Kapitel 10

Mitternacht zieht vorüber. Die Klavierstunden sind beendet, so liegt der aufstrebende Pianist in seinem Bett und schläft.

Michael beobachtet seinen Vater, wie er sich Mantel und Handschuhe überzieht und folgt ihm nach draußen. Auf der Terrasse schlägt dieser sich beinahe den Kopf an, schafft es jedoch ohne schmerzhafte Beule auf einen der Gartenstühle. Wes trabt stumm hinterher und lehnt sich neben ihnen an die Holzfassade der Hütte.

Die frische Luft durchlüftet seinen Kopf, Michael genießt jeden Atemzug. Als der Mann Zigaretten und Feuerzeug aus der Jackentasche zieht, schmunzelt er.

„Wenn alles anders wäre, könnte ich jetzt eine von dir schnorren. Nach dem ganzen Mist kann ich sie vertragen."

Bei der Bemerkung hört er Wes hinter sich lachen.

Sein Vater antwortet natürlich nicht, sondern starrt auf Wiese und Wald hinaus. Gesicht und Hände werden vom rötlichen Schein der Zigarette skizziert, sodass jede Regung darin zu erkennen ist. Wie er langsam und bedächtig den Qualm ausatmet und dieser in der nachtschwarzen Ferne verschwindet.

Wie er wohl heißt?

Michaels Liste an Fragen wird stetig länger.

Wann hat er Geburtstag? Welchen Kuchen würde er sich wünschen? Was ist sein Lieblingsessen? Hat er Hobbys? Was arbeitet er und macht es ihm Spaß?

Eine halbe Stunde und mehrere Zigaretten später trabt Wes auf der Terrasse hin und her. „Wie lange wollt ihr hier noch sitzen?"

Vielleicht, bis der Morgen graut?

„Ist dir langweilig?", fragt Michael.

Er lässt zischend die Luft zwischen seinen Zähnen entweichen, als sei er über jegliches menschliche Gefühl erhaben. „Ich wundere mich nur. Du hast ihn gesehen. Sehr lange. Was nun?"

Tja, was nun?

Ihm gefällt die Vorstellung, denn die Kälte der frostigen Nacht erreicht ihn nicht und er hat einige Jahre aufzuholen, in denen er seinen Vater nicht gesehen hat.

Aber er hat nicht unrecht, denkt Michael und kaut auf seiner Unterlippe herum.

So schön es ist, ihn zu betrachten – das wird ihm bei seiner Suche nicht helfen. Und einmal damit angefangen ist es schwer, aufzuhören.

Gerade reißt Michael sich von seinem Anblick los, da greift er in seine Hosentasche und pflückt einen Gegenstand heraus. Er tritt an seine Seite und betrachtet ihn. An den rissigen Kanten und Falten ist zu erkennen, dass er das Foto schon eine Weile mit sich herumträgt. Die Farben sind ausgeblichen und unter dem dämmrigen Licht braucht es Konzentration, um das Motiv ausmachen: Eine Frau in marineblauem Kleid und weißem Blumenmuster. Sie grinst breit und mit gekräuselter Nase in die Kamera.

Michael fällt es schwer, seinen Eindruck an etwas Konkretem festzumachen. Doch er ist sicher, dass die Person hinter dem Apparat das richtige Auge besaß, um im passenden Moment abzudrücken. Um einen Menschen in seiner Natur einzufangen, in diesem Fall der puren Freude.

Sein Vater senkt den Blick, die zusammengezogenen Brauen bilden Falten auf seiner Stirn. Als starre er nicht auf die Frau, sondern eine unsichtbare Geschichte dahinter.

Michael prägt sich jede Einzelheit ein und bemerkt nicht, dass Wes an ihn herantritt.

„Ist das deine Mutter?"

Er schüttelt den Kopf.

Und sie hat sie nie erwähnt.

Sie könnten nicht unterschiedlicher sein. Michael scheitert daran, sich seine Mutter mit diesem Ausdruck auf dem Gesicht vorzustellen. Auch das Kleid passt nicht zu ihr, sie hätte ein schwarzes, elegantes bevorzugt.

„Wer ist sie dann?"

„Ich weiß es nicht", gibt er zu.

Einige Theorien fluten sein Hirn, allen voran jene, dass sie etwas mit dem Verschwinden seines Vaters zutun hat. Letztlich ist nur eines sicher: Wenn er ein Foto von ihr mit sich herumträgt, muss sie ihm wichtig sein.

„Das ist interessant", kommentiert Wes.

Sein Vater seufzt und steckt die Fotografie wieder ein. Als er Zigarettenpackung und Feuerzeug in die Manteltasche schiebt und aufsteht, zuckt er zurück und bereitet ihm den Weg. Im Haus angekommen beobachtet Michael, wie er einen letzten Blick ins Zimmer des Jungen wirft. Dann legt er seine Winterkleidung in der Garderobe ab und verschwindet in seinem eigenen.

Sein ungesehener Sohn verharrt mitten im Flur und wartet. Worauf weiß er nicht. Da ist diese Leere in ihm, die darauf wartet, gefüllt zu werden. Endlich haben sie sich gefunden, und so einfach entfernen sie sich wieder, zwischen ihnen eine Tür, die unpassierbar scheint.

Michael will sich umdrehen und zu Wes zurückkehren, als ein Knarzen die Stille bricht. Er späht in die Dunkelheit. Im bescheidenen Mondlicht deutet sich die schwingende Tür des Kinderzimmers an. Er spitzt die Ohren, doch von hier an regt sich nichts mehr.

Was in der alten Hütte nicht hieb- und nagelfest ist, bewegt sich im sanften Zug der Winterluft. Und die Tür des Jungen ist angelehnt.

Dann war es wohl das.

Michael dreht sich zu seinem Begleiter um, der gerade den Raum betritt. „Lass uns gehen."

Er eilt schnurstracks an ihm vorbei, muss raus, weg von dem plötzlich einengenden Wohnzimmer. Mitten auf der Wiese bleibt er stehen, spürt Wes' Anwesenheit hinter sich.

„Da gibt es so vieles, das ich nicht weiß", flüstert er. „Ich kenne nicht mal seinen Namen. Ist das nicht lächerlich?"

„Warum kennst du ihn nicht?"

„Weil sie ihn mir nie gesagt hat", bringt er aus bebenden Lippen hervor, und obwohl das rein gar nichts erklärt, hakt Wes nicht nach. Michael ist ohnehin nicht danach, mit ihm darüber zu reden, also konzentriert er sich auf sein Problem.

„Er ist ein Fremder für mich. Ich habe keine Ahnung, was in ihm vorgeht. Wie soll ich so überhaupt irgendetwas von dem ganzen verstehen, wenn sich mir niemand öffnet?"

„Michael."

Er dreht sich um und mustert sein grinsendes Gesicht.

„Was meinst du ist die Vergangenheit?"

„Keine Ahnung ... vorbei? Ich habe keine Lust auf Rätsel."

„Sie lebt, Michael, lebt in uns. Sie ist ein Konstrukt jenes Menschen, der sie erzählt. Jeder findet seine eigenen Worte, um sie zu umschreiben. Wenn der Erzähler stirbt, gehen diese verloren – und landen hier."

Michael ist so aufgewühlt, dass er ihn verständnislos anstarrt. Also fährt Wes fort.

„Was wäre, wenn du die Vergangenheit aus den Augen eines anderen betrachten könntest? Erinnerungen, Gedanken, Gefühle ... Alles ist hier. Du musst nur darauf zugreifen."

„Aber wie?"

Er bleckt die Zähne. „Indem du dich in ihre Köpfe schleichst. Sieh es dir einfach an. Nirgendwo sonst ist der menschliche Verstand so wehrlos."

Michael bleibt fassungslos der Mund offen stehen. „Das ist absurd."

Darauf zuckt er unbedarft mit den Schultern. „Alles ist vergangen. Nichts wird sich verändern, wenn wir einen Blick in ihre Perspektive werfen."

„Und übergriffig!"

„Sie werden es nie erfahren."

Wes verschränkt die Arme vor der Brust und beugt sich zu ihm herab. „Ich dachte, du möchtest die Wahrheit erfahren."

„Aber doch nicht so", antwortet Michael und rauft sich das Haar. „Ich wollte doch nur einen kurzen Blick auf die Geschehnisse werfen."

„Aber wird das ausreichen?"

„Ich ..."

So hat er sich das nicht vorgestellt. Michael hat nicht bedacht, dass Taten nicht genügen, um einen Menschen gänzlich zu verstehen. Sie sind Hinweise darauf, was in ihnen vorgeht, deuten auf Beweggründe hin. Aber das rechtfertig wohl kaum die Missachtung jeglicher Privatsphäre. Genauso unbestreitbar ist allerdings der Reiz, den das verborgene Wissen ausmacht.

Nicht zu fassen, dass ich das in Betracht ziehe.

Wes beobachtet unterdessen, wie der Pianist mit sich ringt, bis dieser jene Frage stellt, auf die er gewartet hat.

„Was wird mich ein genauerer Blick kosten?"

Er gluckst und führt seine Hand ans Kinn.

„Nun ... Es ist eine Sache, in einen beliebigen Moment einzutauchen. Doch in einen Menschen, seinen Zustand zu blicken und wie er die Welt wahrnimmt, etwas völlig anderes. Das kostet mich mehr Kraft, Michael. Ich werde mehr als eine beliebige Erinnerung von dir brauchen. Je essenzieller ihre Bedeutung für dich ist, desto stärker werde ich. Dafür erhältst du einen umso genaueren Blick ins Bewusstsein."

Mit jedem weiteren Wort steigt Michaels Unmut gegenüber seinem Vorhaben. Und dennoch ...

Es geht nicht anders.

„Also gut. Führe mich zu der Frau auf dem Foto."

Ein zweites Mal reichen sie sich die Hände. Michael beißt die Zähne zusammen in der Erwartung, von dem eiskalten Schmerz heimgesucht zu werden. Nun, da das Ziel feststeht, fokussiert er sich auf die Abbildung seiner Erinnerung, jedes Detail, das ihm davon geblieben ist, um es Wes zu geben.

Ein weiteres Mal kehrt er in die Kleinstadt seiner Kindheit zurück. Zerrt eine Unterhaltung ins Licht, die er tief in sich verschlossen hat.

„Er ist weggegangen", erklingt die Stimme seiner Mutter.

Michael muss im Kindergartenalter gewesen sein. Zu naiv, um ihre wachsende Ungeduld zu bemerken, die sie hinter gerunzelter Stirn zu verstecken versuchte. Denn selbstverständlich war ihre Erklärung nicht genug, also fragte er weiter, wohin sein Vater ging und was er dort machte. Im Stillen trieb ihn vor allem eine Frage um.

Warum? Warum ist er gegangen?

„Weit weg, mit dem Flugzeug. Er ist jetzt bei seiner Familie."

Er verstand den seltsamen Ton in ihrer Stimme nicht. Sicher war nur, dass er nichts Freundliches hatte, und das verunsicherte ihn.

„Aber ... wir sind doch seine Familie."

Sie seufzte und daran, wie sie ihr Gesicht abwandte und die Augen verdrehte, erkannte er, dass sie genervt war. „Für ihn wohl nicht."

„Wieso?"

„Da gibt es eben einen anderen Ort, an dem er sein will."

„Welchen Ort?"

„Ach, das ist alles so kompliziert, Michael."

Seine Mutter hat schon aufgegessen, ihre Portion war ohnehin kaum größer als seine, und normalerweise wartete sie, bis er fertig war. Doch wenn er sie mit Fragen löcherte, stand sie auf und ließ ihn zurück, räumte geräuschvoll die Küche auf, während er mucksmäuschenstill seine Suppe löffelte.

Mit der Zeit, als Michael älter und damit neugieriger wurde, bekam er noch kürzere Antworten. Die Kälte in ihren Worten war größer als zuvor, und sie versteckte diese kaum mehr. Die Erkenntnis, dass sie ihn von seinem Vater fernhielt und jegliche Erklärung verweigerte, bohrte sich umso schmerzhafter in sein Herz.

„Konzentriere dich auf das, was wichtig ist", schmetterte sie ihn eines Tages ab.

Doch das war es nicht, an was Michael zerbrach, sondern den über Jahre erbauten Mauern um sie. Dass das Einzige, das ihn und seine Mutter verband, das war, was ihnen im Weg stand.

Es hätte uns verbinden sollen.

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