Kapitel 19 Lang
Der Morgen war ereignisreich und bereits zum Scheitern verurteilt, noch bevor er richtig begonnen hatte. Es war sechs Uhr früh. Geschaffen setzte er sich auf, seufzte erschöpft und schlug seine - gestern frisch überzogene- mit grünen Blättern gemusterte, weiße Baumwollbettdecke zur Seite.
Wegen seiner pochenden Nase hatte er die halbe Nacht mit einer Packung tiefgekühlte Erbsen im Gesicht geschlafen, bevor er um viertelvier (eine ziemlich unchristliche Zeit, wollte er nur mal loswerden) mit einem nassen Kissen und einer erfrorenen Wange aufgewacht war. Seine geprellten Rippen waren in Verband gewickelt und mit Trauma-Salbe eingeschmiert. Er hatte die ärztliche Anweisung, im Bett zu bleiben und durfte nicht mal Gewichte heben – ein Hobby, mit dem er vor wenigen Wochen begonnen hatte, um seine mickrigen Oberarme in Form zu bringen. Er mochte gut gebaut aussehen und etwas Kraft besitzen, aber zu einem Cheeseburger pro Woche konnte er nie »Nein« sagen. Die salzigen Pommes mit dem Süß-Sauer-Dip dazu, machten ihn schwach und wenn dann noch ein eisgekühltes Getränk dabei war, war es vorbei mit seiner Selbstbeherrschung.
Hicks fühlte sich schwach, seit er mit Astrids verkacktem Ex im Bad gerungen hatte. Dass er ihn nicht direkt niedergeschlagen hatte, kratzte an seinem Ego. Das musste er ändern.
»Zuerst Kaffee«, nuschelte er und stapfte die Treppen hinunter in die Küche, nachdem er sich sein Handy vom Nachtkasten geschnappt hatte. TING. TING. TING. Es gab ein paar Mal hintereinander Benachrichtigungstöne von sich, aber er beschloss später nachzusehen, wer ihm schrieb. Er lebte allein in einem gemütlichen kleinen Haus. Es war alt, gut gepflegt und gehörte seiner verstorbenen Großmutter. Sein Vater hatte es ihm vermacht, nachdem er es geerbt hatte und darin keine Verwendung sah. Ein paar neue Möbel und etwas Farbe hatten gereicht, um daraus ein gemütliches Eigenheim zu machen.
Die Kaffeemaschine war schnell angeschaltet. Aus seinem Küchenschrank holte er sich seine Lieblingstasse: eine schwarze Tasse mit stechend grünen Augen – Drachenaugen oder Katzenaugen. Milch, Zucker und ein Kaffeelöffel später saß er auch schon auf dem Esstisch in der Küche und nippte an seinem morgendlichen Lebensretter.
TING.
Er griff nach seinem Handy. Vier neue Nachrichten von Astrid. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen und er tippte hastig seinen Entschlüsselungscode ein und öffnete ihren Chat.
Drei neue Bilder und eine Textnachrichten.
Zuerst hatte er nicht damit gerechnet, dass sie ihm schreiben würde, nachdem er ihr in aller Schüchternheit seine Nummer gegeben hatte, aber er hatte nur fünf Tage warten müssen. Sie hatte ihn angerufen und nach Neuigkeiten von ihrem Kotzbrocken von Ex gefragt. »Er ist seit zwei Tagen wieder auf freiem Fuß. Sie konnten ihm nichts nachweisen, Astrid. Sag mal, wie geht es meiner Kleinen?" Zugegeben: Sein Herz hatte Saltos geschlagen, als ihre Stimme am anderen Ende der Leitung erklang, aber ihre Frage hatte ihm einen Stich versetzt.
Ein Versuch, vom heiklen Thema abzulenken, denn Hicks hatte mit seinem Vater beinahe einen Streit vom Zaun gerissen, wegen Erins Freilassung. »Machtlos« war ein Begriff, den er nicht gern benutzte, aber seinem Vater gegenüber, war er es. »Ich verstehe deine Beweggründe, aber solange er nichts nachweisbares falsch macht, werden weder Polizei noch wir etwas unternehmen.« Seine Stimme war streng und ohne jegliche Emotion. So war er immer, wenn Hicks gegen seinen Willen arbeitete. Er hatte ihn nicht Mal angesehen. Erin war ein gewalttätiges, übergriffiges Arschloch. War Astrids Wort nichts wert? Sie hatte es nicht vielen Personen in ihrem Umfeld erzählt, aber er glaubte, sie könne mit ihrer Stimme auch den Richter erreichen – würde sie Erin doch nur anzeigen. Sein Vater hatte stumm zur Seite gesehen, als er ihm an den Kopf geworfen hatte, was für ein mieser Großvater er doch sei, obwohl Hicks diese Worte im Nachhinein sehr bereute. Immerhin hatte sich sein Vater sofort nach seiner Enkelin erkundigt, als er ihm im Krankenhaus die fromme Botschaft verkündet hatte – natürlich per Handy- und war hin und weg, als er gestern ein Bild von ihr gesehen hatte.
Ob er wusste, wie es sich anfühlte, zu erfahren, dass man ein Kind hat und die Frau, die ihm dieses kleine Wesen geboren hatte, freiwillig durch so viel schreckliches ging, um seinem Kind ein gutes Leben zu bieten. Das glaubte er nicht.
Eine Nachricht. Ein Video von Autumn. Sie krabbelte auf einem Teppich in einem gemütlich, aber minimalistisch eingerichteten Wohnzimmer. Astrid schwenkte die Kamera aus Versehen etwas umher, deshalb konnte er einen Teil der Küche sehen. Sie wirkte alt, aber dafür würde er sie nicht verurteilen. Autumn hatte ein Stofftier in der Hand, dass er zuerst für einen Delfin hielt, sich allerdings als Papagei mit blauen und gelben Federn herausstellte. Augenarzt, Hicks! Es hatte ihn zum Lachen gebracht. Schmerzhaft wie hundert Messerstiche, aber das war es ihm Wert. Wie gern er bei ihr gewesen wäre, um ihr Gesicht beim Grübeln zu sehen und wie gerne er Bilder von ihr, als sie schwanger war gehabt hätte, verschwieg er ihr. Er hatte das Gefühl, alles aufholen zu müssen, was er verpasst hatte und er war bereit dazu, alles zu tun, um ihr und dem Kind jede Faser seines Körpers zu widmen. Sie würden nicht nochmal allein sein. Er würde da sein und sie lieben, bis er starb.
Seither hatten sie sich jeden Tag ausgetauscht.
Er tippte - darauf bedacht sie nicht wieder so zu bedrängen, wie er es zuvor einmal gemacht hatte, löschte seine Antwort allerdings wieder und schickte ihr dankend einen Daumen nach oben und eine Kaffeetasse. Er öffnete die Videonachrichten und schmunzelte. Sein Herz raste aufgeregt. Autumn war zuckersüß in ihrem stylischen Outfit mit den Zöpfchen und Frischkäse um den Mund. Sie kicherte und lächelte. Die Bilder zeigte Autumn bei verschiedenen Aktivitäten. Verwunderung, weil ihre Weintraube auf den Boden gefallen war, Zorn, weil sie eine weniger auf dem Teller hatte, ein breites Grinsen, weil ihre Mama sie in einer Babytragetasche ganz dich bei sich trug. All diese Bilder hatte er mit einem Herz kommentiert und in seinem fest verankert.
Sein Kaffee war halb leergetrunken, als er ihr endlich eine richtige Frage stellte: »Hast du heute Zeit? Ich würde Autumn gern besuchen!« Und dich, fügte er in Gedanken bei. Die Antwort kam rasch. »Tut mir leid, aber ich bringe sie gerade in den Kindergarten in der Mall und danach habe ich bis vier Uhr Dienst im Café – auch in der Mall. Der Bus ist wie immer Rappel voll, haha« Vielleicht war es noch zu früh, um direkt bei ihr aufzukreuzen, aber er wollte sie sehen. Geduld.
TING. TING.
Ihr Chat war noch offen. Ein paar Bilder und Videos von Autumn und ihr poppten auf und Hicks begann zu lächeln. Ein Bild von Baby Autumn nach ihrer Geburt, ein Video, als sie mit ihr zuhause war und die Kleine friedlich schlafend auf dem Sofa lag. Dazu hatte Astrid geschrieben: Autumn war da erst zwei Wochen alt. Fast hätte er geweint, weil er sich so freute. Wie winzig sie war und wie liebevoll Astrid ihr über die Wange streichelte, als sie für einen Moment unruhig wurde und ihr Schnuller ihr aus dem Mund fiel. Er hatte das alles verpasst.
TING.
Eine weitere Nachricht, diesmal stammte sie nicht von Astrid. Einen Schluck Kaffee, der bereits kalt geworden war, und er hatte Jacks Chat geöffnet. »Hicks was machst du wieder für Sachen?! Dein Vater ist total miesdrauf, Mann. Er lässt uns Extraarbeit machen.« Hicks schüttelte den Kopf und tippte eine Antwort ein, aber Jack hatte andere Pläne. Er rief an und Hicks hob seufzend ab. Das Gespräch würde lang dauern. Er hatte ihn seit der Nacht im Stripclub nicht gesehen und mied seinen besten Freund, aus Angst, er würde ihn im Schlaf dafür ersticken, dass er ihn in der Seitengasse stehengelassen hatte – mit einem verprügelten Kunden und ihn mehrere Tage lang mit einer kurzen: »Mir geht's gut« -Sms abgespeist hatte. Kein Telefonat, keine weiteren Nachrichten. Jack allerdings wusste, was los war, also so wütend konnte er nicht sein – hoffte ein kleiner Teil in ihm.
»Ja, was ist, Mann?«
»Wie was ist? Du gehst mir seit Tagen aus dem Weg. Eine Erklärung dafür wäre schön. Wie geht es der Kleinen? Warum hörst du dich so komisch an?«
Das hatte er ganz vergessen. Wegen seiner gebrochenen und geschwollenen Nase atmete er die ganze Zeit durch den Mund, demnach war sein Hals trocken und gereizt und seine Stimme klang kratzig nasal. Er stand mit seiner Kaffeetasse auf, ließ sich auf seinem schwarzen Sofa nieder, stellte seine Tasse auf den niedrigen Wohnzimmerglastisch vor sich und begann Jack zu erzählen, was die letzten Tage vorgefallen war und wie scheiße er sich physisch und emotional fühlte und Jack munterte ihn auf. Er musste doch nicht mit einem Auge offen schlafen.
»Sag mal, wie soll es denn zwischen euch weiter gehen? Du kannst deinen Vater nicht ewig ignorieren. Der Mann hat schon angefangen seine Bleistifte zu ermorden. Mandy musste ihm schon einen heimlichen Vorrat besorgen. Und der Polizeichef hat ihn vorhin angerufen. Er hat sich über dich beschwert und dein Vater musste ihm versprechen, mit dir zu reden.« Jack blieb einen Moment still und wartete auf seine Antwort. Die gab er ihm nicht. Er würde sich nicht dafür entschuldigen, Grobian – so hieß der Polizeichef von Berk- einen inkompetenten stinkenden Riesen genannt zu haben. Vielleicht übertrieben, aber er war in diesem Augenblick so sauer gewesen, dass er sich nicht beherrschen konnte. Grobian hatte auch nichts zu seinem Wohlbefinden beigetragen und ihm die Nachricht einfach so hingedonnert. Erin ist frei – leb damit (nicht seine exakten Worte, aber so kam es ihm vor). Dieser blonde, goldzahnige Trottel mit seiner glänzenden Dienstmarke. Er war ein alter und guter Freund seines Vaters und eigentlich auch ein Freund von ihm, aber jetzt führten sie alle drei schweigend Krieg.
Jemand rief an. Er hob die Augenbrauen und sah Astrids Namen auf dem Display. Sein Herz machte einen Satz. »Jack, Astrid ruft an komm morgen vorbei, wenn dich mein Vater entbehren kann, und dann können wir gern über alles reden.«
»Hicks ey, lass mich jetzt ni-« Aufgelegt.
,,Hey!", begann er lächelnd.
,,H- hicks, uhm, ich ... wir", stammelte sie. Ihre Stimme zitterte und klang belegt. Als ob ihr langsam der Sauerstoff aus den Lungen gepresst wurde. Autumn weinte im Hintergrund. Seine Alarmglocken schrillten alle Arten von Tönen. »Welche Station seid ihr?« Er sprang auf, stieß mit dem Knie bei seinen Wohnzimmertisch an, was seine Tasse zu Fall brachte und der Rest an Kaffee auf dem Eichenholzparkett unter ihm landete. Wie von der Tarantel gestochen lief er quer durch den Raum und in den Flur. Zeit, um sich umzuziehen nahm er sich nicht. Während er seinen Autoschlüssel von seiner Kommode im Vorraum schnappte, schlüpfte er hastig in seine dunkelblauen Jeans-Slipper und eilte aus dem Haus, zu seinem Auto. Es kam keine Antwort, aber er konnte ihren Atem und seine Tochter hören. Hastig stellte er sie auf Lautsprechen. »Welche Station! Astrid?«, rief er etwas zu energisch. Er ignorierte seine protestierenden Verletzungen, setzte sich in sein Auto und startete den Motor, nachdem er die Tür zugeknallt hatte. Er parkte schwungvoll aus und fuhr mit quietschenden Reifen seine Wohnstraße entlang. Von ihm aus war die Mall gute zwanzig Minuten entfernt.
»Eckstraße, G-gleich Nadderweg«
»Steig aus und lauf in die Mall. Wie weit ist er entfernt?« Er war lauter, als er eigentlich geplant hatte, aber seine eigene Angst trieb gleichzeitig auch seine Wut. Hicks wusste im Krankenhaus schon, dass Erin hinter Astrid her sein und sie früher oder später auch verfolgen würde, aber, dass er wenige Tage nach seiner Freilassung schon Jagd auf sie machen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte auf mehr Zeit gehofft.
»Nicht weit genug weg, damit sie weglaufen kann, fürchte ich. Hallo, meine schöne.« Seine hässliche raue Stimme ertönte. Sie schluchzte auf und Hicks knurrte. Geh weg!
Er war bereit jede Geschwindigkeitsbegrenzung zu überschreiten, wenn er damit nur rechtzeitig bei ihnen sein würde – und Erin die Zähne aus dem Zahnfleisch kloppen konnte. »Bleib dran – leg ja nicht auf.« Ich bin gleich da, redete er sich ein, obwohl er wusste, dass er noch gute fünfzehn Minuten brauchen würde, um die Mall zu erreichen. Sie dann noch suchen zu müssen ... Er wollte nicht wissen, wie lange er wirklich brauchte, um sie zu finden und was in der Zwischenzeit alles passieren würde.
»Schön dich wiederzusehen. Wie geht es dir und der Kleinen? Oh, du siehst heute aber traurig aus. Ist alles in Ordnung?«, fragte er mit solch einer falschen Freundlichkeit, dass selbst Hicks am anderen Ende der Leitung Brechreiz bekommen hatte.
Er konnte die Tür des Busses öffnen hören. Das laute Gerede von Menschen hallte durchs Handy. Sie beschwerten sich, dass Erin im Weg stünde, und Erin begann sich zu beschweren. Es war so laut, dass Hicks seine Tochter kaum hören konnte. Astrid war lange verstummt. Allein ihr hektischer Atem und ihr schniefen verriet ihm, dass sie noch da war. Einige um sie herum gaben überrasche »Heys« und »was soll das« von sich. Laufschritte waren zu hören und Autumns Weinen wurde lauter. Erin schrie: »Bleib stehen! Ich will doch nur reden!«
Einen Scheiß willst du, dachte sich Hicks und bog auf die Autobahn ab. Etwas mehr als zehn Minuten bei höherem Tempo. Er konnte Astrid Laufen hören, was seine Nerven keinesfalls beruhigte.
»Ich bin unterwegs. Ich bin bald da« war das Einzige, was er ihr zureden konnte, aber er befürchtete, dass sie das Handy nicht an ihr Ohr hielt und sie ihn deshalb nicht hörte.
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