Kapitel 15.1
Endlich hat es aufgehört zu weinen. Ihr bricht davon jeden Tag mindestens einmal das Herz.
Violet lässt sich aufs Bett sinken. Unmittelbar fallen ihr die Augen zu, Körper und Geist finden zur langersehnten Ruhe. Der Morgen hat viel zu früh begonnen, nachdem die Nacht zu lang war.
Nur eine Minute.
Violet blendet alles aus, findet ihren inneren Ruhepol, den sie vor einigen Monaten gar nicht hätte suchen müssen. Nach einem kurzen Schlummer wagt sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. In einer halben Stunde kommt die erste Schülerin des Tages. Sie sollte sich zurechtmachen, frühstücken, vielleicht aufräumen.
Bevor der Schlaf sie endgültig einholt, zwingt Violet sich, aufzustehen. Nach einem letzten Blick auf Michael, der seelenruhig in seiner Wiege schläft, schleppt sie sich in die Küche und brüht Kaffee. Das gluckernde Geräusch ist genauso hypnotisierend wie das Ticken der Wanduhr. Auf dem bescheidenen, mit Lavendel dekorierten Küchentisch liegen ihre Notenhefte und Notizen. Und eines von Amaury, wie sie erstaunt feststellt. Er muss vergessen haben.
Ein Wunder, dass er seinen Kopf nicht auch noch vergisst.
Das braucht er für den Unterricht, vielleicht sogar mehrere Schulklassen. Violet wiegt abschätzig den Kopf hin und her.
Er wird es auch so wissen. Oder improvisieren. Die meisten Schüler interessieren sich sowieso einen feuchten Dreck für Musik.
Violet nimmt ihre gefüllte Tasse Kaffee, setzt sich an den Tisch und blättert durch Amaurys Heft. Auf der Innenseite fällt ihr ein Umschlag ins Auge. Er ist weder beschriftet noch verschlossen. Ihre Fingerspitzen kribbeln, sie beißt sich auf die Zunge. Als könnte sie jemand erwischen, wandern ihre Augen nach links und rechts.
Es steckt in einem Schulheft, was soll da schon Spannendes drinstehen?
Und sie haben sowieso keine Geheimnisse voreinander.
Ohne weiter nachzudenken, zieht sie das Schriftstück heraus und entfaltet es, ihre Augen fliegen über die handgeschriebenen Worte ihres Partners. Nach den ersten Zeilen verknotet sich ihr Magen, die heranwachsende Unruhe durchquert siedend heiß ihren Körper.
Das Briefpapier zerknittert in Violets Faust, ihre Fingernägel graben eine tiefe Furche hinein.
Die Arbeit ist ätzend.
Ihre innere Stimme ließt seine von Hand geschriebenen Sätze vor.
Ich vermisse dich.
Bis ihre Vorstellungskraft zeigt, wie Amaury es ausdrücken würde. Und seine Stimme trieft vor Abscheu gegenüber allem, was sie aufgebaut haben.
Ich hasse es hier.
Violets Hände zittern, ihr ist speiübel. Der bittere Geruch des Filterkaffees, der ihr in die Nase steigt, macht es nur schlimmer.
Wie betäubt schleicht sie durch die Wohnung, um ihren Sohn nicht zu wecken, und sucht in allen Ecken nach weiteren Briefen, bis sie im Schlafzimmer fündig wird. Versteckt unter seiner Kleidung in der Kommode liegen mehr. Auch hier bilden die unverschlossenen Umschläge kein Hindernis. Sie schreien förmlich danach, gelesen zu werden. Violet beißt die Zähne zusammen. Entweder hat er unglaubliches Vertrauen in sie oder er hält sie für unglaublich blind.
Sie packt den Stapel und begutachtet ihn. Amaury hat wohl nie vorgehabt, sie abzuschicken.
Warum sollte er das tun?
An den Daten, die er sorgfältig am oberen Rand vermerkt hat, erkennt sie, dass alle innerhalb der letzten Monate verfasst wurden. Während ihrer Schwangerschaft. Während sie sich hier, in dieser kleinen Wohnung und in diesem Kaff, eine Existenz aufgebaut haben.
Was für Ausreden Amaury auch hat, Violet sind sie egal. Geschrieben hat er sie trotzdem, sie existieren, ob verschickt oder nicht.
Ihre Schultern beben. Der Duft von Lavendel zieht in ihre Nase – wie auf dem Küchentisch steht hier eine Vase mit einigen der violetten Blüten darin, direkt vor ihr auf der Kommode. Schon damals in seiner eigenen Wohnung hat Amaury damit dekoriert.
Ich hasse sie.
Ihren Geruch, ihre Farbe, alles daran. Sie erinnern Violet an das Foto, das Amaury ihr bei einem ihrer ersten Treffen gezeigt hat. Frankreich, seine Familie – wie schön es dort ist.
Aber du hast hier und jetzt eine Familie.
Sie lässt alle Briefe auf den Boden fallen und packt die Vase, stampft zum anschließenden Badezimmer und schmettert das Gewächs ins Waschbecken. Das Klirren des Porzellans hallt durch die Wohnung. Und ehe Violet realisiert, was sie getan hat, schreckt das Baby aus dem Schlaf und schreit.
Die Mutter hastet zu ihrem Kind, nimmt es in den Arm und wiegt es sanft hin und her. Drückt es an sich, damit es ihre Wärme spürt.
„Es tut mir so leid", flüstert sie mit erstickter Stimme. „Es tut mir so leid, Michael. Du kannst nichts dafür."
Kann ich überhaupt etwas richtig machen?
Früher hat sie sich die Frage nie gestellt, mittlerweile denkt sie an nichts anderes mehr.
Beim Summen des Schlaflieds entfährt ihr ein Schluchzen. Als Michaels Atemzüge zu einem regelmäßigen Rhythmus finden und er die Augen schließt, beruhigt auch Violet sich und dankt ihm stumm.
Später überfliegt sie weitere Texte Amaurys, weil die Ungewissheit noch unerträglicher ist als seine Abwesenheit. Die fehlende Möglichkeit, ihn mit ihrem Wissen zu konfrontieren.
Ich fürchte mich, Elaine. Wie soll ich ihm ein guter Vater sein? Wie kann ich ihm, wie kann ich Violet gerecht werden? Ich wünschte, du könntest ihn sehen. Er ist unglaublich. Wie ein kleiner Sonnenschein. Und er sieht aus wie ich, bloß mit den dunkelbraunen Augen seiner Mutter. Ich hoffe, dass ihr euch eines Tages kennenlernen werdet.
Violet betrachtet ihren Sohn.
Nicht nur mich hast du verzaubert, was?
Die Wut brodelt weiterhin in ihr, doch ein paar tiefe Atemzüge helfen, dass sie nicht überkocht. Und, das muss sie sich eingestehen: Amaurys Worte ebenso. Er liebt Michael über alles. Das gibt ihr den Mut, weiterzumachen. Und Hoffnung, dass noch nichts verloren ist.
Einen Augenblick länger verweilt Violet auf dem Boden, dann gibt sie sich einen Ruck und räumt auf, zieht sich um und bereitet alles für ihre erste Schülerin des Tages vor. Und den Abend, wenn Amaury nach Hause kommt. Legt sich Worte zurecht, die sie ihm sagen möchte. Denn trotz der schönen Dinge in seinen Briefen gibt es jene, die sich schmerzhaft in ihr Herz gebohrt haben. Und sie ist sich ziemlich sicher, dass nichts Derartiges ungeschehen machen kann.
Wie könnte ich das je vergessen?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top