Unternehmenskooperation


Ich wünsche nachträglich schöne Feiertage und schon mal einen guten Rutsch ins neue Jahr, falls man sich bis dahin nicht mehr liest!


Um den Schein zu wahren, holte ich Yves für das gemeinsame Abendessen ab. Andernfalls würde meine Mutter mich schelten, weil Abholungen scheinbar einen angemessenen Umgang mit einer Dame darstellten, obgleich sie selbst sich hinter geschlossenen Türen in ihrer Ehe wie Unrat behandeln ließ.

„Danke, dass Sie mich fahren, Herr Lindqvist." Yves trug dünne Strumpfhosen mit einem langen, grauen Wollpullover darüber, dessen dicker Kragen seinen Adamsapfel erfolgreich verdeckte. Sein Outfit war allgemein passend gewählt, um jegliche Spuren nicht vorhandener weiblicher Kurven zu verbergen. Es war nahezu prüde und entsprach damit absolut nicht meinen Vorlieben, meine altmodisch angehauchten Eltern hingegen würde es als angebracht empfinden. Sie wünschten sich für mich eine traditionelle Frau, die mir Haushalt und Kindererziehung abnahm, und ignorierten dabei, dass ich beide Aufgaben sehr erfolgreich allein managen konnte.

„Ich tue es nicht freiwillig", meinte ich und wartete, bis er auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, ehe ich die Tür hinter ihm in die Angeln drückte, den Wagen umrundete und mich hinter das Lenkrad setzte.

„Tut mir leid." Er schob eine recht große Einkaufstasche mittig auf seinen Schoß, schnallte sich an und zupfte dann sein Oberteil unter dem Gurt zurecht. „Ich, ähm, habe für Ihre Kinder Kleinigkeiten mitgebracht. Und für Ihre Eltern."

Zwar entsprach es der gängigen Norm, den Gastgebern etwas mitzubringen, trotzdem wäre es mir lieber gewesen, hätte er meine Kinder außer Acht gelassen. Sie mussten sich nicht mehr als nötig an ihn binden. Am besten gar nicht.

„Die Sachen", er linste heimlich zu mir rüber, starrte aber gleich darauf wieder aus der Frontscheibe auf die Straße, „waren nicht so teuer, weil ich sie nur von dem Trinkgeld der Kunden bezahlen konnte ... ist das in Ordnung?" Er atmete tief ein. „Weil Ihre Familie doch, also, wohlhabender ist?"

„Der Preis ist nicht von Belang." Eine dreiste Lüge meinerseits, wären meine Eltern nicht derart versessen darauf, mich endlich unter die Haube zu bringen.

„Okay." Er lächelte vorsichtig. „Das beruhigt mich."

Ich antwortete darauf nichts weiter und konzentrierte mich auf den Verkehr.

Je schneller der Abend vorbei sein würde, desto besser.


Als ich eine knappe Viertelstunde später meine Haustür öffnete und mit Yves zusammen den Flur betrat, standen meine Sprösslinge bereits artig in Reih und Glied vor uns, während ich die Umrisse meiner Eltern am anderen Ende auf dem ausladenden Sofa im Wohnzimmer erkennen konnte. Selbst wenn sie Yves durch eine Hochzeit verbindlich an meiner Seite wissen wollten, waren sie dennoch dekadent genug, zu erwarten, dass man den zusätzlichen Meter lief, um sie zu begrüßen.

„Hi!" Ares preschte sofort auf uns zu und streckte Yves ein Blatt Papier entgegen. „Das ist für dich! Ich hab es in der Schule im Unterricht gemalt und deswegen sogar Ärger gekriegt."

Ich ignorierte seine Beichte bezüglich seines schulischen Fehlverhaltens und musterte das Bild.

Rechts zeigte es Ares – jedenfalls vermutete ich das – auf einem Fußballfeld, kurz vor dem Tor mit einem Ball am Fuß, wie er ausholte, während die linke Hälfte von einer großen Tribüne eingenommen wurde, auf der mehrere krumme Personen mit gehobenen Armen standen.

„Das bin ich", bestätigte er auch sofort und deutete auf die Person vor dem Tor, „und das sind du und Papa, wie ihr mich anfeuert." Sein Finger schwenkte zur Tribüne, zeigte auf zwei Menschen, einer mit schwarzem, der andere mit hellbraunem, fast rötlichem Haar.

„Das hast du für mich gemacht?" Yves ging neben mir in die Hocke und strahlte meinen Sohn an, glitzernde Augen inklusive. „Das sieht ja richtig professionell aus! Willst du mal Künstler werden?"

Ares grinste zurück. Komplimente fand er klasse, die streichelten sein Ego. „Ne", meinte er. „Ich werde mal Profi-Fußballer. Wenn", sein Grinsen fiel, als er mich ansah, „ich irgendwann mal in einem Verein spielen darf."

„Oh?" Yves setzte eine übertrieben traurige Miene auf. „Wieso darfst du denn nicht? Sind alle Mannschaften schon voll?"

„Sind sie nicht, aber Papa will mich nicht ständig zu den Trainings und Turnieren fahren. Er ist zu beschäftigt dafür."

Ich packte den Jungen an der Schulter, nicht fest, es war bloß eine Warnung. „Genug davon."

Yves linste zu mir und betrachtete mich kurz auf eine sehr eigenwillige Art, bevor er in seine mitgebrachte Tüte griff. „Vielleicht heitert dich der ein bisschen auf", sagte er und holte einen blau-weißen Fußball heraus, auf dessen weißen Feldern Unterschriften verstreut waren. Unterschriften, die mir bekannt waren, weil genau dieser Fußball sich auf einer handgeschriebenen Merkliste befand, die ich in einem kleinen Notizbuch in meinem Büro im Lokal lagerte. „Ich hoffe, du magst den örtlichen Verein?"

„Woah!" Ares schnappte sich den Ball und drehte ihn in seinen Händen. „Genau den wünsche ich mir schon übelst lange! Hier, guck", er tippte mehrmals auf eine der Unterschriften, „da hat Armin Terano drauf unterschrieben! Er ist der beste Stürmer überhaupt!"

Das war ein seltsamer Zufall, ein äußerst seltsamer – wenn es denn einer war. Oder waren derlei Geschenke für Jungen seines Alters üblich?

Unbehagen machte sich in mir breit, aufdringlich genug, dass ich merkte, wie ich von Ares abließ und nach Yves griff – als meine Eltern zu uns stießen, gegen ihre selbstauferlegte Arroganz verstoßend.

„Herr und Frau Lindqvist!" Yves richtete sich sofort wieder auf, streifte dadurch meine Finger von seinem Körper. „Ich wollte mich nochmals für die Einladung bedanken. Ich freue mich wirklich sehr, den Abend mit Ihnen verbringen zu dürfen!"

„Wir freuen uns gleichermaßen. Und bitte", mein Vater nahm Yves' Hand in seine und drückte sie kurz, „nennen Sie mich Yorick."

Sein Vorname. Sie kannten sich für keine vierundzwanzig Stunden und mein Vater bot ihm das Du an. Das war absolut und vollkommen inakzeptabel – weil es implizierte, dass er bereit war, meine Verlobte ohne Hinterfragen in unsere Familie einzugliedern.

„Vielen Dank." Yves wagte es, rot zu werden. „Ich", er strich sich mit seiner freien Hand eine vornübergefallene Haarsträhne aus dem Gesicht, „bin Yves."

Mein Vater lächelte kurz und trat dann einen Schritt zurück, damit meine Mutter ihn ebenfalls begrüßen konnte.

„Agnetha", bot sie an, während mich das ungute Gefühl flutete, dass mir allmählich ein paar Zügel entglitten. Bedauerlicherweise sah ich keine Möglickeit, wie ich mich der Situation entgegensetzen konnte, ohne meine Eltern zu enttäuschen. In meiner Kindheit hatte selbst jede Note, die unter eine Eins gefallen war, dafür gesorgt, dass Judah im Keller eingesperrt worden war. Und jetzt würde jedes Vergehen dafür sorgen, dass er jahrelang eingesperrt würde. Allerdings nicht in einem Keller.

„Josias", ich zuckte, aus meinen Erinnerungen gerissen, als Yves meinen Vornamen so beiläufig aussprach, als hätte er mich nie anders adressiert, „hat mir erzählt, dass ihr gerne Wein trinkt." Er förderte einen Chateau Mouton Rotschild, Jahrgang 2003 zutage. Eine Flasche samt Inhalt mit einem Warenwert an die sechstausend Euro. „Ich hoffe, ich habe keine schlechte Wahl getroffen ...?"

„Oh!" Meine Mutter nahm ihm die Flasche ab, sichtlich zufriedengestellt. „Nein, das ist ein ganz vortrefflicher Wein."

Ich hatte ihm nie erzählt, was meine Eltern bevorzugt tranken, und diesen Wein hätte er sich zudem unter keinen Umständen bloß mit Trinkgeld leisten können, schließlich stand sein erstes Gehalt noch aus. Wobei selbst sein Lohn abzüglich Fixkosten gerade mal einen Bruchteil des Preises gedeckt hätte – was bedeutete, dass er entweder über seine finanzielle Lage gelogen oder die Flasche aus dem Lokal hatte mitgehen lassen. Beides Varianten, die meine Schläfen zum Pochen brachten. Und zwar nicht aus Freude.

„Und jetzt zu euch beiden." Yves wandte sich von meinen Eltern ab und meinen Töchtern zu, holte dabei ein rechteckiges Paket aus seiner Tasche heraus und reichte es Delilah.

„Danke schön." Sie nahm es ihm ab und riss das Papier, in das es eingewickelt war, vorsichtig an den Kanten ein, während ein weiteres Geschenk zu Theresa wanderte, die sich kurz mit den langen Ärmeln ihres braunen Kleides über die Nase wischte, als hätte sie erwartet, erneut übergangen zu werden.

„Für mich?", flüsterte sie und wog das Paket vorsichtig in ihren Händen.

„Ja." Yves kniete sich zu ihr hin. „Brauchst du Hilfe beim Öffnen?"

Er fragte sie, bevor sie überhaupt Schwierigkeiten in der Handhabung gezeigt hatte.

Das Unbehagen wandelte sich in eine lauernde Gefahr, in Judahs Stimme in meinen Ohren, die mir zuflüsterte, nicht blind durch die Gegend zu laufen, nicht einfach davon auszugehen, dass Personen, die kleiner und schwächer wirkten, automatisch auch als harmlos einzustufen waren.

Der gleiche Fehler, den ich bei Maximilian begannen hatte.

Ich spannte mich an, als Yves kleine Löcher in das Papier um Theresas Geschenk puhlte und sie schließlich den Rest allein abziehen ließ. Ein paar Atemzüge später kam darunter eine Sofortbildkamera zum Vorschein. Dieselbe Art Kamera, die einer meiner Erziehungsratgeber mir für junge Adoptivkinder empfohlen hatte, um Erinnerungen mit der neuen Familie festhalten zu können. Dieselbe Art Kamera, die neben Ares' Fußball auf meiner Merkliste gestanden hatte.

Ich presste die Kiefer aufeinander, als Theresa sich mit hochroten Wangen von Yves zeigen ließ, wie man das Gerät bediente. Und der Druck auf meine Zähne nahm weiter an Stärke zu, als Delilah ihr Mitbringsel ausgepackt hatte. Weil es ein knallgelber Kinder-Werkzeugkoffer war – womit jedes einzelne Geschenk exakt denen entsprach, die ich mir für die Festtage am Ende des Jahres notiert hatte.

Und drei Zufälle hintereinander existierten nicht.

„Wie schön." Meine Mutter trat vor, abwinkend. „Aber nun sollten wir in die Küche, bevor das Essen kalt wird."

„Ich sitze neben dir!" Ares ließ seinen Ball neben die Schuhkommode fallen und zerrte Yves am Handgelenk hinter sich her zum Esstisch. „Komm, ich zeig dir, wo dein Platz ist!"

Sein Platz war außerhalb meines Zuhauses, jetzt mehr noch als zuvor. Ich musste dringend einen Weg finden, den Abend schnellstmöglich zu beenden. Und dann musste ich Judah über die neusten Entwicklungen in Kenntnis setzen, musste mit ihm besprechen, wie wir diese Situation handhaben sollten, da Yves augenscheinlich Zugang zu meinem Büro erlangt, dort in meinen Sachen gewühlt und Dokumente gelesen hatte.

Er war genauso wenig Analphabet wie er sich in einer finanziellen Notlage befand. Er hatte mich angelogen.

Und ich war darauf hereingefallen. Trotz aller Warnungen.

Ich fasste mir an den Kragen, öffnete den obersten Knopf und schob die Mädchen eilig hinter meinen Eltern her in die Küche, nachdem ich ihnen ihre neuen Spielsachen entwendet und diese notdürftig verstaut hatte.

„Das riecht wie immer fantastisch!" Yves funkelte meine Eltern an. Er saß bereits am Tisch, als ich die Mädchen zu ihren Stühlen schickte – abseits von ihm. Den freien Platz zu seiner rechten beschlagnahmte ich selbst, um rein physikalisch rascher eingreifen zu können, sollte es zu weiteren Zwischenfällen kommen. „Josias ist ein exzellenter Koch. Ich nehme an, das Talent hat er von dir, Agnetha?"

„Von meinem Mann", meine Mutter lächelte zynisch, „hat er es mit Sicherheit nicht." Dann wandte sie sich mir zu. „Tu uns allen etwas auf, mein Schatz."

Ich unterdrückte den Impuls, mich zu verweigern, und begann bei ihrem Teller, bevor ich mich um die übrigen kümmerte, meinen zuletzt, wie es die Höflichkeit gebot, immer mit einem Auge bei unserem ungebetenen Gast.

Bei der nächstbesten Gelegenheit musste ich wirklich Judah kontaktieren. Er war derjenige von uns beiden, der handfeste Probleme aus der Welt schaffte, ich war derjenige, der die Rahmenbedingungen herstellte – in Form von liquiden Mitteln. Für die Schufterei war er zuständig.

„Ich hätte auch gerne eine Fruktoseinneranz wie du und Papa und Onkel Jude." Ares spießte ein Stück gedünstete Karotte auf, zog eine Grimasse. „Dann müsste ich nicht immer so ekliges Zeug futtern."

„Fruktoseintoleranz", verbesserte ich, zur Hälfte abgelenkt. Mein Fokus lag weiterhin bei Yves, aufmerksam, paranoid. Zunehmend paranoid.

Ich kam nicht gut damit zurecht, wenn sich gewisse Dinge außerhalb meines Einflusses abspielten.

„Alles das Gleiche." Ares winkte ab und stocherte in der gesunden Hälfte seines Tellers herum. Wären andere Gegebenheiten gerade nicht von größerer Relevanz, hätte er sich für sein Verhalten eine Rüge abgeholt.

Onkel Jude?" Meine Mutter kräuselte die Nase. „Haben deine Kinder etwa Kontakt zu deinem Bruder, wenn sie schon extra einen Spitznamen für ihn benutzen?"

Natürlich, das hatte noch gefehlt. Es reichte schließlich nicht, dass Yves mir im Allgemeinen Kopfzerbrechen bereitete, da musste jetzt zusätzlich das Gespräch auf dieses eine Thema gelenkt werden, das ich tunlichst hatte vermeiden wollen.

Judah und alles, was mit ihm zusammenhing, hatte hinter Schloss und Riegel zu bleiben.

„Selbstverständlich nicht", antwortete ich. „Aber den Kindern ist bewusst, dass sie einen Onkel mit ähnlichem medizinischem Hintergrund wie ihr Vater haben, und Theresa hat schließlich bis vor Kurzem noch bei ihm gelebt. Diese Umstände haben nun einmal zu sporadischen Interaktionen geführt, die ich nicht in Gänze unterbinden konnte."

Meine Mutter schnaubte, ließ das Thema damit jedoch ruhen – nur damit mein Vater es wieder aufgreifen konnte.

„Und deiner Verlobten hast du auch schon von ihm erzählt?", fragte er und legte sein Besteck abwartend auf dem Tellerrand ab. „Sie verdient die Wahrheit, wenn ihr vorhabt, euch eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Insbesondere, da er nur unweit von hier entfernt wohnt."

Das war es nicht, weshalb er Judah erwähnte. Er wollte ihn vor Yves als menschlichen Albtraum darstellen, damit ich mich gezwungenermaßen von ihm fernhielt, um meine angebliche Verlobung nicht zu gefährden.

Als würde ich jemals einen anderen Menschen über Judah stellen. Wir waren zwei Glieder desselben Organismus'.

Ich atmete tief ein. „Sie weiß Bescheid", log ich, um meinen Vater davon abzuhalten, alte und äußerst unliebsame Kamellen vor den Kindern und vor allem vor Yves auszupacken. Unter keinen Umständen sollte er erfahren, was Judah getan hatte. Wir durften uns nicht angreifbar machen und Gerüchte unter meinen Angestellten, die bis zur Polizei durchsickern könnten, brauchte ich ebenso wenig.

„Tatsächlich?" Mein Vater lehnte sich zurück, fixierte mich mit seinen Augen. Ihre Farbe hatten wir von ihm geerbt. „Du hast sie darüber aufgeklärt, was er uns antun wollte? Dass er versucht hat-"

Es reicht", fuhr ich dazwischen, ungewollt laut – und drosselte meine Stimme sogleich wieder. „Das ist ein Thema, das ich gerne in Ruhe mit meiner zukünftigen Ehefrau besprechen würde. Unter vier Augen."

Er begutachtete mich für eine geschlagene Minute, bevor er seinen Blick zu den Mädchen schweifen ließ. „Gut", sagte er schließlich. „Aber ich erwarte, dass du sie zeitnah in Kenntnis setzt."

Ich nickte knapp, lockerte den Griff um meine Gabel und mein Messer. „Das werde ich."

„Hat Onkel Jude etwas Böses getan?" Ares beugte sich über den Tisch, um an Yves vorbei zu mir schauen zu können. „Wie böse war das, was er gemacht hat? Einen-Monat-Fernsehverbot-böse oder keine-Geschenke-zum-Geburtstag-böse?"

Gleich platzte mir eine Ader. „Wenn du für den Rest des Abendessens noch ein einziges unaufgefordertes Wort sprichst, werden wir beide Probleme miteinander bekommen. Hast du das verstanden, Ares?"

Er blinzelte, als wäre mein Ausbruch ungerechtfertigt, und schielte dann zu Yves. „Wenn ich jetzt leise bin, darf ich aber später mit Yves zusammen Fußballspielen, oder?"

Ich musterte ihn noch ein paar Sekunden lang, stumm, bevor mich wieder den gebratenen Kartoffeln und Pilzen auf meinem Teller widmete. „Das hängt davon ab, wie gut du dich in der nächsten Stunde zu benehmen weißt."

Ares' Schweigen daraufhin wäre wohltuend gewesen, hätte Theresa im nächsten Moment nicht ihr Stück Braten quer von ihrem Teller auf die Tischdecke manövriert. Und mit ihm eine Spur dunkelbrauner Soße.

Ich schaute von dem Fleisch zu ihr, sah sie erstarren, während meine Mutter die Nase rümpfte, missbilligend, und mein Vater sie betrachtete, wie er Judah stets betrachtet hatte. Als wäre sie eine unerwünschte Last, die man loswerden müsste.

Ich schob ruckartig meinen Stuhl zurück – allerdings kam ich nicht weit, Yves war bereits aufgestanden und hatte den halben Tisch umrundet, um neben Theresa am rechten äußeren Ende zu stoppen.

„Das Gleiche ist mir bei der ersten Verabredung mit deinem Papa auch passiert." Er lächelte sie an. „Aber weißt du, was bei mir anders war?"

Theresa schaute unsicher zu ihm auf, dann zu ihren Großeltern, zu mir und schließlich wieder zu Yves, bevor sie zögerlich den Kopf schüttelte.

Er grinste. „Ich habe nicht den Tisch, sondern deinen Papa komplett mit Soße eingesaut."

Sie machte große Augen. „Du hast Papa dreckig gemacht?"

„Von oben bis unten!" Er ging in einen Flüsterton über, neigte sich dafür zu ihr hinunter. „Er hatte die Soße sogar in den Haaren!"

Kichern. Wo eben Anspannung vorgeherrscht hatte, füllte sich der Raum nun mit ihrem unterdrückten Lachen, während Yves ihr ein neues Stück Braten auftat.

„Wollen wir das mit dem Schneiden gemeinsam versuchen?", fragte er dabei.

Sie nickte mehrmals eifrig und ließ zu, dass er seine Hände über ihre legte und die Bewegungen lenkte, Mal für Mal, bis das Fleisch in mundgerechten Brocken vor ihr lag.

„Was sagst du?" Er zwinkerte ihr zu. „Das haben wir doch super hingekriegt, oder?"

„Ja!" Sie umklammerte ihr Besteck fester, mit hochroten Wangen. „Danke schön."

„Gerne." Ein letztes Lächeln, ehe er sich zurück an seinen Platz neben mir begab. Wenn er dieses Theater aufrechterhielt, würde es mir im Nachhinein bloß mehr Arbeit machen, meinem Nachwuchs zu vermitteln, dass er zukünftig doch nicht Bestandteil ihrer Leben sein würde.

„Du kannst gut mit Kindern umgehen", meinte meine Mutter, kaum saß er wieder. Vermutlich plante sie bereits, ihn als Vollzeitmutter bei mir einzuquartieren.

„Als ich in der Grundschule war, haben meine Eltern damit angefangen, Pflegekinder bei uns aufzunehmen." Yves strich sich links eine verirrte Strähne hinter das Ohr. „Ich war immer sehr eingespannt darin, mich um sie zu kümmern, deswegen", ich runzelte die Stirn, als er unerlaubt seine Hand auf meinem Arm ablegte, „konnte ich es kaum erwarten, Ares, Theresa und Delilah endlich persönlich kennenzulernen."

Das war zwar die Geschichte, die wir miteinander abgesprochen hatten, um ihn möglichst kinderfreundlich anmuten zu lassen – nichtsdestotrotz schien es mir seltsam, wie leicht sie ihm von den Lippen ging.

„Wie rührend." Nicht, dass meine Mutter seine Ausführung tatsächlich rührend fand, aber, wie erwartet, gefiel ihr die Intention dahinter: „Das bedeutet, du bist damit einverstanden, die Kindererziehung nach eurer Hochzeit zu übernehmen?"

Als könnte ich dies in einer Beziehung nicht selbstständig mit meinem Partner regeln.

„Natürlich." Yves rutschte mit seiner Hand von meinem Unterarm, um sich bei mir einzuhaken und seinen Kopf gegen meine Schulter zu lehnen. „Sobald wir verheiratet sind, kündige ich meine Anstellung und werde mich um das Haus und die Kleinen sorgen. Außerdem", er schaute zu mir auf, strahlend, „wollten wir unsere Familie nach der Hochzeit sowieso erweitern, nicht wahr, Liebling?"

Ich spürte mich selbst stocken, weil das definitiv kein Teil unserer abgesprochenen Geschichte war.

„Bis zur Hochzeit", sagte ich langsam und möglichst nicht zu offensichtlich negativ beeindruckt, „ist es noch ein bisschen hin. Meinst du nicht, es ist etwas früh, sich jetzt schon darüber zu unterhalten?"

Yves konnte darauf nichts erwidern, weil Ares seinen eingeheimsten Tadel komplett vergessen zu haben schien. Statt gehorsam zu sein, sprang er von seinem Stuhl und quetschte sich zwischen Yves um mich, trennte uns damit erfolgreich voneinander. „Kriegen wir noch mehr Geschwister? Wenn, dann will ich dieses Mal aber einen Bruder! Mindestens einen!" Er packte mich am Oberarm, rüttelte an mir herum. „Wird das Baby dann eigentlich auch so gemacht wie wir? Weil in der Schule haben wir nämlich gelernt, dass man dafür einen Mann und eine Frau-"

Ares." Ich packte ihn am Handgelenk. „Was habe ich dir vor keinen fünf Minuten gesagt?"

Er schaute zu mir auf – erst unentschlossen, dann beleidigt. „Ich hab doch nur was gefragt, und Frau Müller meint immer, wer nicht fragt, der bleibt dumm!"

Gerade hatte ich keine Nerven für seine Aufstände übrig. „Entweder du setzt dich augenblicklich auf deinen Platz oder das Abendessen ist für dich beendet."

Er verschränkte die Arme vor der Brust, erinnerte mich damit unweigerlich an eine achtjährige, motzende Version Judahs, wenn ich ihm damals etwas verboten hatte. „Ich hab nur was gefragt", wiederholte er.

Und er war mindestens genauso verzogen. „Habe ich mich irgendwie unklar ausgedrückt?"

„Nein." Er stapfte einmal mit der Sohle seiner Anti-Rutsch-Hausschuhe auf den Fliesen auf und schlurfte dann zurück zu seinem Stuhl.

„Es ist gut, wenn deine Verlobte bald die Kindererziehung übernimmt." Mein Vater kehrte zu seinem Essen zurück, wo nun endlich Stille an Tisch herrschte. „Ein Mann sollte sich nicht allein um drei Bälger kümmern müssen. Man sieht ja, wo das hinführt."

Ich schwieg. Ein jahrelang indoktriniertes Rollenbild ließ sich schwer auf den Köpfen von Menschen verbannen. Es wäre vergebens, meinen Eltern erklären zu wollen, dass sehr wohl auch Männer kompetente alleinerziehende Väter sein konnten.

Meine Wenigkeit war schließlich das perfekte Beispiel dafür.

„Aber nun erzählt von eurer Verlobung." Mutter nippte an ihrem Weinglas. „Ich hoffe doch, mein Sohn hat sich Mühe gegeben?"

„Oh, das hat er!" Yves klatschte einmal in die Hände und strahlte in die Runde. „Ich wusste nicht, dass er so furchtbar romantisch sein kann! Und ich habe auch überhaupt nicht damit gerechnet, weil er ja sonst eher ..."

Ich wandte mich von meinen Eltern ab und betrachtete Yves' linke Hand, seinen Ringfinger, auf dem ein filigraner Ring in Weißgold mit eingearbeiteten Brillanten schimmerte, der mich an die vierzehntausend Euro gekostet hatte. Das alles bloß, um dieser Scharade Authentizität zu verleihen.

Ich verzog keine Miene, spießte einen Pilz auf meine Gabel und ignorierte die Ungeduld, die in meiner Brust Wurzeln spross.

Spätestens morgen Mittag würde er in der Retour landen.


Meine Eltern und Yves dominierten das Essen über jegliche Gespräche am Tisch. Ich verhielt mich ruhig, nicht gewillt, sichere Themenbereiche durch mein Einschreiten zu verzerren. Sollten die drei ruhig weiter über unwichtigen Smalltalk spekulieren.

Leider zog ich die Aufmerksamkeit dennoch auf mich, als mein Smartphone sich in meiner Hosentasche vibrierend zu Wort meldete. Ich wäre gewillt gewesen, den Anruf zu ignorieren, hätte auf ihn nicht ein weiterer gefolgt, hätte ich mit einem flüchtigen Blick auf das Display nicht Augusts Namen gelesen – und da er den Tag über für Judah zuständig war, konnte dies nichts Gutes verheißen.

„Bitte entschuldigt mich für einen Moment", sagte ich und erhob mich. „Ich muss ein geschäftliches Telefonat führen."

„Und dieses Telefonat kann nicht warten?" Meine Mutter kräuselte missbilligend die Nase.

„Ich werde mich kurz halten." Damit entfernte ich mich von meiner Familie und lief die Treppen hinauf, bevor ich mich in meinem Schlafzimmer verbarrikadierte.

„Was ist passiert?", nahm ich noch mit den Fingern am Schlüssel ab und spürte, wie mein Körper sich automatisch anspannte.

Bis ich Judahs fröhliche Stimme am anderen Ende hörte: „Sie sprechen mit Ihrem BBF – Best Brother Forever. Wählen Sie die Eins, wenn Sie über kleine Miststücke sprechen möchten, und die Zwei, wenn Sie sich anhören möchten, wie das Praktikum bei August lief." Glucksen ertönte. „Ich persönlich würde zuerst die Zwei empfehlen."

Ich schloss meine Lider und drückte mir mit der freien Hand fest gegen den Nasenrücken. Irgendwann würde er mich mit seinen Allüren unter die Erde bringen. „Hast du absichtlich von Augusts Handy aus angerufen, damit ich dir schneller antworte?"

„Was unterstellst du mir?" Er atmete gespielt empört ein, gefolgt von einem unterdrückten Lachen. „Mein Akku ist halt leer."

„Das ist eine Lüge." August im Hintergrund, umschmeichelt von Verkehrslärm.

Ich seufzte und ergab mich meinem Schicksal, zumal er neue Informationen bezüglich Yves zu haben schien und ich diese nicht erhalten würde, ging ich nicht auf sein infantiles Spiel ein. „Ich bevorzuge die Eins", meinte ich daher.

Laaangweilig." Er ächzte. „Die Zwei ist viel lustiger. Du wirst nicht glauben, was-"

„Es interessiert mich nicht, mit welcher Praktikantin oder welchem Praktikanten du dich in der nächstbesten Abstellkammer vergnügt hast, welche Designs du aus Versehen gelöscht hast oder mit welchen Ideen du August sonst noch auf den Geist gegangen bist", unterbrach ich ihn. „Ich. Wähle. Die. Eins."

„Da hat aber jemand schlechte Laune. Muss an Mama und Papa liegen." Ich sah vor mir, wie Judah demonstrativ die Augen verdrehte. „Aber gut, kommen wir zu Yves." Es raschelte einen Moment lang. „Seine Stecher haben sich synchron bei mir gemeldet, nachdem ich ihnen vor ... uh, waren es zwei Wochen? Egal. Jedenfalls habe ich sie kontaktiert, als Yves gerade bei dir angefangen hat, und heute früh haben sie mir geantwortet. Scheinbar sind die zwei über ihr Ehe-Trauma hinweg Freunde geworden." Er schnaufte. „Jedenfalls haben wir spontan ein Dreierdate ausgemacht – das heißt, ein Viererdate, weil mein Babysitter mich nicht allein hinfahren lassen wollte."

„Und?"

„Und ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht."

Ich blickte zur Tür. Yves und meine Eltern waren unbeaufsichtigt. „Die da wären?"

„Die gute Nachricht zuerst." Er räusperte sich theatralisch. „Yves ist körperlich vollkommen ungefährlich. Jakob hat mir im Gegenteil sogar gesteckt, dass das kleine Miststück wohl ein ziemlicher Masochist ist. Außerdem habe ich auch sonst nirgendwo Aufzeichnungen darüber gefunden, dass er jemals polizeilich irgendwie negativ aufgefallen wäre. In der Schule war er sogar ein Einserkandidat. Genauso ein Streber wie du. Und damit offensichtlich kein Analphabet."

Das waren tatsächlich Dinge, die mir zum Teil bereits bewusst geworden waren oder die ich zumindest geahnt hatte.

„Und die schlechte Nachricht?"

Es raschelte erneut, dann Knistern und gedämpftes Schmatzen. Als würde er naschen.

„Was isst du da?", fragte ich argwöhnisch.

„Oh, nichts. Studentenfutter."

Ich drückte härter gegen meinen Nasenrücken. „Du hasst alle Arten von Nüssen und Rosinen. Lügst du vorsätzlich derart schlecht, um mich aufzuregen?"

„Wer weiß?" Er säuselte die Worte. „Ich esse Schokolade von der Tanke, und niemand kann mich aufhalten, weil August fährt und sich deswegen konzentrieren muss, und du nicht bei uns bist."

Ha." Ich atmete laut aus. Damit – mit seiner Quengelei, wenn die Magenkrämpfe begannen – würde ich mich nachher beschäftigen. „Was ist jetzt also die schlechte Nachricht?"

Schlucken, dann ein Geräusch, das ich nicht erkennen sollte, es aber tat, weil Judah ein verfluchtes Schwein war. Er leckte sich gerade die Finger sauber, nachdem er alles Mögliche angefasst hatte. „Mh", machte er. „Die beiden Ehen waren unfreiwillig – womit ich nicht von Yves' Seite rede, sondern von der seiner Ehemänner."

„Bitte?"

„Sowohl Jakob als auch Florian haben mir erzählt, wie Yves sich langsam in ihre Leben geschummelt und dabei wohl heimlich herumgeschnüffelt hat, weil er nach ein paar wenigen Wochen jeweils ziemlich viel erpressungswürdiges Material parat hatte. Und mithilfe dieses Materials wurden die beiden schließlich dazu gezwungen, ihn zu heiraten, ansonsten hätte er die Beweise der Polizei ausgehändigt. Und nach der Hochzeit hat er dann gemächlich ihre Konten geleert, bis ihm das zu langweilig wurde und er sich wieder hat scheiden lassen. Aber er zwackt wohl nach Lust und Laune immer noch ab und zu an ihnen herum, wenn er ein bisschen Extra-Taschengeld braucht."

Das war keine schlechte Nachricht, das war eine miserable. Judah und ich besaßen mehr als nur eine Handvoll erpressungswürdige Geheimnisse.

„Was", fragte ich gepresst, „bedeutet das für uns?"

„Mach dir nicht gleich ins Höschen, wir befinden uns nicht in einer akuten Notlage. Allerdings", er schluckte laut, „könnten wir schon ziemlich bald in eine reinrutschen. Zwar haben wir bezüglich Maxi nichts zu befürchten – immerhin konnte nicht mal die Polizei uns etwas nachweisen –, aber Mama und Papa werden aufgrund ihres Besuches vermutlich irgendwann mal in deiner Nähe zu sehen sein. Wenn wir Pech haben, wird Yves es auf sie absehen, und wenn man Florians und Jakobs Geschichten Glauben schenken darf, wird er alles tun, um zu bekommen, was er will. Da sehe ich es nicht als unwahrscheinlich an, dass er es schafft, von dem Garagen-Vorfall und dem Video zu erfahren. Und wenn das passiert, sind wir am Arsch, womit ich meine, dass ich vermutlich im Knast lande, weil er mich nicht ausstehen kann, und du und die Kinder obdachlos werden, weil das Miststück dich melken wird, bis nichts mehr übrig ist."

In mir kam das ungute Gefühl auf, einen erheblichen Fehler damit begannen zu haben, Judah gestern Nacht nicht über die Situation mit Yves und unseren Eltern unterrichtet zu haben.

„Im Klartext heißt das", fuhr er fort, „dass wir keine Zeit mehr für irgendwelche Rachepläne oder ausgefallene Sex-Sessions haben. Ich will lieber kein Risiko eingehen – dazu scheint er mir zu viel Talent darin zu besitzen, seine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken und sie zu seinen Gunsten auszunutzen. Fast so wie ich."

Ich spürte, wie mir kalt wurde, und stakste zu meinem Bett, ließ mich darauf sinken, obwohl ich Straßenkleidung trug. „Und wenn es bereits zu spät dafür wäre?"

„Was meinst du?" Judah horchte auf. „Wofür sollte es bereits zu spät sein?"

„Für Präventionsmaßnahmen. Yves", ich starrte auf meinen linken Ärmel. Am oberen Rand befand sich ein hellrosa Schimmer. Lippenstift, „befindet sich in diesem Moment mit unseren Eltern in meiner Küche. Und der Vorfall in der Garage kam zumindest angedeutet zur Sprache."

Stille, eine recht ausgiebige Stille, ehe Judah wieder zu sprechen begann, in einer Tonlage, die mir unmissverständlich verdeutlichte, dass er nicht sonderlich amüsiert über meine Offenbarung war: „Willst du mir gerade ernsthaft weismachen, dass du Yves zu dir nach Hause eingeladen und unseren Eltern vorgestellt hast?"

Ich rieb grob über den Fleck. Er hatte sich längst in den Stoff eingewebt. „Es kam zu ... unerwarteten Ereignissen. Es lag nicht in meiner Intention, dies zu tun."

„Was für unerwartete Ereignisse bitte?" Er stöhnte entnervt. „Immer hältst du mir vor, ich würde verantwortungslos handeln, aber wenigstens sorge ich nicht dafür, dass du in den Knast kommst oder wir unser gesamtes Vermögen verlieren!"

Ich presste meine Lippen aufeinander, fühlte mich dezent angegriffen, zumal mir sprichwörtlich nie Unschicklichkeiten widerfuhren, und ich sonst derjenige war, der ihm aus der Bredouille helfen musste. „Ach, tust du nicht? Muss ich dich daran erinnern, dass wir überhaupt niemals in dieser Situation wären, hättest du Vaters Auto damals nicht manipuliert?"

„Wobei du zu vergessen scheinst", mittlerweile klang er stinkwütend, „dass ich nie versucht hätte, ihnen etwas anzutun, wenn du nicht darauf bestanden hättest, halb auszuwandern. Ich wollte dort bleiben, aber du warst der Meinung, wir müssten unbedingt hunderte Kilometer Abstand zwischen uns und Mama und Papa schaffen, also hast du mir gar keine andere Wahl gelassen!"

Ich hätte mich sehr wohl damit zufriedengeben können, lediglich in den nächsten Ort zu ziehen, wenn nicht ausgerechnet Efraim der Grund dafür gewesen wäre, dass Judah hatte bleiben wollen.

Ich knackte mit den Kiefergelenken. „Alle Unannehmlichkeiten, jede einzelne, würde ich mit Freude wieder auf mich nehmen, nur um sicherzugehen, dass ihr für immer getrennt voneinander seid."

Aufgelegt.

Ich nahm mein Handy vom Ohr und starrte auf den Bildschirm.

Hatte er mich gerade etwa tatsächlich-

Er rief zurück.

„Ich bin angepisst", murmelte er, kaum hatte ich das Telefonat angenommen, „aber hier geht es gerade um Wichtigeres, also lass uns später fertig streiten."

„Einverstanden." Ich strich mit meiner freien Hand die Vorderseite meines Hemdes glatt. Beinahe obsessiv. „Wie gehen wir nun vor?"

„Da ich schwer hoffe, dass du nicht vor allen anderen mit mir telefonierst", er schnaubte, „wirst du gleich sofort zurück zu Yves gehen und dafür sorgen, dass er schön bei dir bleibt. Du wirst ihn keine Sekunde lang aus den Augen lassen, bis ich da bin, hörst du? Wenn es sein muss, begleitest du ihn sogar auf die Toilette – egal für welches Geschäft."

Ich runzelte die Stirn, überhörte den letzten Kommentar. „Sollte ich ihn nicht lieber gleich loswerden? Nach dem, was du erzählt hast, erscheint es mir nicht sonderlich klug, ihn weiter in der Nähe unserer Eltern zu belassen."

„Genau!" Judah lachte. Ausgesprochen verächtlich. „Schick ihn weg, damit er in Ruhe nachforschen kann, was ich damals angestellt habe – falls er unser Gespräch und deine Abwesenheit gerade nicht schon genau dafür ausnutzt. Super Plan. Willst du ihm vielleicht auch gleich die Sache mit Maxi beichten, bevor er geht? Und ihm Valentinos Ex vorstellen? Nur zur Vollständigkeit."

„Dein Sarkasmus ist unangebracht", sagte ich und rieb mir über linke Schläfe. „Wann kann ich ungefähr mit dir rechnen?"

Er seufzte. „Ich brauche noch gute zwei Stunden nach Hause und danach muss ich den Keller vorbereiten. Ich habe nicht damit gerechnet, ihn schon heute einsetzen zu müssen. Sobald ich fertig bin, melde ich mich bei dir."

„Und danach? Wie planst du, Yves in deinen Keller zu entführen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen?"

„Indem du dafür sorgst, dass er in meinen Wagen steigt. Ich stelle ihn direkt vor deinem Haus ab und parke dafür dein Auto um, damit dort nicht zwei herumstehen."

Ich fädelte den obersten Knopf an meinem Kragen wieder durch das passende Loch. „Weshalb dein Wagen?"

„Weil meiner getönte Scheiben hat und ich gedenke, auf der Rückbank auf euch zu warten, um mich während der Fahrt ganz nett mit ihm unterhalten zu können. Wenn er mich aber vor dem Einsteigen schon sieht, würde es doch die Überraschung verderben, oder nicht?"

Das ergab Sinn, zumal wir das gleiche Modell fuhren und ich nicht erwartete, dass Yves sich das Auto allzu genau angesehen hatte. Jedenfalls hoffte ich das.

„Verstehe." Ich zögerte kurz, spürte, wie meine Muskeln sich erneut verkrampfen wollten, und resignierte. Ich mochtes es nicht, wenn etwas zwischen uns stand. Vor allem nicht, wenn Zusammenarbeit gefragt war. „Dass es hierzu kommt, wollte ich nicht. Ich würde uns – dich – niemals absichtlich in Gefahr bringen."

„Das weiß ich." Judahs Stimme wurde wieder sanfter, verlor ihre Schärfe. „Ich werde mich um die Drecksarbeit kümmern, wie ich es immer tue. Also tu du im Gegenzug ausnahmsweise einmal, was ich dir sage."

„In Ordnung."

„Gut. Und Josias?"

„Was?"

Inget kan skilja oss från varandra." Ein Friedensangebot in perfektem, grammatikalisch korrektem Schwedisch. „Ich habe mich für dich entschieden."

Das hatte er – aber ich würde niemals erfahren, ob ich die Wahl verloren hätte, wäre ihm die Wahrheit bewusst gewesen, die Tatsachen, die ich seit über zehn Jahren vor ihm unter Verschluss hielt.

Ich atmete langsam aus. „Vi är ett. Jag kan inte leva utan dig."

„Dito", antwortete er. „Jetzt geh zurück zu Yves, bevor Mama und Papa noch mehr Mist ausplaudern. Wir sehen uns später."

Damit legten wir auf, ich entriegelte die Zimmertür und setzte Judahs Anweisungen in die Tat um.



Hier die Übersetzung von dem, was Judah und Josias sich hoffentlich tatsächlich in grammatikalisch korrektem Schwedisch sagen:

Inget kan skilja oss från varandra. = Nichts kann uns voneinander trennen.
Vi är ett. Jag kan inte leva utan dig. = Wir sind eins. Ich kann ohne dich nicht leben.


Und falls jemand sich aus irgendwelchen Gründen fragen sollte, wie in etwa ich mir Yves vorstelle – das wäre die Antwort:

*Bilder KI-generiert durch Canva c:

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