Kapitel 15.2
Aus diesem Grund kehrt ihre Wut mit aller Intensität zurück, als der Moment gekommen ist. Sie hört den Schlüssel im Schloss, wie die Tür zufällt und Amaury die Schuhe auszieht. Violet denkt darüber nach, ihren Tränen freien Lauf zu lassen, überlegt es sich aber anders.
Nicht, wenn ich etwas zu sagen habe.
Also hält sie ihm ohne Umschweife den Stapel Briefumschläge vor die Nase, ehe Amaury ins Schlafzimmer verschwindet, um nach Michael zu sehen. Als er realisiert, was das bedeutet, entgleisen seine Gesichtszüge. Innerhalb von Sekunden scheint er eine Reihe an Emotionen zu durchlaufen, und Violet versucht erst gar nicht, sie zu verstehen. Sie will Antworten.
„Hast du mir etwas zu sagen?"
Statt es wie ein Feigling in deine Briefchen zu schreiben?
Amaury schließt für einen Augenblick die Augen und sammelt sich, wendet den Blick zu Boden, als finde er dort die richtigen Antworten. Schließlich fragt er: „Warum hast du sie gelesen?"
Violet übergibt ihm die Umschläge, er nimmt sie widerstrebend entgegen. „Du hast einen auf dem Tisch gelassen."
„Hab ich nicht."
„Er lag in dem Notenheft."
„Wieso hast du da überhaupt reingesehen?"
Violet verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich konnte ja nicht wissen, dass Schulhefte neuerdings ein Ort für Geheimnisse ist."
Amaury verzieht grimmig den Mund, in seinen Augen schimmert noch etwas anderes, das sie nicht deuten kann. Gerade spielt es auch keine Rolle.
„Das gibt dir nicht das Recht dazu."
Violets Stimme ist lauter, als sie beabsichtigt. „Hasst du es hier so sehr?"
Hasst du mich? Unser Leben?
Und er gleicht sich ihr an, aus der Verzweiflung heraus, nicht gehört zu werden. „Nein, ich-"
Ich manchmal schon.
„Dann verschwinde!"
„Violet!"
Gestern erst hat sie es geliebt, wie er ihren Namen ausspricht. Jetzt verabscheut sie es. Violet verbirgt ihre Enttäuschung und den Schmerz auf ihrem Gesicht hinter vorgehaltenen Händen. Amaury seufzt in der schwerwiegenden Stille, ob wegen ihr oder sich selbst, kann sie nur vermuten.
Michael macht sich durch ein Wimmern bemerkbar. Dankbar um die Möglichkeit, sich zu distanzieren, eilt Violet ins Schlafzimmer und hievt ihn aus der Wiege. Nach einer Weile hört sie Amaurys Schritte. Über ihre Schulter nähert sich seine Hand, die den fein behaarten, empfindlichen Kopf des Kindes streicht.
„Lass es mich erklären. Bitte."
Amaurys Hand wandert auf ihre Schulter, übt sanften, aber bestimmten Druck aus. Darauf wendet sie sich ihm zu und erwidert seinen flehenden Blick mit kalkulierendem Schweigen. Schließlich sammelt sie sich mit einem tiefen Atemzug und übergibt ihm Michael ohne ein Wort. Sie beobachtet die beiden, Amaurys Zärtlichkeit und Liebe, von der sie zu genüge in seinen Briefen lesen konnte.
„Ich versteh's einfach nicht", flüstert sie und kämpft gegen den Kloß in ihrem Hals an, der das Sprechen erschwert.
„Jetzt, wo wir uns endlich hier eingelebt haben ... Ich verstehe ja, dass dir die Arbeit keinen Spaß macht, aber ..."
Violet beißt sich bei dem Klang ihrer erstickten Stimme auf die Unterlippe. So hat sie sich das nicht vorgestellt.
„Ich mag die Schule, sie bringt gutes Geld."
Amaury streicht seinem Sohn beruhigend über den Rücken und folgt ihr ins Wohnzimmer. Dort setzen sie sich auf die Couch. Violet zieht die Beine zu sich nach oben und stützt das Kinn auf den Knien ab.
„Aber es macht dich nicht glücklich."
„Das ist ..." Er ringt mit den Worten. „Es ist einfach nicht das, was ich mir von dem Stipendium erhofft habe."
„Da bist du nicht der einzige", antwortet Violet und will gar nicht weiter darüber nachdenken, auf was sie das alles beziehen könnte.
Ich bin ein schlechter Mensch.
„Du musst eines verstehen", beginnt Amaury und sieht ihr dabei über Michaels Kopf hinweg fest in die Augen.
„Ja, nichts läuft wie geplant. Für uns beide. Weder für dich, noch für mich ist das alles leicht, das weiß ich. Aber trotzdem kann ich Elaine deswegen nicht einfach vergessen. Erwartest du das von mir?"
Violet schüttelt betreten den Kopf, darauf fährt er fort.
„Genau. Du weißt, wie viel sie mir bedeutet und dass Briefe kein guter Ersatz für ein Treffen sind. Wer weiß, wie lange sie noch lebt, und selbst jetzt hat sie großes Glück, noch hier zu sein. Ich vermisse sie. So Sehr. Denn je länger ich hierbleibe, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich sie erst wiedersehe, wenn sie ..." Er atmet zitternd die Luft ein. „Elaine versteht das nicht. Sie will, dass ich mein Leben um jeden Preis weiterlebe, als gäbe es ihre Krankheit nicht. Als ich ihr dann von deiner Schwangerschaft geschrieben habe, wollte sie umso weniger, dass ich sie besuche."
„Warum sprichst du dich nicht mit ihr aus? Vielleicht würde sie es verstehen."
Amaury schnaubt frustriert. „Dafür ist sie viel zu stur. Sie versteht einfach nicht, dass ich dort am meisten zuhause bin und nichts etwas daran ändern kann. Ihr von meinem Unglück zu erzählen, bringe ich nicht übers Herz. Elaine freut sich so für mich, für uns, und ich will sie nicht damit belasten. Aber es musste raus, also habe ich es mir von der Seele geschrieben. Aber das ändert nichts daran, dass ich dich liebe, unseren Sohn, uns als Familie – ihr bedeutet mir alles."
Violets Lippen beben. Sie versteckt es, indem sie diese an ihre Knie presst. „Wieso hast du mir nichts gesagt?"
Darauf zieht er eine traurige Grimasse. „Ich weiß doch, dass das alles auch für dich nicht einfach ist."
Sie reibt sich mit dem Handrücken über den Tränenschleier in ihren Augen.
Ich schaffe das.
Amaury mustert sie eingehend und voller Mitgefühl. Aus irgendeinem Grund macht sie gerade das fuchsteufelswild.
Bleib stark.
„Ich verstehe deine Sorge um Elaine. Ich verlange nicht, dass du sie vergisst, aber wenn das funktionieren soll, muss ich sicher sein, dass auch du das schaffst. Dass wir das gemeinsam durchziehen." Violet legt ihre Hand auf seine. „Und wenn wir es geschickt anstellen, haben wir sicher bald genug Geld für einen Flug nach Frankreich zusammen. Es wird Geduld brauchen aber wir schaffen das."
Seine Miene hellt sich deutlich auf. Violet betrachtet das mit gemischten Gefühlen und versucht es mit einem aufmunternden Lächeln, um sich nichts anmerken zu lassen.
„Hey", sagt er, plötzlich Feuer und Flamme. „Ihr solltet mitkommen! Dann kannst du sie endlich alle kennenlernen, das wird toll. Und Elaine endlich dich und Michael. Du wirst sie mögen."
Violet nickt zögerlich. „Ja. Lass uns das machen."
Amaury rückt mit Michael im Arm ein Stück näher zu ihr heran, worauf sie sich an seine Schultern lehnt und er sanft ihren Scheitel küsst. Bei seiner Wärme entspannt sie sich merklich.
„Das wird großartig", murmelt er in ihr Haar.
Seine Vorfreude könnte ansteckend sein, wäre sie nicht mit ihren Bedenken beschäftigt – mal abgesehen von der Frage, ob sie den weiten Weg auf sich nehmen will, um seine Familie kennenzulernen. Für Michael wäre es gewiss schön, nicht wahr?
Würde Amaury überhaupt zurückkommen, wenn ich nicht mitgehe und ihn zurück nach Hause zerre?
Scham erhitzt ihre Wangen. Er würde die beiden nie im Stich lassen. Amaury liebt seinen Sohn. Er steht an erster Stelle, für sie beide. Und er soll nicht ohne Vater aufwachsen müssen.
„Sieh dir das an." Er zieht ein Stück Papier aus der Hosentasche und reicht es ihr. Sie überfliegt die Auflistung an Daten, Quadratmetern, Lage, Zimmer und mustert zuletzt das Foto. Dann sieht sie auf zu dem grinsenden Gesicht ihres Gefährten.
„Die Anzeige ist noch ganz neu. Und da wir von den anderen Anbietern bisher nichts gehört haben ... Sollen wir es versuchen? Nur, wenn es dir auch gefällt. Ich kann es mir schon ganz genau vorstellen – wir feiern dort Geburtstage oder Weihnachten."
Bevor er sich in allen Einzelheiten seiner Träume und Wünsche verliert, unterbricht Violet ihn. „Vielleicht sollten wir das mit dem Haus lieber lassen. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie viel unser Vorhaben kosten wird. Wie sollen wir da eine Reise nach Frankreich finanzieren?"
„Aber es wird eine ganze Weile dauern, bis wir ein Haus bekommen und es eingerichtet haben."
„Es eilt doch nicht."
Er zögert kurz. „Fändest du es nicht auch schön, wenn Michael mit einem idyllischen Haus aufwächst, in dem er die Ferien verbringen kann?"
Violet legt die Stirn in Falten. „Ja, aber ..."
„Wir schaffen das."
Ihr Blick kreuz seinen, und er ist so voller Zuversicht, dass sie zustimmt. Und während er ihr von traumhaften Sommern und gemütlichen Winterabenden erzählt, rechnet sie, wie lange sie für all das ackern müssen. Der Traum scheint so weit weg, dass sie erst gar nicht den Mut findet, daran zu glauben.
„Wir schaffen das", wiederholt sie, mehr um sich selbst zu überzeugen. Amaury stimmt voller Vorfreude mit ein.
Wir schaffen das.
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