1.Kapitel
Die Reise hatte sich angefühlt wie ein einziger Fiebertraum.
Anja hätte um ein Haar ihren ersten Flug verpasst und ihr zweiter Flug war zwei Stunden verspätet, so dass sie den dritten ebenfalls fast verpasst hätte. Sie verirrte sich am Pariser Flughafen, musste am St. Johns international airport eineinhalb Stunden auf ihren Koffer warten und war mehr als einmal fast in Tränen ausgebrochen, wenn sie daran gedacht hatte, dass es von jetzt an ein Jahr dauern würde, bis sie ihren Vater wiedersah.
Jetzt gab es kein zurück mehr.
Am Flughafen wurde sie von Mrs O'Hara, einer Betreuerin des Internats abgeholt. Wie per email abgesprochen.
Anja erkannte sie an dem riesigen Schild das sie in der Hand hielt, auf dem, falsch geschrieben, ihr Name stand. Anya Koler anstatt Anja Köhler.
Erleichtert war sie auf die Frau zugesteuert und hatte sich vorgestellt.
,,Hello." Hatte sie zaghaft gepiepst. ,,I'm Anja. You are here for me, yes?"
Sie war schon immer schüchtern gewesen wenn es darum ging fremde Leute anzusprechen und die Strapazen der Reise hatten sie in ein einziges Nervenbündel verwandelt.
,,Yes! Hello, Anja!"
Die Frau hatte gelächelt, das Schild sinken lassen und von diesem Zeitpunkt an nicht aufgehört zu reden.
Auf der anschließenden Autofahrt erfuhr Anja praktisch alles über ihre neue Schule, Kanada und Mrs O'Hara.
,,Aber nenn mich doch bitte Shauna, Liebes." Hatte die Frau gleich zu Beginn gesagt, bevor sie überhaupt den Motor gestartet hatte. ,,Bei diesem Mrs O'Hara fühl ich mich so alt. Dabei bin ich überhaupt nicht alt. Achtundzwanzig und ein paar Monate, wenn du es genau wissen willst."
Shauna war, wie sie erzählte vor zwei Jahren an die Schule gekommen und regelte seitdem alles, was mit den Austauschschülern zu tun hatte.
Außerdem unterrichtete sie Sport, sowie Geografie und tranierte das Fußballteam, das Rugby team und das Lacrosse team.
Aufgewachsen war sie in Derry, einer Stadt in Nordirland, was man ihrem Akzent deutlich anhörte. Er hatte etwas singendes. Zusätzlich dazu sprach sie so schnell, als stände sie unter Zeitdruck und verwendete Slang den Anja noch nie gehört hatte.
Nach einer Weile war Anja auf der Rückbank eingedöst und erst wieder aufgewacht, als Shauna das Auto parkte.
,,So! Hier wären wir!"
Anja öffnete verschlafen die Augen und merkte wie das Adrenalin in ihren Körper zurückkehrte.
Sie war da! Hier würde sie also das nächste Jahr ihres Lebens verbringen!
Sie kletterte aus dem Auto und streckte sich. Wegen der Zeitverschiebung war es später Morgen hier. Weiße Wolken bedeckten einen makellos blauen Himmel, die Luft war klar und frisch. Es roch nach Wald und frisch gemähtem Gras. Anja wusste, dass das Internat relativ abgelegen auf dem Land lag.
,,Na, was sagst du zu deiner neuen Schule?" Shauna war neben sie getreten und deutete nicht ohne Stolz auf das riesige Gebäude das vor ihnen lag.
,,Es ist märchenhaft." Wisperte Anja.
Vom Parkplatz aus führte ein asphaltierter Weg durch eine makellose Grasfläche, die erst kurz vor den Steinwänden des Internats endete.
Es sah gar nicht aus wie eine Schule sondern mehr wie ein Kloster oder ein Schloss. Mit Türmchen, Giebeln, altmodischen Fenstern und einem wunderschönen Eingangsportal.
Anja fragte sich unwillkürlich wie alt das Gebäude wohl war. Es sah wirklich aus wie aus einem Märchen. Wie ein Überbleibsel von längst vergessenen, verwunschenen Zeiten.
,,Komm, gehen wir dein Gepäck holen." Meinte Shauna und klang mit einem Mal geschäftig. Sie dackelte um das Auto herum und öffnete den Kofferraum.
,,Dann bring ich dich auf dein Zimmer und um drei Uhr, wenn der Unterricht vorbei ist, treffen sich alle Austauschschüler vor dem Eingang, dann machen wir eine Vorstellungsrunde. Bis dahin kannst du auspacken, oder schlafen, was dir lieber ist. Denk daran, deine Eltern anzurufen und ihnen zu sagen, dass du gut angekommen bist."
,,Wieviele Austauschschüler gibt es denn?" Fragte Anja, die sich mit ihrem Gepäck abmühte.
,,Nur 9 dieses Jahr, leider." Shauna klappte schwungvoll den Kofferraum zu. ,,Die Schulleitung genehmigt jedes Schuljahr nur eine begrenzte Nummer und die wird immer kleiner. Letztes Jahr waren's 14 Austauschschüler, im Jahr davor 17 und ich hab mir sagen lassen, dass es in den Jahren davor nie unter zwanzig waren."
,,Woran liegt das denn, dass die Schulleitung die Nummern senkt?" Fragte Anja nervös. Diese Information gab ihr irgendwie das Gefühl unwillkommen zu sein.
Shauna machte eine wegwerfende Handbewegung. ,,Keine Sorge, das ist nur zum Ausgleich. Weil sich auch immer weniger kanadische Schüler bei uns anmelden, oder die Schule verlassen, haben wir allgemein viel weniger Schüler, als noch vor ein paar Jahren. Da möchte der Direktor nicht, dass die Zahl der Austauschschüler und der normalen Schüler unproportional zueinander stehen. Das bringt euch sonst ja nichts."
Anja war sich da nicht so sicher, aber nickte trotzdem.
Shauna drückte das riesige Schulportal auf und Anja war bei dem Anblick der sich ihr bot etwas enttäuscht. Trotz des prachtvollen Äußeren des Gebäudes, war das Innere schlicht. Hinter dem Portal befand sich ein Flur und ein Treppenhaus, beides in einem schmutzigen grauton gehalten. Es sah überhaupt nicht mehr märchenhaft aus, sondern einfach nur so wie eine Schule eben aussah.
,,So! Hier gehts lang!" Sagte Shauna geschäftig und eilte die Treppe hinauf. Die Zähne zusammenbeißend und ihren Koffer von Stufe zu Stufe hebend kam Anja ihr nach, so schnell sie konnte.
Gott sei Dank musste sie nur ins erste Stockwerk.
,,Die Mädchenschlafräume sind im ersten Stock, die der Jungen im zweiten." Erklärte Shauna. ,,Es ist euch nicht erlaubt den zweiten Stock zu betreten und umgekehrt. Halt dich da bitte dran. Das hier ist dein Zimmer."
Shauna blieb vor der dritten Tür links stehen und kramte einen Schlüssel hervor.
Dritte Tür links... Dritte Tür links schärfte Anja sich ein. Alle Türen sahen gleich aus und es wäre ihr peinlich mal aus Versehen das falsche Zimmer zu betreten.
Shauna schloss auf und spazierte mit großen Schritten in den Raum. Anja folgte ihr.
Der Raum war nicht sehr groß. Es gab zwei Betten, zwei Schränke und zwei Schreibtische, die direkt nebeneinander an einem Fenster standen das den Schulhof überblickte.
Das eine Bett war bezogen und nachlässig gemacht. Die Decke war zerknittert, neben dem Kopfkissen lagen Laptop, Ladekabel und eine angebrochene Tafel Schokolade. Ein riesiger großer Koffer stand in der Ecke, Schulsachen stapelten sich auf dem linken Schreibtisch und aus einem der Schränke quollen die Klamotten nur so heraus.
Es war offensichtlich, dass hier schon jemand wohnte.
Anja hatte vermutet, dass sie sich das Zimmer teilen würde, aber sie hatte sich noch nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht, erst jetzt wurde ihr klar was das wirklich bedeuten würde. Auf einmal war sie aufgeregt.
Sie würde ein Jahr lang auf engstem Raum mit einer Fremden zusammenleben! Tag und Nacht! Wie ihre Mitbewohnerin wohl sein würde? Was wenn sie Anja nicht mochte? Oder Anja sie nicht?
Oder villeicht war das Gegenteil der Fall und sie würden gute Freundinnen werden.
Shauna schien zu ahnen woran Anja dachte.
,,Deine Zimmernachbarin heißt Alexa. Sie ist auch aus Deutschland und tritt jetzt ihr zweites Jahr hier an." Erzählte sie.
,,Was die Mädchen angeht seid ihr dieses Jahr die Einzigen aus Deutschland, deswegen dachte ich, ich leg' euch mal zusammen. Dann könnt ihr euch gegenseitig bei Heimweh und so helfen."
Anja war sich nicht sicher ob es ideal war die einzigen zwei Leute aus dem selben Land in dasselbe Zimmer zu stecken, aber sie schätzte es, dass Shauna sich Gedanken gemacht hatte.
Leise fragte sie. ,,Wie ist Alexa denn so?"
,,Oh Alexa?! Ich kenne sie sehr gut. Letztes Jahr war sie eine der besten Schülerinnen. Mach dir keine Sorgen, ihr werdet euch schon verstehen."
Shauna begann geschäftig in ihrer Handtasche zu wühlen.
,,Sie ist sehr intelligent und selbstbewusst und ein bisschen... intensiv?! Ich hatte schon Gespräche mit ein paar Schülern die sich von ihr eingeschüchtert gefühlt haben. Aber, keine Sorge, sie ist sehr nett. Ah! Da ist er ja."
Sie drückte Anja einen Schlüssel in die Hand. ,,Da. Für's Zimmer. Nicht verlieren!"
Anja nickte und schloss ihre Faust fest um den Zimmerschlüssel. ,,Danke."
Shauna wandte sich zum gehen. ,,Also, dann, Anna! Bis um drei Uhr vorm Eingang!"
Schon war sie aus dem Raum gewuselt.
Anja blieb wo sie war. In der Mitte des Raumes stehend, den Koffer neben ihr, die Faust um den Schlüssel geballt.
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