Bewerberauswahlverfahren


Ich schwenkte mein Whiskeyglas leicht von links nach rechts. Es war nur Saftschorle darin, Alkohol bekam mir nicht. „Ein neuer Bewerber?"

„Mhm." Valentino klang immer dezent danach, als würde er versuchen, seinen Gesprächspartnern an die Wäsche zu gehen. Sogar durch die Lautsprecher eines Smartphones. Er verbrachte definitiv zu viel Zeit mit unseren Angestellten. „Er wird dir gefallen. Hübsch, ein bisschen verbraucht, und vor allem unberührt."

„Unberührt?" Ich hob beide Brauen, obwohl er es nicht sehen konnte. Alles reine Gewohnheitssache. „Wie alt ist er?"

Ventuno."

„Hm." Ich schraubte die Lautstärke meines Handys etwas runter, um keine kleinen Replikas zu wecken. „Wie glaubhaft ist es, dass er noch Jungfrau ist? Oder sich zumindest authentisch als eine verkaufen kann?"

„Sehr glaubhaft. Lern' ihn kennen und du siehst es selbst." Unter Anbetracht der Tatsache, dass Valentino in seinen Einschätzungen für gewöhnlich recht behielt, war das äußerst interessant.

Er hatte meine ungeteilte Aufmerksamkeit. „Sprich weiter."

„Ich kenne dich einfach zu gut." Er schnurrte mir regelrecht ins Ohr. „Was, denkst du, würden einige unserer Kunden dafür zahlen, eine echte Vergine besteigen zu dürfen? Wir könnten es unter unseren Stammkunden bekanntgeben und eine Versteigerung organisieren."

Ich klopfte gegen den Rand des Glases. „Und er ist damit einverstanden?"

Einverstanden ist so ein ernstes Wort ..." Er wechselte zu diesem ausweichenden Tonfall, bei dem ich mir sicher sein konnte, dass das genaue Gegenteil des Gesagten zutraf.

„Er hat überhaupt nicht vor, sich zu prostituieren." Ich resignierte. Zwar mochten seine Einschätzungen stimmen, aber nutzlos war er nichtsdestotrotz. „Möchtest du mich darüber in Kenntnis setzen, weshalb du überhaupt erst damit anfängst, wenn er für uns augenscheinlich nicht infrage kommt?"

„Wie war es denn zu Beginn bei Leon und Silas?" Er summte für ein paar Sekunden vor sich hin, als würde er mir Bedenkzeit für eine Antwort auf seine Frage einräumen wollen. Ich gab ihm keine. „Jeder Mensch hat seinen Preis, amore, glaub mir."

„Und falls deine Vorhersage nicht eintritt?"

„Haben wir einen schicken neuen Kellner gewonnen, den wir-" Er brach ab, als im Hintergrund eine zweite Stimme auftauchte. Ich konnte nicht ausmachen, was sie sagte, aber dafür hörte ich Valentinos entnervtes Stöhnen: „Siehst du nicht, dass ich gerade beschäftigt bin?"

Wieder Gemurmel, dann Luftschnappen.

„Du hast dir was?"

Es folgte weiteres Meckern, die Worte nicht mehr zuordnungsbar, bevor das Telefonat einfach endete. Mir nichts, dir nichts, als wäre im Lokal etwas dabei, erheblich schiefzugehen.

Zeit, Schadensbegrenzung zu treiben, wo Valentino in Panik verfiel. Er hatte Glück, dass wir uns einen halben Genpool teilten und diese eine Hälfte seines Erbguts heilig war, sonst wäre ich ihm schon längst an die Gurgel gegangen.

Ächzend ließ ich mein Handy in meine Hosentasche gleiten und wollte mich gerade auf den Weg machen, als der Türknauf zu meinem Büro mich ablenkte. Indem er sich drehte.

„Papa?"

Ich schaute von der dunklen Holzverkleidung der Tür zu dem kleinen Mädchen mit den langen braunen Locken, das gerade seinen Kopf zu mir in den Raum schob. Eigentlich sollte es sich schon längst im Traumland befinden. „Verrate mir bitte, warum du um diese Uhrzeit noch wach bist, Delilah."

Sie schob die Tür ein kleines Stückchen mehr auf, bevor sie sich ganz hineinschlich, die alberne Stoffpuppe mit den kreisrunden Knopfaugen, die sie von besagtem halbem Genpool vor ein paar Monaten zum Geburtstag bekommen hatte, fest in beiden Händen. Sie rotierte regelmäßig zwischen ihr und dem weniger hässlichen Ding, das ich ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. „Ari hat mich gehauen."

Natürlich, was auch sonst? Elf Uhr nachts war schließlich die beste Uhrzeit für so einen belanglosen Mist.

Ich erhob mich und ging zu ihr hin. „Habt ihr euch gestritten?"

Sie knautschte die Puppe an ihrer Brust zusammen. „Er wollte, dass ich mit ihm Fangen spiele, aber ich wollte nicht. Da hat er mich gehauen." Sie deutete mit dem Zeigefinger auf ihre rechte Wange, und Tatsache, sie war rötlich-blau verfärbt, direkt über einer kleinen Schwellung am Jochbein.

Morgen würde mich ihre Lehrerin wieder fragen, was vorgefallen war.

Ich schnalzte mit der Zunge. „Geh zurück ins Bett. Ich komme gleich zu dir, nachdem ich mit deinem Bruder geredet habe."

Aber sie ging nicht. Stattdessen streckte sie beide Hände nach mir aus.

Mein Blick fiel auf die alte Kuckucksuhr seitlich von meinem Schreibtisch.

Ob Valentino die zehn Minuten verschwendete Zeit überlebte, ohne unsere gesamte Existenzgrundlage mit seiner stressbedingten Inkompetenz in Schutt und Asche zu legen?

„Gut", entschied ich und kniete mich kurz hin, um sie auf die Arme zu heben. Kaum getan, gruben sich ihre Finger in den Hemdkragen an meinem Nacken. Ihre Nase verschwand in der Kuhle zwischen meinem Schlüsselbein und meinem Hals. „Aber sobald du in deinem Bett liegst, wird geschlafen, verstanden?" Immerhin brauchte sie laut dem Internet circa zehn Stunden Regenerationszeit pro Nacht, um am nächsten Tag problemlos funktionieren zu können.

Sie nickte, während ich sie in ihr widerlich pinkes Kinderzimmer trug, das mein Haus ein wenig verunstaltete, im Vergleich aber mehr Vorteile als Nachteile mit sich brachte. Sozialarbeiter fanden es großartig, wenn Kinderzimmer ebenfalls kindergerecht aussahen.

„Liest du mir eine Geschichte vor?"

„Nein." Ich legte sie auf ihrer Matratze ab und zog die Decke über sie drüber. „Dafür ist es schon zu spät. Außerdem muss ich nochmal zurück auf die Arbeit." Ich strich ihr eine wirre Haarsträhne hinters Ohr. „Mach die Augen zu."

„Okay." Sie kuschelte sich tiefer in ihre Bettdecke. „Gute Nacht, Papa."

„Mhm, schlaf jetzt." Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn, wie Väter in Filmen es taten, schaltete ihr Nachtlicht an, weil sie sonst weinte, und verließ das Zimmer, um direkt das daneben anzusteuern.

Dort erwartete man mich schon.

„Sie lügt", meinte Ares. „Ich hab sie gar nicht geschlagen! Sie ist ausgerutscht und hingefallen, als wir gespielt haben!"

„Ach?" Ich schlenderte auf ihn zu, gemächlich, und stoppte keinen halben Meter von ihm entfernt, ging in die Hocke. Mit seinen acht Jahren war er älter als seine Schwester, aber viel größer war er nicht. „Bleibst du ganz sicher bei dieser Geschichte? Oder möchtest du mir nicht vielleicht doch lieber gleich die Wahrheit erzählen?"

Er presste die Lippen zusammen und wandte sich ab. Andere konnte er täuschen, mich nicht. Und das wusste er. „Sie wollte nicht mit mir spielen. Ich mag es nicht, wenn sie nein zu mir sagt. Sie ist meine Schwester, also muss sie tun, was ich ihr sage!"

Solch ein übermäßiges Ego in solch einem winzigen Körper. Hoffentlich wuchs er endlich, damit sich das besser verteilte.

„Genauso wie ich es nicht mag, wenn du unartig bist." Ich beugte mich näher zu ihm vor, drehte sein Gesicht in meine Richtung. „Weißt du, was passiert, wenn du unartig bist?"

Ja-ha." Er sah nicht eingeschüchtert aus, wie Delilah es manchmal tat, wenn ich strenger wurde. Alles an ihm strahlte bloß absoluten Unwillen aus. „Ich darf wieder in die stille Ecke."

„Und willst du das?"

Pfft." Er motzte. Im Moment befand er sich in einer schwierigen Phase, und immer öfter erwischte ich mich dabei, die Geduld zu verlieren. Weil Delilah mir im Gegensatz zu ihm überhaupt keine Schwierigkeiten bereitete – allerdings war von ihnen beiden nur Ares ohne Defekt auf die Welt gekommen, und somit meine einzige Chance auf Erfolg. Delilah war fehlerhaft, genauso wie ihre Cousine.

Ich schob die Gedanken beiseite und wechselte nach kurzer Überlegung schließlich die Taktik. „Ich gehe übrigens gleich deinen Onkel besuchen."

Schlagartig hörte das Motzen auf. „Onkel Jude oder Onkel Val?"

„Onkel Val." Ich beobachtete ihn dabei, wie er mit sich haderte. Strafen verstand er nicht, Belohnungen hingegen verstand er sehr gut.

„Wenn ich mich bei Deli entschuldige, bringst du mir dann was von ihm mit?" Ares griff nach meiner Hand, begann, an ihr herumzuzerren. „Ich will den Hubschrauber mit der Fernsteuerung. Als ich letztes Mal bei ihm war, hat er gesagt, ich darf ihn haben."

Hatte er nicht. Valentino spielte selbst zu oft mit der Drohne, um sie kampflos an ihn abzutreten. Der Tag, an dem er zu einem brauchbaren Teil der Gesellschaft wurde, war der Tag, an dem die Sonne implodierte.

„Du kannst etwas anderes haben."

„Aber ich will den Hubschrauber!" Das Herumgezerre nahm an Stärke zu – und ich hatte keine Zeit für diesen Unfug.

Ich packte ihn am Arm, aber vorsichtig. Gewalt hatte in einer erfolgreichen Erziehung nichts verloren und konnte vor allem bei Kindern wie Ares fatale Folgen mit sich bringen. Als Bestätigung musste man sich bloß Judah anschauen. „Du hörst jetzt sofort damit auf."

„Nein! Ich will den Hubschrauber! Den Hubschrauber!"

Ich bugsierte ihn direkt an meine Brust, nah genug, dass er den Kopf in den Nacken legen musste, um mich weiter ansehen zu können. „Reiß dich gefälligst zusammen. Niemand mag aufsässige, kleine Bälger."

Aber statt sich zusammenzureißen, quetschte er einfach seine Hände zwischen unsere Körper und drückte mich mit ihnen von sich weg, rotzfrech grinsend. „Wenn ich den Hubschrauber nicht kriege, gehe ich einfach zu Onkel Val wohnen. Dann kann ich den ganzen Tag mit all seinen Sachen spielen."

Was auch der Grund dafür war, weshalb ich diesen verzogenen Satansbraten nicht mehr bei ihm übernachten ließ. Valentino völlig weggetreten auf seiner Couch vorzufinden, während mein Sohn mit Chinaböllern auf der Terrasse hantierte, war keine Situation, die ich so schnell erneut herbeisehnte. Erst recht nicht den darauffolgenden Besuch im Krankenhaus.

„Tu dir keinen Zwang an. Du kannst gerne sofort bei ihm einziehen." Ich ließ ihn los und wischte einmal quer durch die Luft. „Soll er dich lieber in seinem Bademantel und den Lederhosen oder mit seiner Federboa und den getigerten Leggins von der Schule abholen?"

Stille, Zögern – es war nicht, dass Ares sich für ihn schämte, aber er wusste, wie grausam Kinder sein konnten. Schließlich war er selbst eines dieser grausamen Kinder.

Es dauerte noch gut eine Minute, bevor er ergeben die Nase kräuselte. „Aber ich will etwas mindestens genauso Cooles wie den Hubschrauber."

Cool war Auslegungssache.

„Wir werden sehen", sagte ich und hielt ihm meine offene Hand hin. „Haben wir eine Abmachung?"

„Ja." Er schlug unnötig hart ein und rauschte danach eilig an mir vorbei, um seinen Teil des Deals zu erfüllen.

„Das ging doch verhältnismäßig schnell", murmelte ich, richtete mich auf und trat zurück in den Flur, wo Ares bereits wieder aus Delilahs Zimmer herausschlitterte. Musste eine schnelle Entschuldigung gewesen sein – falls er sie überhaupt ausgesprochen hatte und nicht nur tat, als ob.

„Gemacht." Er stoppte spät genug, um gegen mich zu prallen. Ich verzichtete darauf, ihm zu unterstellen, dass die Faust in meinem Magen dabei pure Absicht war. „Jetzt musst du mir was mitbringen."

Ich entfernte die Faust aus meinen Eingeweiden und steuerte kommentarlos auf die Treppen ins Erdgeschoss zu.

Ares folgte mir. Barfuß. „Kommt Onkel Jude aufpassen, während du weg bist?"

„Nein, deswegen musst du auf deine Schwester achtgeben. Und zieh dir Socken an, wenn du auf den Fliesen herumläufst, sonst wirst du krank." Er schnitt eine Grimasse, ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn du krank wirst, kannst du dir dieses Wochenende die Geburtstagsparty deines Freundes abschminken."

„Aber er feiert in einer Trampolinhalle!"

„Zu der du auch gehen darfst, solange du gesund bleibst."

Zu der Grimasse gesellten sich aufgeblasene Wangen hinzu. „Ziehe ich mir halt blöde Socken an."

Wir kamen unten an, marschierten weiter bis kurz vor die Haustür, wo in einem offenen Regal unsere Schuhe sorgsam nach Größe und Funktion sortiert lagerten. Ich entschied mich für ein schwarzes Paar aus Echtleder, farblich passend zu meinem Gürtel. „Was tust du außerdem?"

„Auf Deli aufpassen."

Er lernte dazu. Langsam, aber stetig.

„Richtig." Den linken Schnürsenkel musste ich neu binden, der war schief. „Und wie lauten die Regeln, wenn ihr allein zu Hause seid?"

„Die Polizei anrufen, weil wir nicht wissen, wo unser Papa ist, und man Kinder nicht alleinlassen darf."

Ich blickte von meinen Schnürsenkeln auf. „Wie bitte?"

Ares hatte die Hände hinter seinem Rücken verschränkt und wippte langsam auf den Fußballen vor und zurück. Pfeifend. „Hab nichts gesagt."

Für nichts gefiel mir sein Gesichtsausdruck aber herzlich wenig, und ich hatte keinen Nerv dafür übrig, ihn hier Chaos stiften zu lassen, während ich versuchte, woanders Chaos zu beseitigen. „Wenn du der Meinung bist, dich derart daneben benehmen zu müssen, kann ich dir nicht vertrauen."

Er verharrte mitten in der Abroll-Bewegung. „Holst du jetzt Onkel Jude her?"

Anstelle einer Antwort zückte ich mein Handy und wählte Judahs Nummer.

Es dauerte keine zehn Sekunden, bis er abnahm. „Was verschafft mir die Ehre, von dir gestört zu werden?"

„Valentino verschafft dir die Ehre", sagte ich lahm. „Ich muss ins Lokal und seine Unfähigkeit ausbaden."

„Das heißt, du möchtest mich als kostenlosen Babysitter missbrauchen?"

„Gezwungenermaßen." Ich warf Ares einen missbilligenden Blick zu. „Das kleine Ungeheuer scheint es lustig zu finden, seine Grenzen auszutesten, und mir ist nicht wohl bei dem Gedanken daran, ihn dabei unbeaufsichtigt zu lassen."

„Das ist in seinem Alter doch völlig gesund." Im Hintergrund fluchte jemand, während Judah leise lachte. „Geh ruhig zu Val. Ich muss nur noch kurz etwas erledigen und komme im Anschluss vorbei."

„Danke." Ich legte auf, im gleichen Moment, in dem Ares auf dem Absatz kehrtmachte.

„Ich gehe mir Socken anziehen!" Seine letzten Worte, bevor er die Treppen nach oben stürmte und ich mit einem tiefen Atemzug die Haustür öffnete.

Und ging.


Valentino bewegte sich, als würde er sich selbst anbiedern wollen – mit den Hüften schwingend, die Füße sorgsam voreinander drapiert, in einer Hand stets eine Art Pfeife aus Glas, in der kein Tabak enthalten war. Sein Atem roch süßlich, fast giftig, wenn man ihm zu nahe kam.

Und er kam mir gerne zu nahe.

„Josias! Es ist eine catastrofe!" Er eilte zu mir rüber an den Eingang unseres Lokals, als hätte er gerochen, dass ich nach dem Rechten schauen würde. Sein langer, schwarzer Mantel mit dem roten Plüsch an allen Enden bauschte sich hinter ihm auf, gab den Blick auf eine ebenso dunkle Schlaghose preis. Viel mehr an Kleidung war da nicht, weil er gerne oberkörperfrei herumtänzelte, mit etlichen glitzernden Ringen an beiden Händen und feinen, goldenen Perlenketten, wo eigentlich ein Hemd an seiner Brust sitzen sollte. Er klimperte, wenn er sich bewegte. „Leon hat sich den Fuß gebrochen!"

Das war seine furchtbare Katastrophe, für die ich Judahs und meine Freizeit gerade aufopferte?

Ich kniff die Augen zusammen, kurz davor, ihm den Hals umzudrehen, wenn er nicht gleich einen besseren Grund für meine Anwesenheit hervorzauberte. Dass er mich in erster Linie nie darum gebeten hatte, aufzutauchen, war nicht wichtig.

„Hallo? Ich habe dir gerade gesagt, dass Leon sich den Fuß gebrochen hat. Weißt du, was das bedeutet?"

„Dass du mal wieder unnötig Stress verursachst, obwohl keiner vonnöten ist." Ich friemelte mein Smartphone aus meiner Hosentasche und öffnete den digital zugänglichen Dienstplan unserer Angestellten. „Hier – Silas ist heute für Gespräche mit den Kunden eingeteilt. Lass die beiden einfach tauschen und ihn stattdessen die Bühnenshow übernehmen, dann kann Leon im Sitzen arbeiten. Wobei", ich runzelte die Stirn, „kann er momentan überhaupt arbeiten? Ansonsten brauchen wir zusätzlich eine weitere Person in der Bewirtung."

Non è questo il punto! Für die Bewirtung sind auch ohne Leon genug da, aber wir haben keine Tänzer!" Er stemmte eine Hand in die Hüfte. „Silas ist schon für die gesamte Nacht ausgebucht, und ohne ihn haben wir niemanden sonst, der einspringen kann!"

Die gesamte Nacht? Der arme Junge.

Ich scrollte tiefer im Plan. „Ronny könnte-"

Valentinos Schnauben unterbrach mich. „Er ist für den Rest der Woche freigestellt."

„Du verschenkst einfach Urlaubstage, ohne mit mir Rücksprache zu halten?"

„Nein, tue ich nicht! Aber würdest du nicht ständig nur in deinem Büro hocken und dich zur Abwechslung mal wirklich um deine Angestellten kümmern, wüsstest du vielleicht, dass-"

Weiter kam er nicht, weil dieses Mal ich es war, der ihn unterbrach. Mit einer absolut verdienten Schelle, die ihn unweigerlich zum Schweigen brachte.

„Unhöflichkeit toleriere ich nicht", sagte ich und schüttelte meine Hand aus. Mit Kindern hatte ich Nachsicht, erwachsene Männer hingegen sollten sich zu gebärden wissen. „Und du benimmst dich gerade mehr als nur unhöflich mir gegenüber."

Valentino fasste sich an die getroffene Stelle, weiterhin stumm, während er die Schultern hochzog wie ein geprügelter Hund.

Ich ignorierte seine eingesunkene Körperhaltung und griff nach seinem Kinn, betrachtete den rötlichen Abdruck, den meine Hand auf seiner Haut hinterlassen hatte. „Du weißt, dass ich dir nicht gerne wehtue, aber es verletzt mich zutiefst, wenn du vergisst, wem du deinen Lebensstandard zu verdanken hast. Ohne mich wärst du nichts. Also bring mich nicht dazu, dich zu hassen, das würde nämlich nicht gut für dich enden."

„Du hast recht." Er schluckte, ich sah seinen Adamsapfel hüpfen. „Mi spiace."

„Schon verziehen. Ich meine, Geschwister zanken sich eben manchmal, nicht wahr?"

„Ja." Er nickte, vermied aber jeglichen Augenkontakt, als würde er irgendetwas befürchten – oder als würde ihm nicht gefallen, was er dort sehen könnte.

Ich lächelte ihn versöhnlich an, bevor ich von seinem Unterkiefer abließ, aber nicht, ohne ihm vorher nochmal einen kleinen Erinnerungsklaps zu verpassen. „Könntest du mir dann jetzt respektvoll und höflich erklären, warum du neuerdings extra-Urlaube genehmigst?"

„Ronnys bester Freund", er räusperte sich, „er hat sich vorgestern eine Überdosis verpasst. Seit er davon Wind gekriegt hat, ist der Junge ein komplettes Wrack. So kann er keinen der Gäste betreuen."

„Verstehe." Ich markierte ihn auf dem Dienstplan für die nächsten drei Tage als krank. Das sollte für den Trauerprozess reichen. „Silas und er fallen also aus. Was ist mit dem Rest?"

„Lexies Schwester hat heute ihren achtzehnten Geburtstag. Er hat sich schon vor vier Monaten diesen Tag gesichert."

„Mh." Daran erinnerte mich sogar. Die letzten Wochen hatte er zusätzliche Dienste übernommen, um ihr eine vernünftige Feier bieten zu können. „Und Dominick?"

„Bronchitis. Sein Husten hält das gesamte Wohnheim wach. Atroce."

Das bedeutete einen Besuch von unserem Privatarzt. Mit kranken Mitarbeitern konnte ich schließlich nichts anfangen. „Mika?"

„Hat mit Dominick im Tandem denselben Kunden bedient." Valentino griff nach einer seiner Ketten und puhlte an ihren Perlen herum. „Ihm geht's noch miserabler."

„Großartig." Ich rieb mir mit meiner freien Hand über den Nasenrücken, stopfte zeitgleich mein Handy weg. „Ich gehe ins Büro und löse das Problem anderweitig." Wie auch immer anderweitig aussehen mochte.

Grazie."

„Nicht dafür." Ich wandte mich ab.

Mein Büro befand sich am hintersten Ende des Lokals. Um dorthin zu gelangen, musste ich durch den mit dunklen Vorhängen abgeschotteten Eingangsbereich, in dem Valentino mich bis eben aufgehalten hatte, und vorbei an separierten Sitznischen in dunkelrot-schwarz – vermutlich hatte er dort die Inspiration für seinen grässlichen Mantel her – mit kreisrunden Holztischen, an denen unsere Angestellten die Kunden auf nicht-sexuelle Art bespaßten. Das Vorspiel sozusagen. Direkt daran schloss die Bar und weitere Sitznischen, die im Halbkreis um eine leicht erhöhte Bühne angereiht waren. Letzteres wurde wie der Eingangsbereich durch einen Vorhang begrenzt, hinter dem sich unsere Tänzer für ihre Show vorbereiten konnten, wenn sie das nicht schon vorher in den Einzimmerwohnungen getan hatten, in die ich jeden einzelnen unserer Angestellten einziehen ließ.

Ich umrundete die Bühne und nutzte die linke von zwei seitlichen Treppen hinauf, um in besagten Bereich dahinter zu gelangen. Wo ich nicht allein war.

„Silas." Ich ließ den Vorhang hinter mir zufallen, den Blick auf die schmale Gestalt gerichtet, die gerade vor einem von drei beleuchteten Spiegeln Eyeliner auftrug. „Du bist früh dran. Deine Schicht beginnt erst in einer Stunde."

Er zuckte zusammen und malte eine horizontale Linie quer über seine Schläfe, als er ruckartig den Kopf in meine Richtung riss. „Herr Lindqvist! Ich-" Seine Augen zuckten tiefer, regelrecht entsetzt, bevor er hastig beide Arme um seine Brust schlang. „Ich hab nichts an!"

Ich wusste ehrlich nicht, ob ich lachen sollte. Silas gehörte seit seinem siebzehnten Lebensjahr zu uns – damals als Kellner-off-Limits –, aber er stellte sich immer noch an, als wäre Nacktheit eine Neuheit für ihn. Wobei er nicht einmal im wahrsten Sinne des Wortes nackt war, schließlich trug er Unterwäsche.

„Man sollte meinen, nach zwei Jahren würdest du nicht jeden Abend wieder auf Werkszustand zurückgesetzt werden." Schmunzelnd ging ich auf ihn zu, blieb dicht neben ihm stehen, meine Finger in den kurzen Haaren in seinem Nacken vergraben. „Valentino hat mir erzählt, dass du heute für die gesamte Nacht ausgebucht bist?"

„Ich ... ja, Sir. Das stimmt." Er schauderte, als ich begann, ihm den Hinterkopf zu kraulen.

„Klingt nach sehr vielen Kunden." Nach sehr viel Geld. „Bist du dir sicher, dass du das durchhältst?"

„Es ist nur einer." Also war es ein reicher, alter Mann, der ihn gekauft hatte. War mir auch recht. „Wir gehen was essen und dann in ein Hotel."

Das wiederum war mir nicht besonders recht.

„Außerhalb?" Ich ließ von seinem Nacken ab, legte meine Hand dafür auf seine Schulter, drückte leicht zu. „Wenn du dich außerhalb mit einem Kunden triffst, kann ich aber nicht für deine Sicherheit garantieren." Und ich konnte es nicht ausstehen, wenn meine Ware kaputtging. Vor allem nicht Ware, die bei den Kunden so beliebt war wie Silas.

„Er zahlt wirklich, wirklich gut." Er rang mit den Händen, kaute auf dem Piercing in der Mitte seiner Unterlippe herum. „Und ich war schon ein paar Mal mit ihm in einem der Zimmer hier. Ich glaube nicht, dass er gefährlich oder irgendwie pervers oder so ist."

„Man kann sich nie zu hundert Prozent sicher sein." Ich musterte ihn. Seine Art machte ihn für mich absolut uninteressant, aber die meisten Männer hatten gerne jemanden im Bett, dem schon bei unschuldigen Küssen literweise Blut ins Gesicht schoss. „Also tu mir den Gefallen und nimm dein Handy mit, solange du mit ihm unterwegs bist."

„Ja, Sir." Er nickte heftig. „Mach ich!"

Ich wanderte von seiner Schulter wieder nach oben, strich ihm flüchtig über die Wange. „Falls du doch Bedenken bekommen solltest, besuch mich in meinem Büro. Deine Unversehrtheit ist mir wichtiger als ein paar Scheine."

„Ich-" Sein Eyeliner fiel zu Boden. Er schien es nicht zu bemerken, blinzelte mich bloß regungslos an, während sich langsam Röte auf seinen Wangen ausbreitete, seinen Hals hinab und bis hoch zu den Ohrenspitzen. „Ähm."

„Du hast da was fallen lassen." Ich bückte mich, hob den Stift auf und legte ihn auf dem niedrigen Tisch vor dem Spiegel ab, bevor ich mich von Silas abwandte und den kleinen Raum durchquerte, weil er bautechnisch leider der einzige Weg zu den Wohnungen und Büros dahinter war. „Melde dich bei Valentino oder mir, wenn du von deinem Termin zurück bist. Ich möchte mir keine Sorgen um dich machen müssen."

„Okay ..." Aus den Augenwinkeln heraus konnte ich im Spiegel erkennen, wie er sich fast beschämt eine Hand in den Nacken legte, genau an die Stelle, an der sich zuvor meine Hand befunden hatte.

Hervorragende Arbeitsbedingungen und Schutz waren eine Möglichkeit, Angestellte langfristig an sich zu binden.

Ich persönlich fand Gefühle effizienter.


Endlich.

Ich seufzte lautlos, während ich die schwere Brandschutztür zu meinem Büro öffnete – nur um erneut von einer anderen Person überrascht zu werden. Mit dem kleinen Unterschied, dass außer Valentino niemand Zutritt zu meinen privaten Räumlichkeiten hatte. Oder haben sollte.

Ich blieb im Türrahmen stehen, analysierte die Situation.

Mein ungebetener Gast war schmal, beinahe fragil, irgendetwas zwischen männlich und weiblich, der weite Kapuzenpullover ließ mich das Geschlecht nicht bestimmen. Aber es war sehr sicher niemand, der mir körperlich auch nur ansatzweise Konkurrenz machen könnte. „Dürfte ich erfahren, weshalb Sie sich in meinem Büro befinden?"

Die Rückansicht wurde zur Vorderansicht. Zuerst sah ich nur honigbraunes Haar, das sich in unordentlichen Wellen bis unter angespannte Schultern ergoss, dann Augen in derselben Farbe, eine gerade, spitze Nase und blassrosa Lippen auf schneeweißer Haut.

Mein Gast war ein Junge, und er war ein Meisterwerk.

„Entschuldigung." Eine vorsichtige Stimme, ein kaum wahrnehmbares Zittern. „Herr Conti hat mich gebeten, hier auf Herrn Lindqvist zu warten ..."

Ich würde Valentinos Visage für die nächsten zwei Monate verschonen, wenn das sein neuer Bewerber sein sollte.

„Achso?" Ich lächelte ihn an. Ich würde ihn zu einer gottverdammten Attraktion machen. „Dann sind Sie derjenige, der gerne bei uns als Kellner anfangen würde?"

„Ja." Er kam sofort auf die Beine und streckte mir seine rechte Hand entgegen, kaum hatte sein Gehirn eins und eins zusammengezählt und mich als Herrn Lindqvist identifiziert. Was ihm eigentlich spätestens seit mein Büro hätte klar sein sollen. „Mein Name ist Yves. Es freut mich, Sie kennenzulernen."

Yves.

Ich ergriff seine Hand, hielt sie in meiner gefangen. „Die Freude ist ganz meinerseits."

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