Kapitel 2
Klack, klack, klack.
Auf jedem Parkett seines Lebens.
Tick, tick, tick.
Die Standuhr zuhause.
Bumm, bumm, bumm.
Ein wummerndes Herz.
Der Schrecken ist mir gefolgt.
Und gibt den Takt vor.
Wo ist er?
Er strauchelt durch die Dunkelheit, dem Echo der Erinnerungen entgegen. Die Geräusche vereinen sich zu einer Art Symphonie und er fragt sich, ob das die Melodie seiner Seele, seines Lebens ist.
Eine ferne Stimme. Sie flüstert.
Schone deine Hände.
Knackende Finger gesellen sich zum Lied. Das Wispern nähert sich, geistert wie ein kühler Hauch um ihn herum.
Was wärst du ohne sie?
Die Antwort ist verloren in der Wirklichkeit. Er schweigt, bis das Summen aus dem Hintergrund tritt und zu einem Grollen anschwillt. Es ist, als schrumpfe er in sich zusammen, zu einem kleinen Jungen – bis seine Gedanken rasen und sich ihre losen Enden zu einem zusammenfügen. Dem einzig möglichen.
Ich bin.
Er sagt es wieder und wieder, bis zahlreiche Risse die Dunkelheit zum Einsturz bringen.
Ich bin. Ich bin. Ich bin.
Bis die Symphonie so laut ist, dass er sie anbrüllt.
Ich bin!
Und fürchtet, sein Kopf zerplatze vom Höllenlärm.
ICH BI-
Michael reißt die Augen auf. Der dröhnende Schmerz des Traumes verfolgt ihn in den Wachzustand. Er schließt sie wieder und reibt sich die feuchte Stirn. Atmet.
Wann ist er ins Bett gegangen?
Er zuckt zusammen, als sein Smartphone auf dem Nachtkästchen vibriert. Ein Blick auf den Bildschirm verrät, dass er mal wieder den Vormittag verschlafen hat sowie zahlreiche Nachrichten. Gray.
Also nicht wichtig. Michael ignoriert sie.
Eine halbe Stunde später schält er sich aus der Decke und steht auf. Von seinem Schweißgeruch hat er genug, zudem sollte die heiße Dusche seine Sinne schärfen und den Kreisel im Kopf bremsen.
Der Schreck im Flur weckt ihn jedoch endgültig auf. Er rutscht auf einem der Prospekte aus und brettert rücklings zu Boden. Verdammte scheiße. Wieso hat er die überhaupt mitgenommen?
Jetzt, wo er unten ist, sammelt er das Papierchaos auf, quält sich ächzend in die Küche und schmeißt alles in den Mülleimer. Dort erwartet ihn prompt die nächste Überraschung: das Waschbecken. Michaels Augen verengen sich, er grübelt angestrengt.
Ein Bouquet. Hat er das dort hineingeworfen? Gestern Abend muss das gewesen sein.
Natürlich, das Konzert.
Michael fischt die Blumen aus dem Waschbecken und entsorgt sie ebenfalls. Das war das erste und hoffentlich letzte schwarzweiße Arrangement. Was für ein geschmackloser Scherz.
Was hat er sich vergangene Nacht überhaupt gedacht?
Der Mittag ist zu kurz und die Nacht zu weit weg, um weiter darüber nachzudenken.
Wenig später steht Michael im Badezimmer und lässt sich vom Dampf des heißen Wassers einhüllen. Erst beim Heraustreten aus der Dusche bemerkt er den Ton, der sich durch die geschlossene Tür an sein Ohr kämpft.
Das mittlere C.
Michael versteinert, lauscht. Wie gelähmt trocknet er sich ab, streift Sweatshirt und Jogginghose über und steckt den Kopf durch den Spalt in der Tür. Der Ton hallt nach, wird leiser und stirbt langsam.
Allmählich lösen sich Michaels starre Muskeln, doch sein Verstand liegt blank. Was ist zu tun, wenn ein Instrument sich selbstständig macht? Es spielen lassen? Er würde gerne über diese absurde Vorstellung lachen, passiere es nicht in seinen eigenen vier Wänden.
Drehe ich jetzt völlig durch?
Auf weichen Knien schleicht er durch den Flur. Im Türrahmen kommt er zum stehen und observiert das Wohnzimmer, sein Klavier. Dort sitzt niemand, selbstverständlich nicht. Nichts rührt sich.
Mit Argusaugen durchquert Michael den Raum, betrachtet jede Ecke, obwohl es nur die Wände darin gibt. Offenkundig ist alles in Ordnung, seine Gänsehaut jedoch warnt ihn davor, sich in Sicherheit zu wähnen. Die Luft scheint wie elektrisiert und lädt jedes seiner Haare auf.
Schritt für Schritt kommt er dem Klavier näher und nimmt wie in Zeitlupe auf dem Hocker Platz. Ratlos sieht er sich um, späht aus dem Fenster. Vom Tor ist nichts zu sehen, also versteckt es sich hinter der Wolkendecke oder ist verschwunden.
Michael schüttelt den Kopf. Vielleicht hat Gray recht mit dieser Schlafmangel-Sache und er bildet sich das alles nur ein. Er hofft inständig, dass es stimmt, denn was auch immer hier vor sich geht: Es muss aufhören. Er darf, kann sein neues Zuhause nicht verlieren, denn das alte hat er nach all der Zeit endlich hinter sich gelassen.
Weitermachen. Einfach weitermachen.
Also macht er genau das: die Hände und Finger dehnen, der Beständigkeit seines Tuns Raum geben und sich der Anspannung zur Wehr setzen. Er steckt die Kopfhörer ins Klavier und ignoriert die Frage in seinem Kopf, ob sie überhaupt ausgesteckt waren.
Michael versinkt in Maurice Ravels Gaspard de la nuit, das am heutigen Abend alle hören werden. Die Notenblätter beachtet er nicht. Sie sind die letzte Sicherheit, die er zum Vorspiel nicht mehr braucht. Unzählige Male hat er dieses Stück geübt.
Wie in der Nacht driftet Michael ab. Seine Konzentration geht auf dem Weg zur Perfektion verloren und widmet sich der Freiheit, die diese 49 Tasten ihm schenken. Aus 20 Minuten wird eine Stunde, in der alles, was ihn umgibt, ineinander zerfließt.
Bis eine Taste anschlägt, die Michael nicht gedrückt hat. Der Ton klingt schief und deplatziert in seinem Spiel, und so laut, dass er alle anderen übertönt. Abrupt bricht er ab und blinzelt ans rechte Ende seines Instruments.
Wieder das C - diesmal das auf der rechten Seite und damit eine der letzten Tasten. Jemand drückt sie nach unten.
Michael springt mit rasendem Puls auf und reißt sich die Ohrhörer vom Kopf.
„Scheiße..."
Er tritt zurück, ohne sie aus den Augen zu lassen.
„Zeig dich!"
Wenn ich schon verrückt werde, kann ich auch das Nichts anschreien.
Nach wie vor kann er keine Reaktion erkennen.
So beängstigend das auch ist: Allmählich verliert Michael die Geduld. Vollkommen egal, wer ihn verarschen will, er spielt da nicht mit.
Er nähert sich wieder, ohne seine Hände vom Zittern abhalten zu können. Dann hebt er den Zeigefinger unter den hervorstehenden Teil der Taste und drückt sie so nach oben. Vergebens. Der unsichtbare Widerstand bleibt.
Dann eben anders.
Sollte sein Gast Berührungen scheuen, wird ihn das verjagen oder sein Verstand erkennt das alles endlich als Hirngespinst an. So oder so: Michael hebt selbige Hand an und lässt sie über dem Klavier niederfahren. Bei dem harten Widerstand zuckt er zusammen, lässt sich davon aber nicht abhalten und übt mehr Druck aus. Daraufhin breitet sich ein Kribbeln aus, als schlafen seine Muskeln innerhalb von Sekunden ein. Ein schmerzhaftes Stechen begleitet die Taubheit, fährt bis hinauf in seine Schulter. Er verliert jegliche Kraft. Eiskalte Blutergüsse verbreiten sich und wandern wie Frostmuster über seinen ganzen Körper.
Erst als Michael die Luft ausgeht, realisiert er seine Atemlosigkeit. Ruckartig entzieht er sich dem Widerstand und beobachtet, wie sich die unnatürlich blaue Färbung von seinem Arm zurückzieht. Das Prickeln lässt nach, die Kontrolle kehrt zurück.
Was passiert hier?
Michael massiert seine Hand, den Arm. Er verliert lieber sein Augenlicht als auch nur einen Finger.
Und ich lasse mich bestimmt nicht bestehlen.
Im Rausch des Adrenalins poltert er in den Flur, schnappt sich einen Regenschirm und baut sich mit diesem vor dem Klavier auf. Wie um einen Schwertgriff umklammern seine Hände das Holz am unteren Ende. Er hebt die Arme bis über den Kopf, sammelt alle Kraft und schlägt zu.
Um wenige Millimeter verfehlt er die schwarze, glänzende Fläche. Sein Schirm schrammt an der Klaviatur vorbei und landet mit einem dumpfen Knall auf dem Laminat. Doch das ist nicht genug. Der zweite Schlag hinterlässt dort noch eine Macke, der dritte und viele weitere treffen den Hocker.
Michael atmet schwer. Er richtet sich auf und streicht ein paar Locken aus der Stirn.
Der Eindringling ist längst verschwunden.
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