem Auto totgefahren wird, liegt viel höher. Außerdem unternehme ich äußerst selten Outdoor-Aktivitäten. Sollte sich mein Tod jedoch zufälligerweise an einem dieser Aktivitäten im Freien ereignen, dann würde das der Wille Gottes sein und wir müssten es akzeptieren."
„Verdammter Mist!", schimpfe ich. Vor Anspannung hat sich jede einzelne meiner Muskeln versteift. Ich setze sie auf einem Stein ab und kauere mich vor ihr hin. Unsicher wandert ihr Blick nach links und rechts. Ich nehme ihr Kinn zwischen den Fingern und zwinge ihren Fokus auf mich. Sichtlich nervös schluckt sie.
„Rede - nie - wieder - so - einen - Schwachsinn", knurre ich.
Die stechend blauen Augen ihrer blinzeln in Geschwindigkeit der Flügelschläge von Schmetterlingen.
„Verstanden?" Die Autorität in meiner Stimme nötigt sie zu nicken. „Versprich mir auch, dass du dich niemals wegen Belanglosigkeiten in Gefahr begibst."
„Der Telefonat gehörte nicht zu Belanglosigkeiten", protestiert sie.
„Versprich - es - mir", stoße ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und verfestige den Griff um ihr Kinn.
Empört verzieht sie das Gesicht. „Fynn, du hast kein Recht, irgendetwas von mir zu verlangen! Was denkst du, wer du für mich bist?!", kurz pausiert sie, „ein Niemand, offen gesagt. Aber das beruht auf Gegenseitigkeit, das kannst du nicht abstreiten, was die Sache umso abstruser macht. Ich schiebe die Schuld an deinem bizarren Ausbruch aufs Testosteron, das anscheinend bei dir zurzeit besonders verrücktspielt, und werde den heutigen Vorfall nicht persönlich nehmen. Lass jedoch so etwas in der Zukunft sein. Bitte."
Als sie im Begriff ist, den Kopf zur Seite zu neigen und somit den Blick von mir abzuwenden, biege ich diesen fast gewaltsam zurück. Ich spüre das dringe Bedürfnis, bei der Frau eine Gehirnwäsche zu vollziehen, damit sie endlich aufhört, unsinnige Schlussfolgerungen ausschließlich anhand ihrer mangelhaften Erfahrungen zu bilden.
Wunschvorstellung.
Plötzlich überkommt mir ein Hauch der Erschöpfung. Abrupt lasse ich sie los, um mich stattdessen neben sie niederzulassen. Ich stütze die Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab und vergrabe das Gesicht in meinen Handflächen.
„Ich versuche, mich dir gegenüber nicht wie ein überhebliches Arschloch aufzuführen. Aber du machst es mir verdammt schwer, Püppchen."
„Also meinen Ansichten nach entsprechen Befehle und ans-Kinn-fassen nicht unbedingt dem üblichen Verhalten eines Nicht-Arschloches", kontert sie.
Diese Frau macht mich wahnsinnig. Im wahrsten Sinne des Wortes. „Warum verdammt kannst du dich meiner Wünsche nicht einfach fügen?" So wie Ava? So wie jeder andere?
Sie seufzt betrübt. „Das Leben ist kein Wunschkonzert, Fynn."
„Ehrlich?" Meine Stimme trieft von Ironie. Diese Tatsache ist mir bereits bewusst geworden, als ich den ersten Schritt in Kindergarten gesetzt habe. Ich durfte nicht spielen, sondern lernen. Sprachen, Kampfsportarten, Instrumente. Alles, was einer elitären Ausbildung untergeordnet ist. Demnach waren meine Kindheit und Jugend von Vernunft geprägt. Mein Vater, ein überambitionierter und strenger Mann, dessen Name im Immobiliengeschäft niemals unbenannt bleibt, erwartet stets exzellente Leistungen und demonstriert mir oft genug die Bedeutsamkeit des ganzen Krams.
Ich habe kein so enges Verhältnis zu ihm als zu Großvater - dafür trennt uns meine zu große Hochachtung vor ihm. Trotzdem schätze ich mich sehr glücklich, den Vorsitzenden der Easton Group meinen Vater nennen zu dürfen. Denn obwohl er selbst dem Immobiliengeschäft unterworfen ist und diesem mit fanatischer Begeisterung betreibt, erwartet er nicht, dass ich in seine Fußstapfen trete.
„Äußere deine Wünsche und ich ziehe in Betracht, dir diese zu erfüllen. Sozusagen als Dankeschön", ertönt es leise neben mir.
Ich drehe mich zu ihr und sehe sie mit unverhohlener Authentizität in die Augen. „Ich möchte einen Neuanfang. Für uns."
Mein Herz klopft laut und stark in meinen Ohren. Sie starrt mich an. Die dunklen Pupillen offenbaren nichts als ein unendliches Vakuum, das mich zum Eintauchen einlädt.
Ich habe keine Ahnung, weshalb ich mich nicht von einer Frau losreißen kann, von der ich anfangs nichts gehalten habe. Ich rätsele über die Gefühle, die sie in mir heraufbeschwört, und die für sie. Vor allem aber über sie. Die Person. Sie ist anders, und ich würde nicht bestreiten, dass eine gewisse Anziehung zwischen uns besteht.
Sekunden verstreichen, ohne dass sie einen Laut von sich gibt. Unwillkürlich ertappe ich mich bei der Hoffnung, in der sie positiv antwortet.
„Okay" ist alles, was erfolgt.
„Cool." Abrupt stehe ich auf, um anschließend in die Hocke zu gehen.
„Madame?" Ich deute hinter mich. Während sie auf meinen Rücken klettert, dringt ein weiches Lachen zu mir hinüber. Ich verharre einen Augenblick. Wieso fühle ich mich gerade wie Professor Layton, der ein hyperkompliziertes Enigma gelöst hat? Verdammt fühlt es sich unglaublich an, Ellie Theresa Holmes zum Lachen gebracht zu haben!
„Fynn?"
„Hmm?" Widerwillig schiebe ich meine Gedanken beiseite.
„Warum?", wispert sie.
Ich denke nach und komme zu einer Feststellung, die ich niemals für möglich gehalten habe.
„Weil du es wert bist."
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