Mitarbeiterbindung
Rein objektiv betrachtet, wäre es möglich, den Kindern zu erklären, dass Yves nur meine Freundin spielte, damit meine Eltern beziehungsweise ihre Großeltern mich in Frieden ließen. Mein Erfahrungswissen allerdings hatte mir mehr als nur einmal verdeutlicht, dass sie sich unter Stress oder bei jedweder Ablenkung versehentlich verplappern konnten.
Die Entscheidung für eine Lüge oder die Wahrheit fiel mir demnach nicht schwer.
„Also werdet ihr heiraten?" Ares klebte an mir und zupfte ununterbrochen an meinem Hemd herum. Er war viel zu wach für diese Uhrzeit. Wir hatten ein Uhr morgens. „So richtig? So, dass er dann bei uns wohnt und mit uns und Onkel Jude und Onkel Val und Fast-Onkel August zusammen in den Urlaub fährt?"
„Ja." Ich nickte. „Aber Ihr werdet Yves nicht als Mann ansprechen. Wenn euch jemand fragt, ist er eine Frau."
„Warum denn?" Delilah saß auf Ares' Bettkante und schwang die Beine vor und zurück. „Mag er nicht mehr ein Junge sein?"
„Nein, das ist es nicht." Ich wartete, bis sie mich ansah. „Oma und Opa finden es schlicht nicht gut, wenn zwei Männer sich mögen. Sollten sie davon erfahren, dürfen Yves und ich einander nicht mehr sehen, deswegen ist es wichtig, dass sein Geschlecht ein Geheimnis bleibt."
„Aber dann lügen wir doch." Theresa hatte die Knie an die Brust gezogen, nah an Delilah gedrängt. „Und du hast gesagt, wir dürfen nicht lügen."
„Wir dürfen Papa nicht anlügen." Ares verdrehte die Augen. Mittlerweile hatte er von meinem Hemd abgelassen und rüttelte dafür an meinem linken Arm herum. „Für Papa dürfen wir lügen." Er blickte zu mir auf. „Ich hab recht, oder? Wie damals, als das Jugendamt hier war, da haben wir auch für dich gelogen."
„Richtig." Ich fuhr ihm über den Schopf. „Ich möchte, dass ihr für mich lügt. Könnt ihr das?"
Die Mädchen nickten langsam, während Ares sich auf einen meiner Füße stellte.
„Darf ich in der Schule rumerzählen, dass ich eine Mama bekomme?", fragte er. Mehrmals und sehr nachdrücklich.
Ich schob ihn wieder von meinem Fuß runter. „Das darfst du erst nach der Hochzeit." Die niemals stattfinden würde, aber um die Konsequenzen, die es mit sich bringen würde, wenn er davon erfuhr, würde ich mich kümmern, wenn es so weit war – und nach ein paar Wochen würde er das alles eh wieder vergessen haben und sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass Yves jemals in sein Leben getreten war.
„Aber danach darf ich es erzählen?" Er huschte auf meine andere Seite. „Darf ich?"
Als ich nickte, raste er einmal um mich herum und blieb schließlich bei seinem Schreibtisch stehen, riss die einzelnen Schubladen darunter auf.
„Ich male ihm ein Bild als Geschenk!" Er holte einen Block aus einer der Schubladen, setzte sich auf seinen dunkelblauen Drehstuhl und zog danach seinen Schulranzen unter dem Schreibtisch hervor. „Ihr, meine ich. Ich male ihr ein Bild."
Ich seufzte leise und ging auf ihn zu, nahm ihm seinen Schulranzen ab und stellte ihn beiseite, bevor er sein Mäppchen herausholen konnte. „Du wirst jetzt kein Bild malen, du wirst schlafen gehen. Morgen ist Schule."
Er überlegte kurz, als wüsste er nicht, ob er lieber brav oder unartig sein wollte, bevor er zurück auf die Beine sprang und in sein Bett huschte. „Okay, ich gehe schlafen!"
Wenn er etwas wollte, konnte er erstaunlich wohlerzogen sein.
Ich schnaubte und nahm die Mädchen bei den Händen. „Ihr auch. Schlafenszeit."
Beide krallten sich an mir fest, Theresa ein wenig mehr als ihre Schwester. „Papa?" Sie zögerte, wollte mich nicht loslassen, auch dann nicht, als wir ihr Zimmer erreicht hatten, im Gegensatz zu Delilah, die längst unter ihre Decke gekrochen war.
Ich musterte sie. Ihre Augen schienen leicht gerötet, als wäre sie kurz davor zu weinen. „Ich höre?"
„Ich brauche kein eigenes Zimmer. Ich kann bei Deli schlafen bleiben."
Ich lüpfte eine Braue. „Du möchtest kein eigenes Zimmer haben? Ich wollte dieses Wochenende deine neuen Möbel bestellen." Das hieß, ich würde einen Innenausstatter anheuern, der sich darum kümmerte, den Raum ordentlich auszumessen und passende Einrichtungsgegenstände zu besorgen. Und der sicherstellte, dass besagte Einrichtungsgegenstände ebenfalls aufgebaut wurden. Meine Begabungen lagen nicht im handwerklichen Bereich.
Aber sie schüttelte bloß den Kopf. „Yves kann das Zimmer haben. Ich brauche es nicht."
Natürlich. Judah hatte das Mädchen mit mehr Verlustängsten gesegnet als mit motorischen Fähigkeiten.
„Yves wird kein eigenes Zimmer brauchen. Und du", ich drückte ihr einen Kuss auf das Haupt, wie ich es auch bei Delilah tat, wenn sie besorgt war, „wirst hierbleiben. Bei mir. Weil du meine Tochter bist. Hast du das verstanden?"
Sie schob sich enger an mich heran. „Und wenn Yves mich nicht mag und mich wegschicken will?"
„Ihr gehört mir, ihr seid meine Kinder, alle drei von euch. Daran wird sich nichts ändern."
Sie umklammerte meine Hand noch etwas kräftiger. „Versprochen?"
Ich hob sie hoch an meine Brust und trug sie die letzten Schritte zu ihrem Bett hin. „Versprochen."
Selbst nachdem die Kinder eingeschlafen waren, gab es keine Minute körperlicher Erholung für mich. Meine Eltern hatten inakzeptable Verwüstung in die Planung meiner nächsten zwei Wochen gebracht, die ich nun wieder in Ordnung bringen musste.
Und an erster Stelle stand ein Gespräch mit Judah an.
Ich wischte mir über das Gesicht und zückte mein Handy.
Es klingelte keine zwei Mal, bis er abnahm. „Unsere Zwillingstelepathie funktioniert wie immer einwandfrei. Ich habe gerade an dich gedacht – wie lief es mit Yves? Ich war so frei und habe die Kameras und Mikrofone in seiner Wohnung deaktiviert, um mich nicht selbst zu traumatisieren."
„Sehr großzügig von dir."
„Nicht wahr?" Er lachte, deutlich amüsiert, wäre da nicht der leicht gehetzte Unterton in seiner Stimme. „Also, war er es wert oder ...?"
„Judah." Ich sah aus dem Fenster der Küche, in die ich mich verzogen hatte, um meine Eltern durch das Telefonat nicht aufzuwecken, und starrte auf den Gehweg vor meinem Haus. Man erkannte jeden Stein auf dem Boden bis hin zur Haustür meines Nachbarn gegenüber. Gute Gegenden waren entsprechend beleuchtet, um die Kriminalitätsrate gering zu halten. „Wo sind Valentino und August?"
„Warum wechselst du das Thema?" Es raschelte am Ende der anderen Leitung. „Etwa weil du doch gekniffen hast?"
„Das ist momentan nicht von Belang." Ich trat wieder vom Fenster weg, wandte mich der Tür zum Flur zu. „Bist du allein?"
„Allein." Er brummte, während im Hintergrund etwas knallte. Ein Korken. „Ich bin immer noch in Vals Apartment, falls du das meinst."
Ich riss die Tür auf und holte mir ein paar Schuhe aus der Kommode neben der Eingangstür. „Was war das eben?"
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst." Ein Klirren gesellte sich dazu, dann das Geräusch von Flüssigkeiten, die aufeinandertrafen. „Aber mal was anderes – du meintest, du holst mich ab, sobald du im Lokal fertig bist. Wann kann ich ungefähr mit dir rechnen?"
Eigentlich gar nicht. Eigentlich musste ich zuhause bleiben und die Interaktionen zwischen meinen Kindern und Eltern auf einem Minimum halten, musste aufpassen, dass sie keinen Zugriff zu meinen privaten Unterlagen erhielten – aber Judah war wichtiger. Das war er immer.
„Du bleibst am Telefon", zischte ich. „Und ich will nicht hören, wie du auch nur einen Schluck von irgendetwas trinkst."
„Heißt das, du bist schon auf dem Weg?"
„Ja." Ich zögerte nicht, fischte nach meinen Autoschlüsseln, die sich immer noch in meiner Hosentasche befanden, weil ich bislang keine Zeit gefunden hatte, mich umzuziehen, und verließ mein Haus.
„Gut." Judahs Stimme wurde leiser. Ein äußerst schlechtes Zeichen. „Josie?"
„Was?" Ich rutschte hinter den Fahrersitz meines Wagens, startete den Motor.
„Beeil dich."
Ich entdeckte Judah unter den Treppen zum Obergeschoss, dort, wo Valentino in einem kleinen Stauraum seine Weinsammlung aufbewahrte. Die Tür zum Raum stand offen, das Schloss hing quer in den Angeln, offensichtlich aufgebrochen.
Erst versetzten mich meine Eltern zurück in die Vergangenheit und nun zusätzlich mein eigener Bruder.
„Judah?" Ich ging neben ihm in die Knie, hob sein Gesicht an. Seine Augen wirkten glasig, er hielt eine entkorkte Flasche Wein in der Hand, aus der er mindestens schon ein paar sehr große Schlucke genommen hatte, daneben lag eine leere.
„Ich war schwach." Er sprach erstaunlich kohärent dafür, dass er bestimmt um die zwei Promille intus haben musste.
„Das sehe ich." Ich blieb ruhig. Anschuldigungen brachten in seinem Zustand nichts, würden ihn nur bockig werden lassen. „Komm, ich bringe dich zum Sofa, dort kannst du deinen Rausch ausschlafen."
„Zuerst duschen." Er stellte die halbvolle Flasche beiseite und krallte sich an meinen Schultern fest, um sich umständlich zurück auf die Beine zu hieven. „Sonst gehst du wieder. Wegen deiner Keimphobie."
„Es ist keine Phobie, es ist eine Abneigung. Darin besteht ein Unterschied." Ich schlang einen Arm um seine Hüften, kaum standen wir beide mehr oder minder aufrecht, und drängte ihn zu den Treppen hin.
Er ging nicht weiter darauf ein – besorgniserregend, wenn man bedachte, wie sehr er es sonst genoss, mich zur Weißglut zu treiben – und konzentrierte sich darauf, seine Füße nacheinander auf die einzelnen Stufen zu setzen, während er sich an mir abstützte. Weiteraus mehr, als es nötig gewesen wäre. Oder die jahrelange Abstinenz hatte seine Toleranzgrenze etwas herabgesenkt.
„Benötigst du Hilfe im Bad?"
Wir erreichten den Treppenabsatz, er stoppte, hob wortlos beide Brauen und stolperte dann weiter. Ich bewertete die Reaktion als Zustimmung und führte ihn durch den offenen Bereich des Obergeschosses, der aus einem abgegrenzten Bad und ansonsten lediglich aus einem einzigen, weitläufigen Raum bestand, an dessen linker Wand Valentino und August eng umschlungen auf ihrem mittlerweile gemeinsamen Kingsize-Bett nächtigten, umgeben von einer unangemessen hohen Anzahl an plüschigen Kissen. Eine Decke fehlte und ich sah mehr Haut, als erwünscht.
„So dämlich", Judah wedelte in ihre Richtung, „sahen Efraim und ich zusammen auch aus. Er war viiiel zu groß."
Ich spannte mich an, bevor ich das flaue Gefühl wieder abstreifte und ihn die letzten Meter zum Bad schleifte. Es war ähnlich wie Valentinos restliches Apartment mit etlichen Dekorationsartikel zugemüllt, dafür allerdings sehr reinlich gehalten. Nur ein paar Kalkrückstände und eingetrocknete Wasserspritzer schmückten den viereckigen, rundherum mit Glühbirnen eingerahmten Spiegel über dem Waschbecken und die gläsernen Türen der ebenerdigen Dusche. „Du solltest dich freuen, dass er sich in Gewahrsam befindet." Ich busgierte Judah direkt vor sie und verriegelte anschließend die Badezimmertür hinter uns. „Du warst sozial derart inkompetent, du hast nicht einmal gemerkt, wie sehr er dich manipuliert hat." Wie sehr er versucht hatte, Judah an sich zu reißen. Ihn sich zu eigen zu machen.
Dabei gehörten wir ausschließlich einander. Niemandem sonst.
„Hat er gar nicht." Judah griff nach dem Knopf am Bund seiner Jeans und fummelte an ihm herum. „Er hat mich sozio-sozialisatio-", er schwankte, „sozialisiert."
Ich wischte seine Hände beiseite und löste den Kopf selbst, öffnete den Reißverschluss und schob ihm letztlich die Jeans bis zu den Knöcheln runter. „Und ich habe dich nicht sozialisiert?"
„Mit dir hat es keinen Spaß gemacht." Er schüttelte die Hose von seinen Füßen, kippte dabei fast um, und zerrte sich im Anschluss sein T-Shirt über den Kopf, ehe er noch in seiner Boxershorts in die Dusche torkelte. Und mit Socken. „Du hattest keine Geduld mit mir. Immer nur schnell, schnell, schnell."
Ich seufzte, weil ich natürlich keine Geduld gehabt hatte, wenn er bei jedem Fehler direkt mit körperlicher Misshandlung hatte rechnen müssen. Ich hatte keine Geduld gehabt, um ihn davor zu schützen, aber das hatte er noch nie verstanden. Erst recht nicht unter Alkoholeinfluss. „Planst du, in Shorts und Socken zu duschen?"
„Was?" Er schaute an sich herab. „Oh."
Ich verdrehte die Augen und beobachtete ihn, während er sich abmühte, den Rest seiner Kleidung loszuwerden, bevor er sie sichtlich überfordert auf die Fliesen vor der Dusche schmiss und den Wasserhahn voll aufdrehte. Unfallfrei. Erstaunlicherweise.
Ich wartete noch kurz, ob er auch ohne Instruktionen darauf kam, sich ordentlich einzuseifen, statt einfach nur bewegungslos unter dem Strahl stehenzubleiben, und nahm anschließend auf dem Rand der dreieckigen zwei-Personen-Badewanne Platz, die links gegenüber der Dusche eingebaut worden war. Jetzt würde der unangenehme Teil folgen.
„Ich muss dir etwas mitteilen." Weil es besser war, wenn er es von mir erfuhr als von einer seiner unzähligen Kameras und Mikrofone, die er in meiner alltäglichen Umgebung versteck hatte.
„Heute nur noch gute Nachrichten." Er spülte sich das letzte bisschen Schaum vom Körper und trat schließlich aus der Dusche, verteilte Pfützen, als er begann, die verschiedenen Schränke zwischen Badewanne, Dusche und Waschbecken nach einem Handtuch zu durchforsten.
Nach vier Minuten fand er eines mit Herzmuster.
Ich stützte meine Ellbogen auf den Knien ab und verschränkte die Hände vor der Brust, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet. „Mutter und Vater sind unangekündigt angereist und haben sich bei mir zuhause einquartiert."
„Das sind aber keine guten Nachrichten." Er hielt inne, das Handtuch locker um die Hüften gewickelt, sein Haar noch tropfnass, während er den Kopf zu mir drehte, sehr langsam. „Für wie lange?"
„Zwei Wochen."
„Das geht nicht. Sie müssen früher weg. Ich werde nicht zwei Wochen lang in meinem eigenen Bett schlafen. Vor allem nicht, wenn ich dich gerade brauche. Vergiss es."
Ich schloss kurz die Lider. „Judah-"
„Nix da Judah. Wir sind keine Kinder mehr, wir müssen nicht auf sie hören."
„Doch, das müssen wir." Ich erhob mich und packte ihn an den Schultern, zog ihn zu mir runter, drückte meine Stirn gegen seine und spürte den einzelnen Tropfen nach, die von seinen Haarsträhnen aus über meine Schläfen flossen. „Und du bist schuld daran."
„Ich?" Er grapschte nach meinen Unterarmen. Sein Atem roch süßlich, Früchte und Ethanol, während der Nebel vor seinen Augen sich mit einem Schlag lichtete, als hätte die bloße Erwähnung unserer Eltern jeglichen Alkoholgehalt aus seinem System gefiltert. „Was habe ich denn bitte gemacht?"
Ich hob beide Brauen. „Du hast die Bremsschläuche an ihrem Wagen durchtrennt. Und dich dabei von der Überwachungskamera in der Garage filmen lassen."
Er ahmte meinen Gesichtsausdruck nach. „Aber sie leben noch, oder nicht?"
„Im Gegensatz zu Vaters damaliger Affäre."
„Hätte ja keiner ahnen können, dass sie ausgerechnet an dem Tag vorbeikommt, um sich den Wagen auszuleihen." Er brach den Blickkontakt ab, schnitt eine Fratze. „Außerdem – muss ich dich daran erinnern, wieso wir beim Mittagessen immer unsere Gläser und Teller miteinander tauschen mussten? Mama hat mit alldem angefangen."
„Mit dem Unterschied, dass wir für ihre Taten keinerlei Beweise haben, während Vater Sicherheitskopien an alle möglichen Personen versendet hat, um zu gewährleisten, dass er dich jederzeit wegsperren lassen kann. Nur mir hast du es zu verdanken, dass du frei bist, weil ich ihn auf Knien angefleht habe, dich mir nicht wegzunehmen, und ich hasse es, mich vor anderen erniedrigen zu müssen." Ich grub meine Finger in seine Schultern. „Also wirst du dich gefälligst benehmen, ist das klar?"
„Ja, ja, ja." Er winkte ab. „Jetzt hör auf, dich mit mir zu streiten. Ich bin müde und betrunken."
Ich löste meinen Griff, richtete mich auf und trat an ihm vorbei in Richtung der Dusche. „Geh und such uns aus Valentinos Schrank frische Kleidung heraus. Ich treffe dich unten im Wohnzimmer, sobald ich mich gewaschen habe."
Judah saß aufrecht auf dem großen Ecksofa im Wohnzimmer, das vermutlich zuvor bereits von Valentino oder August in ein Bett umfunktioniert worden war.
„Wenn ich mich hinlege, wird mir schwindelig", verkündete er, kaum betrat ich sein Sichtfeld.
„Überrascht dich das?" Ich griff nach dem Pyjama, den er für mich am Fußende bereitgestellt hatte, und tauschte ihn gegen mein ebenfalls beherztes Handtuch aus.
„Früher habe ich größere Mengen vertragen." Er klopfte neben sich auf das Sofa. „Du bist viel zu weit von mir entfernt."
Man sollte meinen, eine Person wie er würde unter Alkoholeinfluss gewalttätig werden, aber das genaue Gegenteil war der Fall – er wurde auf eine nervige Art anhänglich wie ein kränkliches Kind, das verhätschelt werden wollte.
Ich knöpfte mir mein Oberteil zu und kam seiner Bitte nach, weil er sonst keine Ruhe geben würde. Danach dauerte es keine volle Sekunde, bis er zu mir aufrückte, seine Wange an meine Schulter schmiegte und die Augen schloss.
„Du hast mir noch nicht erzählt, wie es mit Yves lief", murmelte er.
„Ich dachte, du wolltest heute keine weiteren schlechten Nachrichten mehr hören."
„So schlimm?" Er gluckste. Es klang, als würde er bald einschlafen. Oder sich um seinen Mageninhalt erleichtern. Idealerweise ersteres. „Hattest du vor lauter Vorfreude ein Problem mit deiner Standhaftigkeit?"
Ich strich ihm über den Schopf. Das hatte ihn schon in unserer Kindheit stets erfolgreich zum Schweigen gebracht. „Nein. Ares hat mich zu Beginn unserer Session angerufen, um mich über die Ankunft unserer Eltern zu informieren, und unser Treffen damit recht abrupt beendet."
„Tja." Er ruckelte meinen Arm für seine persönliche Bequemlichkeit zurecht. „Dumm gelaufen, würde ich sagen."
„Mh." Ich zog es in Erwägung, ihn auch in die übrigen Gegebenheiten einzuweihen, allerdings wurde das Gewicht seines Schädels mit jedem verstrichenen Moment schwerer und sein Atem zunehmend gleichmäßiger, deshalb ließ ich von der Idee ab und strich ihm stattdessen ein paar wirre Strähnen aus den Augen.
Die Details konnten warten, bis er wieder stabiler war.
„Er hat bereits geschlafen, als Valentino und ich nach oben gegangen sind. Und die Tür zum Vorratsraum hatten wir mit einem doppelten Schloss gesichert." August betrachtete meinen Bruder, wie der resigniert am Küchentisch saß, vor sich ein Glas Wasser und ein Schinken-Käse-Brot. Beides unangerührt. „Ansonsten hätten wir ihn nicht alleingelassen."
Aber ich gab weder ihm noch Valentino die Schuld an der Situation – sie lag einzig bei mir. Ich hätte besser auf Judah achtgeben sollen, doch ich hatte versagt.
„Du nimmst ihn nachher mit in deine Boutique?", fragte ich und warf einen schnellen Blick auf meine Armbanduhr. Unter normalen Umständen würde ich die Kinder erst in einer Stunde wecken müssen. Heute allerdings würde ich alles etwas vorziehen, weil es nicht infrage kam, dass zeittechnisch auch nur eine Kleinigkeit schiefging, solange meine Eltern anwesend waren, um etwaige Fehler zu registrieren.
„Ich werde ihn einen meiner Praktikanten zuteilen, aber in seiner Nähe bleiben. Und sollte ihm langweilig werden, gebe ich ihm ein Tablet. Dann kann er etwas zeichnen."
„Ich kann euch hören." Judah ächzte und fasste sich an die Schläfen. „Was spricht dagegen, mich einfach hierbleiben zu lassen? Val wird sich um mich kümmern. Der macht das gerne."
„Unter keinen Umständen." Ich zog mir meine Schuhe über. Gut, dass ich noch einen Satz Alltagsbekleidung in Valentinos Schrank vorrätig gehabt hatte. „Du wirst mit August mitgehen, Ende des Gespräches."
Er murrte, widersprach aber nicht. Zumindest für eine Sache war sein Kater demnach gut.
„Dieses Mal werde ich ihn nicht aus den Augen lassen." August beugte sich zu mir vor und küsste mich auf die Wange. „Viel Erfolg mit deinen Eltern."
Ich nickte knapp und verabschiedete mich von ihm.
Hoffentlich waren sie noch nicht wach und ich hatte noch ein paar Minuten Seelenfrieden, ehe ich vor ihnen würde kuschen müssen.
Ares war normalerweise ein kontaktfreudiges Kind, aber Judah hatte es für nötig empfunden, seinen Hass gegenüber unseren Eltern offen vor ihm auszuleben, sobald die Frage nach Großeltern aufgekommen war, also war es nicht verwunderlich, dass er sich ihnen gegenüber misstrauisch zeigte. Das spielte mir in die Karten – zusätzlich zu dem Fakt, dass sie ihm ein Geschenk mitgebracht hatten, für das er keinerlei Verwendung fand.
„Danke", sagte er trotzdem artig und mimte ein höfliches, aber offensichtlich unechtes Lächeln, während er auf den Eimer voll Matchbox-Autos in seinen Händen starrte, die er schon seit circa drei Jahren nicht mehr interessant fand. Ferngesteuerte Dinge waren in Ordnung, Actionfiguren auch, Kinderkram nicht mehr länger. „Die sind echt ... cool."
„Und dir? Gefällt dir dein Geschenk?" Meine Mutter musterte Delilah. Ihr hatten sie ein Barbie-Set überreicht, mit dem sie genauso viel anfangen konnte wie Ares mit den Autos. Über einen Baukasten oder Plüschtiere hätte sie sich eher gefreut.
„Ja, danke, Oma. Danke, Opa." Unsicher schaute sie von meinen Eltern zu mir. Die beiden waren Fremde für sie und sie konnte nicht gut mit fremden Personen.
Ich nickte bestätigend, wandte meinen Blick anschließend von ihr ab und Theresa zu, die etwas verloren neben mir stand. Für sie hatten meine Eltern nichts dabei, weil sie offiziell Judahs Kind war. Sein Abkömmling, nicht meiner.
Ich hatte damit gerechnet.
„Das freut mich." Mutter lächelte und verließ das Wohnzimmer in Richtung des Flurs. „Dann können wir uns ja jetzt dem Frühstück widmen."
Vater folgte ihr, ich blieb mit den Kindern zurück, mein Augenmerk weiterhin auf Theresa, die den Kopf gesenkt hielt und mit den Händen rang.
„Hassen Oma und Opa mich?", fragte sie leise. „Hab ich was falsch gemacht?"
„Du hast nichts falsch gemacht." Ares rümpfte die Nase, bevor ich antworten konnte. „Das sind schlechte Menschen. Sie sind böse, deswegen haben sie dir kein Geschenk mitgebracht."
Womit er ausnahmsweise einmal recht hatte.
Ich beugte mich zu Theresa hinunter und wischte eine Träne fort, die ihren Augen entflohen war. „Sie hatten keinen Grund, Onkel Jude als Kind nicht zu mögen, und genauso wenig haben sie jetzt einen Grund, dich nicht zu mögen. Manche Menschen sind einfach von Natur aus widerwärtig."
Sie schniefte, schien die Erklärung allerdings zu akzeptieren. „Kann ich heute bei dir bleiben und nicht in die Schule gehen?"
Mir war bewusst, was sie mit dieser Frage bezweckte, allerdings musste ich gleich ins Lokal und Yves zur Rede stellen, und dafür konnte ich kein sechsjähriges Mädchen gebrauchen, das mir am Zipfel hing. Außerdem musste ich mich gleich im Anschluss daran recht zügig zu Judah begeben, bevor der es schaffte, sich irgendwo neuen Alkohol zu besorgen. Er konnte andere sehr geschickt dazu bringen, ihm Gefallen zu tun. Mit Sicherheit auch ahnungslose Praktikanten.
Ich richtete mich wieder auf. „Das geht nicht, und das weißt du. Schule ist wichtig."
„Wir können in den Pausen was zusammen spielen." Ares griff nach ihrem Handgelenk. „Ich kann dir auch später in der Nachmittagsbetreuung bei den Hausaufgaben helfen, wenn du zu blöd dafür bist."
Theresa rieb sich mit ihrer freien Hand grob über die Wangen. „Echt?"
„Aber nur, wenn du jetzt aufhörst, herumzuflennen. Ich hab nämlich Hunger!" Damit schleifte er Theresa hinter sich her in die Küche.
Ich sah ihnen mit gehobenen Brauen nach. Dieses Verhalten war neu. Sonst war Ares weniger hilfsbereit seinen Schwestern gegenüber. Jedoch hatte ich nicht vor, diese Anwandlung infrage zu stellen. Es war die Aufgabe älterer Geschwister, den jüngeren Beistand zu leisten, so wie es bei Judah und mir der Fall war, und es wurde langsam Zeit, dass Ares sich dieser Aufgabe annahm.
Ich lächelte zufrieden, hob Delilah auf meine Arme und ging ihnen hinterher.
Yves campierte bereits vor meinem Büro. Er war das erste, das ich sah, als ich den Bereich hinter der Bühne berat, wie er dort mit angezogenen Knien auf dem Boden hockte, in einem übergroßen, lachsfarbenen Kapuzenpullover, der ihm bis zur Mitte seiner bloßen Oberschenkel reichte – und es störte mich, dass mir seine Kleiderwahl überhaupt auffiel. Ich war nicht hier, um ihn zu begutachten, ich war hier, um ihn rügen.
Zunächst jedenfalls. Immerhin hatte ich noch immer nicht ordentlich von ihm kosten können.
„Herr Lindqvist!" Er rappelte sich sofort auf und hastete auf mich zu. „Ich kann alles erklären!"
Ich betrachtete seine Finger, die sich direkt in mein Oberteil gegraben hatten und es Falten schlagen ließen. „Dieses Hemd ist frisch gebügelt."
„Ah!" Sofort wich er wieder zurück und faltete die Hände vor der Brust. „Tut mir leid, ich ... darf ich Ihnen erklären, warum ich Ihrem Vater erzählt habe, wir wären, ähm, ein Paar?"
„Du darfst nicht, du sollst." Ich schritt an ihm vorbei, schloss mein Büro auf und deutete hinein. „Ich gebe dir zwei Minuten."
„Ja!" Er huschte an mir vorbei nach drinnen und verschwendete keine Zeit, bevor er mit seinem Redeschwall begann: „Ich wusste nicht, was los war, als Sie einfach gegangen sind." Er klebte mir an den Fersen, als ich zu meinem Schreibtisch lief, nachdem ich die Tür hinter uns zugedrückt hatte. „Ich bin Ihnen hinterher, weil ich ... weil ich mir Sorgen gemacht habe. Sie sahen plötzlich so gestresst aus, aber als ich Sie eingeholt hatte, waren da Ihre Eltern und Ihr Vater kam einfach auf mich zu und hat mich gefragt, ob Sie, also, ob Sie schwul sind. Das war seine allererste Frage, direkt nachdem er sich kurz vorgestellt hat." Er holte tief Luft. „Und dabei hat er genauso geguckt, wie mein Vater, als er mich das erste Mal in Frauenkleidern gesehen hat. Ich dachte, dass er vielleicht nichts darüber weiß oder wissen soll, deswegen hab ich ihm gesagt, dass sie Frauen mögen, aber dann wollte er wissen, was ich als Frau hier im Lokal zu suchen hatte und warum ich Ihnen hinterhergerannt bin, da hab ich Panik gekriegt, dass ich Sie irgendwie aus Versehen verraten könnte, wenn ich ihm sage, dass ich ein Mann bin, deswegen ... hab ich behauptet, dass ich Ihre Freundin wäre."
Ich schwieg einen Moment lang, ließ seinen Monolog auf mich wirken. Wäre Judah hier, würde er mir vorhalten, dass diese Geschichte an allen möglichen Ecken Lücken aufwies. Es bestand keinerlei Notwendigkeit, meine Partnerin zu mimen, meine Partnerin oder gar meine Verlobte, weil er sich sehr wohl als Mann hätte zu erkennen geben können, als mein Angestellter, der mir einfach aufgrund eines im Lokal aufgetretenen Problems nach draußen gefolgt war.
Jetzt allerdings war er meine Verlobte, die meine Eltern heute Abend zum Essen erwarteten. Von der sie das gesamte Frühstück über gesprochen hatten – vor allem darüber, dass sie mein Zuhause nicht verlassen würden, bis sie sie kennengelernt hatten.
Meine Mutter hatte mich sogar schon darüber in Kenntnis gesetzt, welche Daten ihr am besten für eine Sommerhochzeit passen würden.
Frustriert lehnte ich mich nach hinten gegen meinen Schreibtisch und winkte ihn näher zu mir. „Herkommen."
Er gehorchte augenblicklich – bloß rechnete ich nicht damit, dass er sich zu meinen Füßen hinknien und mit angezogenen Schultern auf den Boden starren würde. „Es tut mir leid, Sir. Ich verdiene es, dass Sie mich dafür bestrafen."
Zugegeben, ich war es gewohnt, dass meine Angestellten vor mir zu Kreuze krochen, wenn sie mich auf die eine oder andere Weise verärgert hatten, aber dieses Gebärden gerade erinnerte mich eher an eine Fortführung unserer unterbrochenen Session.
Und meinem Körper gefiel diese Assoziation.
Ich atmete tief ein, versuchte, den Anblick zu ignorieren, ihn und die Auswirkungen, die es auf meine primären Geschlechtsorgane hatte. „Du hast dich nicht als meine Freundin ausgegeben, sondern als meine Verlobte", sagte ich. „Welchen Grund willst du mir dafür vorsetzen?"
Er kaute auf seiner Unterlippe herum. „Ich war eigentlich noch nie richtig der Freund von irgendwem", murmelte er. „Ich war immer gleich verlobt oder verheiratet. Da ist mir das so rausgerutscht."
Es ging nur um dieses eine Treffen. Es ging nur um heute Abend, für den Rest des Aufenthaltes meiner Eltern würde ich Yves strikt von ihnen separieren, und sie in vielleicht vier oder fünf Monaten darüber informieren, dass Yves und ich kein Paar mehr wären. Aufgrund irgendeiner Tatsache, die eine Trennung befürwortete. Eine Affäre eventuell. Ein uneheliches Kind von einem anderen Mann – so wie mein Vater meine Mutter betrogen und Valentino gezeugt hatte. Nur dass Frauen aus zwanghaft arrangierten Ehen sich nicht von ihren Männern trennten. Sie taten einfach, als wäre niemals etwas passiert. Sie ignorierten das fremde Kind, das plötzlich als Jugendlicher bei ihnen lebte. Während ihre Ehemänner sich bereits mit neuen Mätressen vergnügten.
Ich wartete auf den Moment, an dem Judah mir verkündete, dass er weitere Halbgeschwister ausfindig gemacht hatte.
„Ist dir bewusst", ich schnalzte mit der Zunge, „was du mit deiner kleinen Lüge angerichtet hast?"
Yves zog die Schultern noch enger an seinen Körper, machte sich klein. „Ich ... nein, Sir, weiß ich nicht."
„Du scheinst mir generell sehr wenig darüber nachzudenken, was für Konsequenzen dein Verhalten für andere Personen mit sich bringt." Ich resignierte. „Steh auf und setz' dich an den Schreibtisch. Wir müssen uns darüber unterhalten, wie der heutige Abend ablaufen wird."
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