12. Travis 12. Ava


12. Travis

Aus den Boxen dringt „Hideaway" von Kiesza, während Fynn mit vollem Tempo sein Bugatti Veyron die Landstraße hinunter rast.

„Yeah, Baby!", schreit Ava, die auf ihrem Sitz steht, sodass die Hälfte ihres Oberkörpers durch das Glasschiebedach hindurch gestreckt ist. Vom Innenspiegel aus beobachte ich, wie Ellie vergeblich versucht, Ava herunterzuziehen. „Ava, das ist verdammt gefährlich!"

Ich werfe einen Blick zu Fynn, dessen Konzentration voll und ganz der Straße gewidmet ist. „Fahr mal bisschen langsamer. Ich habe keine Lust, Ava auf diese grausame Art und Weise sterben zu sehen."

Fynn lacht leise und mindert die Geschwindigkeit.

„Gute Songwahl übrigens", merke ich anschließend an, was dazu führt, dass wir für die nächste halbe Stunde uns über Housemusik, DJs und Sängerinnen, die wir heiß finden, unterhalten. Irgendwie erscheint es mir erstaunlich, dass Fynn und ich trotz seines eher pompösen und leichtsinnigen Charakters ziemlich gut miteinander auskommen. Im Gegensatz zu ihm besitze ich eine ausgeprägte Skrupulosität, die nicht unbedingt vielen gefällt.

Der September dieses Jahres fällt ausgesprochen sommerlich aus, weshalb wir echt Glück haben. Denn Camping im Nassen ist nicht unbedingt der Renner.

Knapp drei Stunden später parken wir in der Nähe eines Baches, weil sich daneben eine große ebene Fläche anbietet, auf der wir unsere Zelte aufbauen können.

Sobald wir uns etabliert haben, beschließen Ava und Fynn, Holz sammeln zu gehen, damit wir später Feuer machen können.

„Travis, bleib du am besten hier und wartest auf Ellie. Sie muss einen Anruf tätigen und ist deswegen Empfang suchen gegangen."

Ich nicke zustimmend. Nachdem die beiden verschwunden sind, lausche ich für einen Moment das Plätschern des Baches, dessen Ursprung eines nicht weitliegenden Wasserfalles ist, und bewundere die Landschaft. Ringsum ragen gigantische Gebirge in den Himmel, deren Spitze von Wolken bedeckt sind. Die Luftqualität ist hervorragend, da sich der Wald meilenweit erstreckt. Ich nehme mehrere tiefe Atemzüge ein. Das alles erinnert mich an die Tage bei meinen Großeltern. Plötzlich schießt mir eine Idee durch den Kopf.

Ich bewege mich zum Rand des Baches und halte Ausschau nach Fischen. Es sind verdammt viele, die außerdem essbar erscheinen. Perfekt. Mit einem Taschenmesser spitze ich mehrere Äste an. Anschließend ziehe ich meine Schuhe aus und krempele meine Hose hoch.

Das Wasser fühlt sich im ersten Moment eiskalt an, und die Steine üben einen unangenehmen Druck auf meine Füße aus. Dennoch bin ich fest entschlossen, die anderen zum Abendessen mit ein paar fettigen Fischen zu überraschen.

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Ava

Fynn und ich klettern den Berg ein wenig hoch, um dickstämmigeres Holz zu bekommen. An einzelnen Sträuchern hängen kleine, rote Früchte, die sich bei näherem Betrachten als Himbeere erweisen.

Ich liebe Wildfrüchte! Oft schmecken sie nämlich viel intensiver als die, die man im Supermarkt kauft.

„Fynn, hier sind Himbeere!", rufe ich mit überschwänglichem Enthusiasmus.

Ich pflücke eins ab und probiere. Der Geschmack ist wie erwartet – süß, sauer und richtig „himbeerhaft".

„Möchtest du eins?", frage ich ihn.

Ungeduldig verneint er. „Ava, wir sollten uns beeilen. Bald wird's dunkel und womöglich finden wir den Weg nicht mehr zurück."

Unglücklich ziehe ich eine Schnute.

Fynn gibt sich breitgeschlagen. „Na schön, pflücke du deine Himbeere und ich sammele weiter Holz. Ich hab Markierungen entlang des Weges gemacht, den wir gelaufen sind, also solltest du problemlos zurückfinden können. Hier", er reicht mir seine Taschenlampe, „falls es zu dunkel wird."

Ich gebe einen beeindruckten Pfiff von mir. „Wow. Nicht schlecht, Fynn. Hätte nicht gedacht, dass du das auch noch drauf hast."

Sanft gleiten seine Fingerknöchel über meine Wange. „Unterschätzen solltest du mich niemals, Ava", mahnt er mit einer Mischung aus Ernst und Drohung.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht zu lachen, weil es Fynn sonst ärgert. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Narzisst. Und zwar ein hoffnungsloser. Dies ist nicht unbedingt ein Attribut, das ich gern in meinem Partner sehen würde. Denn es trägt dazu bei, dass ich mich in Fynns Gegenwart extrem vorsichtig verhalten muss oder mich sogar teilweise verstellen muss. Fynn mag es nicht, wenn ich mich in der Öffentlichkeit auffällig aufführe – also „spiele" ich stets eine „kultivierte Dame". Er verabscheut jeglichen Scherz oder Streich, den ich zustande bringe – also unterlasse ich es. Manchmal fühle ich mich erschöpft von dem ganzen „Nicht-ich-sein", trotzdem akzeptiere ich die Situation. Aus Gründen, die nicht mal ich selbst kenne. Vermutlich aber spricht unsere zu starker Abhängigkeit voneinander dafür.

Ich binde meinen Schal zu einem Korb zusammen und tue die Himbeere hinein. Wenig später kehre ich zu unseren Zelten zurück, nur um einen im Wasser stehenden Travis vorzufinden. Er hält einen langen Ast in der Hand und stochert konzentriert herum. Neugierig hebe ich die Augenbrauen. Was für schräges Zeug vollbringt er gerade? Den alten Zeiten nach zu beurteilen bin ich die Vorlaute, Travis der Schräge (weil er häufig bizarre Dinge tut) und Ellie die Unnahbare (nicht im negativen Sinne, sie war einfach „prinzessinhaft").

Ich schleiche mich langsam an Travis heran, nachdem ich die Frucht vorsichtig neben dem Essen abgelegt habe, das wir mitgebracht haben.

„Booh!"

Kaum bemerklich zuckt er zusammen. „Psst. Du schreckst die Fische weg."

Damit willst du Fische fangen?", frage ich skeptisch.

Ohne mir eines Blickes zu würdigen, sticht er plötzlich blitzschnell in das Wasser.

„JA!" Stolz hält er den Stab hoch, dessen spitzes Ende durch einen silberfarbenen, zappelten Fisch gebohrt ist.

„Krass", erwidere ich voller Staunen, „wie hast du das denn hingekriegt? Ich will auch!" Im Nu entledige ich meine Schuhe und stampfe ins Wasser. Scharf sauge ich Sauerstoff ein, weil die Kombination des eiskalten Bergwassers und der unförmigen Steine all meine Sinne zum Leben erwecken. Mamas chinesische Freundin, welche eine Ärztin ist, hat mir einst erzählt, dass gemäß chinesischer Medizin der Fuß eine Verbindung zu jedem einzelnen Organ im menschlichen Körper herstellt. Darum sei es gesund, regelmäßig barfuß auf einem unebenen Untergrund zu laufen, dadurch werden die Organe aktiviert und gestärkt. Ich habe ihre Aussage nicht recht ernst genommen, aber jetzt gerade bin ich dabei, meine Meinung zu ändern.

„Los, erklär's mir", fordere ich.

Travis reicht mir einen angespitzten Ast. „Okay: Das wichtigste bei der Sache ist Geduld und Schnelligkeit, wobei Genauigkeit übrigens nicht fehlen darf. Ich kenne keine spezielle Technik, da ich das, ehrlich gesagt, selbst zum ersten Mal mache. Aber ich habe meinen Opa häufig dabei beobachtet. Zuerst musst du still halten und warten, bis sich viele Fische an einer Stelle versammelt haben. Dann entscheidest du intuitiv, ob es der rechte Zeitpunkt ist zu stechen. Wenn ja, dann handele schnell. Ich meine, wirklich schnell und mit voller Wucht."

Zehn Minuten später komme ich zu der Schlussfolgerung, dass die Fische alle feminin und heterosexuell sind, weil sie sich ausschließlich um Travis versammeln. Während ein Fisch nach dem anderen in seinem Korb landet, taucht kein einziger Fisch innerhalb meiner Reichweite auf. Frustriert nehme ich einen flachen runden Stein zur Hand und wirft diesen zu ihm.

„Was soll das, Ava?", ruft er empört. Die Verwirrung steht ihm ins Gesicht geschrieben.

„Damit die Fische auch mal zu mir kommen", brumme ich eingeschnappt.

Er lacht und schreitet zu mir. „Oh Mann. Wenn hier keine Fische sind, dann geh woanders hin. Wer hat gesagt, dass du an einer Stelle bleiben musst?"

„Danke vielmals für diese ausgesprochen späte Erinnerung", entgegne ich zuckersüß.

Er ignoriert den Sarkasmus in meiner Stimme, sondern sucht nach weiteren Flossentieren. „Dort!"

Schräg von uns hat sich eine Gruppe von über zehn mittelgroßen Fischen vereint.

„Dreh dich ganz langsam um", flüstert er. Sein warmer, nach Minze riechender Atem streift über mein Ohr. Aus unerfindlichen Gründen halte ich plötzlich die Luft an. Travis platziert seine Hand über die meine. „Auf drei", mein Griff verfestigt sich um den Ast, dessen raue Oberfläche gegen meine Handfläche leicht kitzelt, „eins, zwei, drei!" Bei drei strömt hinter mir solch immense Macht und Gewalt aus, dass ich selbst zwischen zwei kräftigen Armen zusammengepresst werde.

Dann höre ich das vertraute Platschen aquatischer Organismen, denen das Leben gerade geraubt wurde. Ich stoße einen Jubelschrei aus und falle Travis um den Hals. „O mein Gott, ich hab's geschafft! Ich hab sogar zwei auf einmal gefangen!"

„Spitzenleistung", kommentiert er trocken.

Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu. Da er mir netterweise geholfen hat, werde ich nicht mit ihm diskutieren. Ich schnappe mir den Ast von ihm und steige aus dem Bach. Sorgfältig deponiere ich die Fische in den Eimer, bevor ich mir die Füße trockene.

„Sag mal, ist Ellie noch nicht zurück?", fällt mir plötzlich ein.

„Meines Wissens nach nein", ruft Travis aus der Entfernung, der gerade versucht, aus Gehölzen einen Gestell zu bauen, der als Herd dienen soll. O Mann, Männer und ihre handwerkliche Geschicklichkeit, die ihnen in die Wiege gelegt worden ist ...

„Also langsam mache ich mir Sorgen", murmele ich, während ich Töpfe und Besteck heraushole. Geistesabwesend verteile ich das Besteck auf dem Klapptisch und arrangiere die Klapphocker.

„Travis, was ist, wenn sie sich verlaufen hat? Oder von einem wilden Tier angegriffen worden ist? Oder in eine dunkle, verpestete Höhle ausgerutscht ist?" Mir schießen plötzlich alle möglichen Schreckensszenarien in den Kopf.

„Das wird nicht passieren. Siehst du nicht den ganzen Müll am Rande und die abgetretenen Wege? Dieser Campingplatz wird äußerst häufig besucht. Falls es also wilde Tiere gäbe, würden diese eher Angst haben und sich verstecken", beruhigt er mich.

„Du hast gut reden-"

„Erinnerst du dich nicht, dass Ellie in der Grundschule in der Geocaching-AG war?", unterbricht er mich, „ich würde mir daher keinen Kopf machen. Bei Notfällen wird sie definitiv situativ handeln."

„Ist ja gut. Ich halte meine Klappe. Kann ich dir wenigstens bei irgendetwas helfen?", wechsele ich entnervt das Thema, obwohl ich das Gefühl des Unbehagens nicht loswerde. Dennoch muss ich aufhören, Ellie wie meine kleine Schwester zu behandeln. Sie ist unerfahren. In der Tat. Manchmal jedoch unterschätze ich ihre Fähigkeiten. Beziehungsweise ich überschätze mich selbst, was mein Wissen über sie angeht. In Augen anderer repräsentiert vermutlich sie eine viel stärkere und unabhängigere Persönlichkeit als ich.

„Hast du zufällig bisschen Holz mitgebracht? Wir können schon mal anfangen, Feuer zu zünden, um die Fische anzubraten. Das dauert nämlich ein wenig. Und ich sterbe vor Hunger", beklagt Travis sich.

„Warte kurz." Rasch eile ich zu den Zelten. „Holz habe ich nicht. Die Verantwortung habe ich Fynn überlassen. Dafür habe ich unterwegs diese herrlichen Dinge entdeckt."

Ich breite mein Tuch auf der Wiese aus.

„Wilde Himbeere?", fragt er, während er sich gleichzeitig ein paar in den Mund steckt.

Gespannt verfolge ich die Bewegung seines Adamsapfels. „Und? Sie schmecken absolut bombastisch, oder?"

Anstatt mir zu antworten, greift er weiter zu. Und weiter. Und weiter.

„Stopp." Ich halte ihm an seiner Handgelenke fest und packe die restlichen ein Drittel weg. Unglücklich verzieht er das Gesicht.

„Ellie hatte noch keins."

„Dann hole mehr."

„Nö."

Wie zwei Verfeindeten verharren wir in der Position für gefühlte Jahrzehnte. Keiner bereit nachzugeben.

„Okay", auf einmal zuckt er gleichgültig die Achseln, „lässt du mich los?"

Vor Misstrauen ziehen sich meine Augenbrauen zusammen.

„Ava, ich muss die Fische vorbereiten", sagt er ungeduldig.

In der Sekunde, in der sich mein Griff um seine Handgelenke lockert, schnellt seine Hand nach Süden.

„TRAVIS!"

Reflexartig presse ich die Beeren an meiner Brust und drehe mich zusammengekrümmt um 180°. Seine Arme umschlingen mich von hinten. Er versucht mit aller Kraft, das Behütete aus meiner Umschließung zu entreißen.

„Nein! Hör auf, du zermatschst sie noch!", quieke ich. Irgendwie schaffe ich es, mich zu befreien. Ich springe auf und renne weg, nur um nach wenigen Schritten von Travis umgerempelt zu werden. Wir landen nacheinander auf dem Boden. Er auf mich. Ich unter ihm. Zuerst prallt sein steinharter Körper gegen meinen, daraufhin seine Lippen, die mein schmerzerfülltes Stöhnen hinunterschluckt. Jeder einzelne Muskel unter meiner Haut erstarrt. Meine Augen weiten sich vor Schreck. Sie starren in das tiefe, weniger als fünf Zentimeter entfernte Blau des anderen, dessen Intensität mir kalte Schauer über den Rücken jagen.

O mein Gott, warum beschleunigt sich mein Herzschlag auf einmal um das Doppelte? Warum fühlt sich der Kuss so ... richtig an?

Vielleicht ist es wegen der unzerbrechlichen Bindung, die ich zu den beiden anderen Beteiligten habe. Jedenfalls nehme ich ihre Präsenz plötzlich mehr als bewusst wahr.

Und es dauert keine Sekunde bis Fynns scharfe Stimme ertönt: „WAS. ZUR. HÖLLE?!"


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