Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
Schon bevor ich mich überhaupt nach einer passablen Leihmutter umgeschaut hatte, war ich mit unzähligen Erziehungsratgebern eingedeckt gewesen. Was mir an emotionaler Intelligenz fehlte, glich ich durch fremdes Wissen aus.
„Du weißt, dass das nur Träume sind." Logik war mein Steckenpferd, Fürsorge weniger. Aber ich übte mich darin. „Es gibt keinen Grund, Angst zu haben."
„Nicht weggehen!" Delilahs Finger waren so fest in meinem T-Shirt verkeilt, als fürchtete sie sich vor einer Zurückweisung. Erziehungsratgeber elf negierte jegliche Form der Zurückweisung in Situationen, für die Kinder noch keine geeigneten Coping-Mechanismen entwickelt hatten und demnach überfordert waren.
„Ich gehe nicht weg", versprach ich. „Aber du musst schlafen, sonst bist du morgen im Kindergarten müde." Außerdem war ich selbst erschöpft.
Sie drängte sich näher an mich, drückte ihr Gesicht an meiner Brust platt. Ich spürte ihre Tränen durch den Stoff meines Oberteils sickern. „Ich will bei dir schlafen."
„Gut." Ich setzte sie von meinem Schoß auf dem Boden ab. „Aber ohne weitere Verzögerungen."
Sie nickte fahrig. Ihr Blick huschte immer wieder zu der Tür, die zu ihrem begehbaren Kleiderschrank führte. Angeblich wohnte dort neuerdings ein Mann ohne Gesicht, der nachts am Knauf rüttelte und probierte, von innen nach außen zu gelangen. Bisher war es ihm nicht gelungen.
„Los jetzt." Ich erhob mich von der Matratze und hielt ihr meine Hand entgegen. „Wir gehen."
Sie ergriff sie so fest, wie es ihre winzigen Finger erlaubten, während ich sie regelrecht hinter mir her schleifen musste, weil wir uns dadurch ebenfalls der ominösen Tür näherten. Das Nachtlicht zog ich dabei aus der Steckdose – wenn es gegen nächtliche Monster nichts mehr brachte, konnte es schließlich weg.
„Kannst du gleich nachgucken, ob er in deinem Schrank ist?" Sie zupfte an meiner Hand, senkte die Stimme zu einem stockenden Flüstern. „Er kann durch Wände gehen!"
So eine blühende Fantasie. Manchmal war es eine Schande, dass ich nie eine entwickelt hatte.
„Ich werde nachschauen." Ich führte sie weiter bis zu meinem Schlafzimmer, wo sie ihren Griff schlagartig löste, auf mein Bett sprang und sich tief genug in meine Decke wuselte, dass nur noch das bisschen Gesicht oberhalb ihrer Nase sichtbar war.
Das einzige und letzte Mal, an dem ich einen ausgewachsenen Funken Angst verspürt hatte, war, als ich Judahs Körper nach einer seiner durchzechten Nächte regungslos neben meinem vorgefunden hatte. Seitdem hatte ich ihm den Konsum jeglicher Genussstoffe verboten – außer Zucker, davon war ich nämlich mindestens genauso abhängig wie er.
„Papa?" Delilah zog die Decke straffer um ihre Schultern. „Der Schrank."
„Richtig." Ich nickte und entfernte mich von der Erinnerung daran, wie seine Rippen unter dem Druck meiner Handballen nachgegeben hatten. Wie es sich angefühlt hatte, für einen anderen Menschen zu atmen. Eine Mischung aus Speichel und Erbrochenem.
Ich wanderte zu meinem Schrank, öffnete die Tür und knipste im Inneren die kleine Lampe an. Außer meiner Kleidung befand sich dort absolut gar nicht, was nicht auch dort hingehörte. „Kein Mann", sagte ich und schaltete das Licht direkt wieder aus.
„Wirklich nicht?" Delilah kroch auf die Bettkante zu. „Auch nicht zwischen den Jacken?"
„Ganz sicher." Ich tauchte den Rest des Zimmers in Dunkelheit und wickelte sie aus der Decke, damit wir uns beide darunterlegen konnten. Allerdings hatte ich noch keine wirklich gemütliche Position gefunden, da lag sie bereits zusammengekauert neben mir, die Augen fest geschlossen.
Ich drehte den Kopf zur Seite und betrachtete sie, wie sie sich an mich klammerte, weil sie mir vertraute, weil sie wusste, dass ich sie beschützte.
Weil ich ein hervorragender Vater war.
Zufrieden legte ich einen Arm um sie und beförderte sie noch näher an mich heran, hielt sie, bis ihr Muskeltonus sich reduzierte und ihr Atem langsam ruhiger wurde.
Bis wir beide einschliefen.
„Ich wollte schon immer mal der kleine Löffel sein. Ich meine, ist es nicht furchtbar diskriminierend, dass ich aufgrund meiner Größe immer automatisch derjenige bin, der andere halten muss?"
Das war nicht Delilahs Stimme. Und auch nicht ihr Körper.
Ich blinzelte gegen schwarze, zerzauste Haare. „Dürfte ich erfahren, was du in meinem Bett tust?"
„Kuscheln?" Judah griff nach meiner Hand, die er zuvor auf seiner Brust platziert haben musste, und verschränkte unsere Finger miteinander. „Wir haben uns ganze sechsundzwanzig Stunden nicht gesehen, da habe ich dich vermisst."
Ich verdrehte die Augen und löste mich von ihm, ohne auf seine Erklärung einzugehen – wir wussten beide, dass sie nur halb erlogen war. Seit unserer Geburt waren wir nie länger als zwei Tage ohne den jeweils anderen gewesen. Abstand voneinander tat uns nicht gut. „Und warum bist du wirklich hier?"
Er setzte sich auf, grinsend. „Ich habe einen neuen Auftrag und bräuchte wen, der sich um Theresa kümmert."
„Mhm, in Ordnung." Ich fuhr mir übers Gesicht. Dank Delilahs Unterbrechung meiner Nachtruhe fühlte ich mich etwas gerädert. „Ist es denn ein lukrativer Auftrag?"
„Nein." Er zuckte mit den Schultern. „Eine Ehefrau will bloß wissen, ob ihr Mann sie betrügt. Nichts Triftiges, nichts, was viel einbringt. Aber", er fischte sein Handy hervor, „dafür habe ich etwas anderes sehr wohl Triftiges und potentiell Gewinnbringendes herausgefunden."
Ich hob eine Braue, bedeutete ihm wortlos, weiterzusprechen. Was er nicht tat. Zunächst einmal tippte er auf seinem Handy herum, bevor er damit erschreckend aufgeregt vor meiner Nase herumwedelte. „Kriegen wir noch ein Kind?"
Mein Blick fiel auf ein herangezoomtes Dokument, in dem ein Preisvorschlag gelistet stand. Die Absenderin war Helena – Ares', Theresas und Delilahs Mutter. Sie musste meine Handynummer mit Judahs verwechselt haben. „Ich spiele mit dem Gedanken daran", meinte ich und richtete mich ebenfalls auf. „Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, sonst ist der Altersunterschied zwischen den Kindern zu groß." Außerdem merkte ich, dass mein Körper jedes Jahr mehr Erholung benötigte. Bald könnte mir ein weiteres Balg zu anstrengend werden.
„Und wer wird der Vater?"
„Wer wohl?" Ich stand auf, bewegte meine Gelenke durch. Sie fühlten sich etwas steif an. „Oder hast du etwa die Geduld, dich um ein Neugeborenes zu sorgen?"
„Erwischt." Er rollte sich auf die Seite. Seine Augen bohrten mir Löcher in den Rücken, während ich meinen Pyjama gegen eine Stoffhose und ein Hemd austauschte. „Aber ich könnte ihn oder sie dir abnehmen, sobald er oder sie Theresas Alter erreicht hat – unter der Prämisse, dass das Kind funktioniert, selbstverständlich."
„Also erledige ich die Arbeit und du erntest den Lohn?"
„So ungefähr?" Er kicherte. „Wir können auch einfach jetzt tauschen. Ich nehme dir Ares ab, dafür bekommst du Theresa. Du bist eh besser in diesem empathischen Schwachsinn als ich."
„Du würdest ihn nur verkommen lassen." Ich stopfte mir mein Hemd in die Hose. „Aber Theresa kann ich gerne dauerhaft behalten. Delilah sieht in ihr sowieso mehr eine Schwester als eine Cousine." Weil sie das schließlich auch war.
„Ich lasse es mir durch den Kopf gehen." Judah trat vor mich und griff nach meinem rechten Hemdsärmel, fädelte dort den Knopf durch das Loch. Das gleiche beim linken. „Sag mir Bescheid, wie du dich bezüglich Helena entscheidest."
„Du wirst der Erste sein, dem ich das Ergebnis mitteile."
Er ließ wieder von mir ab, ausnahmsweise ohne Grinsen. „Hoffentlich wird es dieses Mal kein Fehler."
„Papa hat gesagt, ich bleibe heute bei euch." Theresa stieg hinter Ares ein, quetschte sich auf den mittleren der drei Kindersitze. „Stimmt das?"
„Ja." Ich wartete, bis die beiden sich angeschnallt hatten, und parkte dann aus. „Aber zuerst holen wir Delilah aus dem Kindergarten ab. Und danach gehen wir einkaufen."
„Was gibt es heute zum Essen?" Ares schnappte nach dem Kopfteil des Beifahrersitzes und lehnte sich zu mir nach vorne. „Pizza? Döner? Burger? Currywurst mit Pommes?"
Montag war Fast-Food-Tag. Einzig aus dem Grund, dass mir nicht nach einem aufwendigen Essen war, wenn ich schon sonntags den halben Mittag in der Küche verbrachte, weil es Tradition war, mindestens einmal in der Woche zusammen als Familie zu essen, inklusive Valentino und neuerdings August. Zumindest hatte das als Vorschlag in einem der Erziehungsratgeber gestanden, da Kinder anscheinend Routinen brauchten.
„Burger." Ich bog nach links ab. Vor mir staute es sich.
„Geil!" Ares ließ sich zurück auf seinen Sitz fallen. „Gehen wir zu Megges?"
Wir gingen nie außerhalb essen. Judah und ich mussten den Zuckergehalt der Mahlzeiten beziehungsweise das Verhältnis zwischen Fruktose und Glukose berechnen können, und das war in Restaurants eine schwierige Angelegenheit.
„Nein", antwortete ich und gab dem älteren Herrn vor mir die Lichthupe, als er die Lücke zwischen sich und dem vorderen Auto immer größer werden ließ. Es nützte nichts.
Ares schnalzte mit der Zunge. „Weniger geil."
Der Ansicht war Theresa nicht. Sie funkelte mich durch den Rückspiegel begeistert an – ich wusste, dass Judah es mit regelmäßigen und gemeinsamen Essenszeiten sehr ungenau nahm. Vielleicht wäre es wirklich besser, ich adoptierte das Mädchen. „Dürfen wir sie selbst belegen?"
„Dürft ihr." Ich lenkte auf den Parkplatz des Kindergartens, hinter mir Theresas fröhliches Jauchzen, vor mir Delilah, die hinter einem hohen Zaun mit einem anderen Mädchen im Sandkasten spielte. Später musste ich sie unbedingt abduschen.
Ich hielt, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und stieg aus. Meine anderen beiden Sprösslinge blieben brav im Auto sitzen, während Delilah beim Zuschlagen der Tür aufschaute und mir sofort hektisch zuwinkte. „Papa!"
Ich nickte neben mich. „Komm her."
Sie gehorchte augenblicklich, ließ ihre Freundin stehen und raste über den Hof ins Innere des angrenzenden quietschorangenen Gebäudes. Danach dauerte es nur noch ein paar Minuten, bis sie im Schlepptau mit einer Frau auf mich traf.
„Herr Lindqvist." Die junge Frau war eine von drei Erzieherinnen, die die Aufsicht von Delilahs Kindergruppe übernahmen. Insgesamt gab es vier Gruppen – Bären, Enten, Zebra und Gänse. Delilah war bei den Gänsen gelandet. „Wir veranstalten in anderthalb Monaten ein kleines Frühlingsfest und stellen im Rahmen dessen aus, was die Kleinen bei uns so alles gebastelt haben. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie vorbeikommen und sich die Sachen ansehen würden."
Ich nahm ihr den Flyer ab, den sie mir hinhielt, und überflog ihn. Es handelte sich um den letzten Samstag Ende Mai. Das war kein Problem, solange ich nachts wieder im Laden sein konnte. „Vielen Dank, ich trage mir den Termin im Kalender ein."
„Sie können auch gerne den Rest Ihrer Familie mitbringen." Sie lächelte mich an. „Je mehr, desto besser! Oh, und", das Lächeln nahm einen leicht flehenden Ton an, „wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie wie letztes Jahr vielleicht einen Kuchen mitbringen könnten?"
„Natürlich." Einen, den ich in irgendeiner Bäckerei würde anfertigen lassen. Immerhin war es von enormer Bedeutung, engagiert zu wirken. Erzieherinnen konnten einem sonst einen Strick aus dem fehlenden Interesse drehen. Und ich wollte nie wieder Besuch vom Jugendamt bekommen, weil jemand – Judah – der Meinung war, alle Elterngespräche vergessen zu müssen.
„Vielen Dank!" Sie wirkte erleichtert und wechselte in kurzen Smalltalk, bevor sie sich verabschiedete und Delilah neben Theresa ins Auto kletterte.
„Ich hab für das Fest was aus Holz gebastelt. Eine Gans." Delilah friemelte an ihrem Anschnallgurt herum. Ich fuhr erst los, als er korrekt eingesteckt war. „Frau Monika sagt, ich hab das richtig toll hingekriegt."
„Da bin ich mir sicher." Genauso, wie ich mir sicher war, dass das Mädchen in ihrer Zukunft irgendeinem handwerklichen Beruf nachgehen würde. Sie hatte jetzt schon mehr Talent, als manch Jugendlicher es vorweisen konnte.
„Und ich wette, Frau Monika hat dich angeschwindelt und deine Gans sieht richtig doof aus." Ares boxte Delilah über Theresa hinweg gegen den Oberarm. „Alles, was du machst, sieht immer richtig doof aus. Sogar du!"
„Das stimmt gar nicht!" Delilah rieb sich über die getroffene Stelle. „Papa, Ari ist gemein zu mir!"
„Papa, Ari ist gemein zu mir." Ares schlug nochmal zu. „Blöde Petze!"
„Hör auf!" Theresa mischte sich ein und baute sich wie ein Schild zwischen den Zweien auf.
Vielleicht sollte ich mir das mit dem dritten – vierten – Kind noch einmal überlegen. Oder ich kaufte mir einen Wagen, der groß und lang genug war, um sie mit ausreichend Abstand zueinander unterzubringen.
Ich atmete tief ein, blendete das Gezanke auf den hinteren Sitzen aus und betätigte den Warnblinker, bevor ich bei der nächstbesten Gelegenheit auf eine Bordsteinkante zusteuerte. Danach wandte ich mich zu den Blagen um. Seelenruhig. „Was habe ich euch über das Streiten während einer Autofahrt gesagt?"
„Aber wir haben nichts gemacht!" Delilah und Theresa unisono.
„Es ist mir gleich, wer was gemacht hat." Ich sah alle drei nacheinander warnend an. „Ich will kein einziges Wort mehr von euch hören. Habe ich mich klar ausgedrückt?"
Delilah schob die Unterlippe vor. Sie zitterte. „Aber Ari hat doch angefangen."
„Und dafür wird er eine Woche lang die Treppen kehren."
Prompt schnitt Ares mir eine Grimasse. Eventuell sollte ich strenger im Umgang mit seiner Erziehung sein als mit der seiner Schwestern. „Warum kriege ich Ärger, wenn ich die Wahrheit sage? Du sagst doch immer, wir sollen nicht lügen!"
„Ein. Einziges. Wort." Ich sprach leise. Lauter zu werden, brachte keine Vorteile mit sich. Es ließ einen lediglich aussehen, als würde man die Kontrolle verlieren und sich nicht mehr anders zu helfen wissen.
„Wort."
„Verstehe." Ich drehte mich wieder um. „Also viermal Burger und einmal Salat."
Ares pff-te. „Den Salat kannst du selber fressen!"
„Lässt sich einrichten. Dann esse ich meinen Burger und deinen Salat und du gehst ohne Mittag- und Abendessen ins Bett."
Zögern. Er rutschte eine Zeit lang auf seinem Sitz herum, bevor er sich wieder zu mir nach vorne lehnte. Er wusste, dass ich nicht scherzte. „Ich will auch Burger."
Ich zeigte mich unbeeindruckt. „Darüber denke ich nach, sobald du dich bei deiner Schwester entschuldigt hast."
Erneutes Zögern, ehe er schließlich einknickte und mit verschränkten Armen und zusammengepressten Lippen zu Delilah sah. „Tut mir leid. Du siehst nicht doof aus."
Sie starrten sich gegenseitig an. Der blaue Fleck unter Delilahs Auge war immer noch nicht vollständig verheilt.
„Okay", sagte sie irgendwann. Und damit verlief der Rest der Fahrt verhältnismäßig störungsfrei.
Nach meiner kleinen Ansage im Auto verhielten sich die drei tatsächlich vorbildlich. Delilah und Theresa suchten in der Gemüseabteilung Tomaten, Salat und eingelegte Gurken zusammen und Ares stürmte los, um die Burgerbrötchen zu besorgen. So lobte ich mir das.
„Dürfen wir auch den Käse holen?" Kaum hatten die Mädchen ihre Aufgabe vollendet, schnappte Delilah nach meiner Hand.
„Die Molkereiprodukte sind am anderen Ende des Ladens – ihr dürft den Käse holen, sobald wir dort sind und ich euch im Auge habe."
Sie nickte und stolperte weiter neben mir her. Theresa marschierte auf meiner anderen Seite mit, die Finger um zwei Stäben des Einkaufswagens geschlungen, den ich vor mir herschob.
„Papa!" Ares hastete zurück – allerdings nicht, wie ich ihn losgeschickt hatte. Er hatte eine andere Person im Schlepptau. „Guck mal, die nette Frau hat mir geholfen, die Brötchen von oben runterzuholen!"
Bloß war das keine nette Frau. Das war Yves.
Besagter Angestellter stoppte etwas überrumpelt am hinteren Ende meines Einkaufswagens, in einer Hand zwei Packungen Brötchen, die andere wurde am Gelenk von Ares beschlagnahmt.
„Sie ist hübsch." Ares zerrte ihn dichter zu mir herüber. „Du kannst sie behalten, dann haben wir endlich eine Mutter."
Ich nahm zurück, was ich vor keinen fünf Minuten über vorbildliches Verhalten gedacht hatte.
„Entschuldigen Sie", meinte ich an Yves gewandt. „Er hat momentan einfach keine Manieren." Und zu Ares: „Sie ist ein Mann."
Augenblick runzelte Ares die Stirn und sah an seinem Mitbringsel rauf und runter. „Aber sie hat lange Haare. Und träg einen Rock. Nur Frauen tragen Röcke."
Ich lächelte, aber nicht glücklich. „Ares", sagte ich langsam. „Würdest du bitte aufhören, ihn als Frau zu bezeichnen? Und ihn loslassen?"
Tat er, wenn auch nur widerwillig und sichtlich wenig überzeugt. Besäße ich die Möglichkeit, Scham zu empfinden, würde ich das vermutlich gerade. So jedoch war ich bloß frustriert darüber, dass mein eigener Sohn mich vor meiner neusten Anschaffung als inkompetenten Vater darstellte.
„Ähm, das macht mir nichts." Yves legte sich eine Hand in den Nacken. „Meine Eltern waren früher immer sehr wütend, wenn ich mich weiblich gekleidet habe. Für mich ist das wie ein Kompliment." Er lächelte leicht. „Und Ihr Sohn war vorhin sehr höflich, als er mich um Hilfe gebeten hat."
Wenigstens etwas.
Er nahm die Hand wieder aus seinem Nacken und blickte zwischen den Mädchen und Ares hin und her. „Sind das alles Ihre Kinder?"
„Ja." Schließlich hatte er kein Anrecht auf die genauen Details.
„Wie schön." Er kniete sich vor Delilah, die Beine geschlossen, aber die Weite seines Rockes erlaubte trotzdem einen Blick in Bereiche, die der Außenwelt hätten verborgen bleiben sollen. Ich fand keine Boxershorts, dafür Spitzenunterwäsche. „Und du und deine Schwester sind Zwillinge?"
Kichern folgte, während Theresa zu Delilah huschte und sich direkt neben sie stellte. „Ja!"
„Toll! Ich wollte immer Geschwister, aber ich bin leider ein Einzelkind geblieben." Yves kam zurück in die Senkrechte. „Ich hätte Sie gar nicht als Vater eingeschätzt, Herr Lindqvist. Sie müssen doch immer nachts arbeiten."
Zwar belästigte Ares ihn nicht länger auf physische Art, aber seine ungeteilte Aufmerksamkeit besaß er trotzdem. Wie er lautstark demonstrierte: „Kennt ihr euch schon? Und mögt ihr euch?" Seine Augen blitzten auf. „Ich bin auch mit einem Papa zufrieden, der aussieht wie eine Mama."
„Ares." So langsam verlor ich meine Geduld und die Lust darauf, seinen Namen noch öfter zu verwenden. „Wolltest du nicht eben eine Flasche Ketchup holen?"
Er musterte mich. Keine Ahnung, ob er die versteckte Wut in meinen Zügen lesen konnte, auf jeden Fall fuhr er herum und stürzte den Gang runter in Richtung der Konservendosen.
Kaum außer Hörweite, glättete ich meine Mimik wieder. „Es tut mir wirklich sehr leid, wie mein Sohn sich gerade verhalten hat."
„Ach, kein Problem." Yves strich sich über seinen hellgrauen Faltenrock, rückte seinen Kapuzenpullover zurecht. „Es muss schwer sein, sie allein ohne ihre Mutter großzuziehen."
Eigentlich wäre es nur schwer, gäbe es eine Mutter in ihrem Leben. Ich konnte niemanden gebrauchen, der sich in meine Methoden und Zukunftspläne einmischte.
„Es funktioniert gut", antwortete ich und blickte über seine Schulter hinweg. Ares hockte vor den Ketchup-Flaschen und durchforstete sie nach seiner Lieblingsmarke. „Eine Mutter ist nicht vonnöten."
„Oh, ich meinte nicht, dass Sie mit ihnen überfordert wären oder so! Ich wollte nur ... also, ich wollte-" Er saugte seine Unterlippe zwischen die Schneidezähne und ließ dann die Schultern hängen. „Ich glaube, ich wollte einfach nur irgendetwas sagen."
Welche Entität hatte diesen nutzlosen Charakter bloß in solch einen perfekten Körper hineingedrängt?
Ich hörte mich selbst seufzen, bevor ich es unterbinden konnte. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe es nicht falsch verstanden." Ich trat einen Schritt zur Seite. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden? Ich habe einen Einkauf zu erledigen."
„Ja, klar!" Er wich zurück. „Ich wollte Sie nicht aufhalten!"
Nur wurde daraus nichts. Ich hatte meinen Wagen keinen halben Meter an ihm vorbeigerollt, als Ares wieder zu uns stieß, mit einer Flasche Ketchup. Und mit einem 750g-Nutellaglas. Er versperrte mir den weiteren Durchgang, den Fixpunkt erneut bei Yves. „Essen Sie bei uns mit?", fragte er und schmiss die Ketchupflasche in den Wagen hinein. Das Nutellaglas gab er nicht her. „Wir machen heute selbstgemachte Burger."
Schön, dass er der Meinung war, ohne Erlaubnis fremde Menschen zu uns einladen zu können.
Allerdings musste ich gar nichts sagen. Yves kam mir zuvor: „Das ist echt nett von dir, aber ich denke, es ist besser, wenn ich nicht bei euch mitesse."
„Warum nicht?" Ares legte den Kopf schief. „Burger sind lecker. Schmecken Ihnen keine Burger? Jedem schmecken Burger."
„Das nicht." Yves warf mir einen flüchtigen Blick zu, verunsichert. „Aber ich darf nicht alles essen, weißt du? Ich vertrage eine bestimmte Sorte Zucker nicht und davon ist echt viel in den Patties enthalten, glaube ich. Da würde es mir später sehr schlecht gehen."
„Fruchtzucker?" Ares verlagerte das Nutellaglas von seinem rechten auf den linken Arm und zeigte mit dem anderen auf mich. „Den darf Papa auch nicht essen. Wenn es Pfannkuchen gibt, dann macht er für sich und Onkel Jude welche aus Traubenzucker und für uns normale."
Es störte mich überhaupt nicht, wie hier in meiner Gegenwart über mich gesprochen wurde.
„Sie vertragen auch keine Fruktose?" Yves sah überrascht aus. Ich war mir nicht sicher, was daran überraschend sein sollte. Dreißig Prozent der europäischen Bevölkerung hatte bei der Verdauung davon gewisse Schwierigkeiten, wenn auch vielleicht nicht in dem Ausmaß, wie es bei Judah und mir der Fall war.
Ich nickte knapp. Leugnen machte keinen Sinn, obwohl diese Art von Information für jemanden wie ihn absolut nicht von Belang war.
„Oh." Yves blickte auf die Brötchen in seiner Hand. Mir war gar nicht aufgefallen, dass er sie weiterhin umklammerte. Es wäre ärgerlich, hätte ich ohne sie die Heimfahrt angetreten. Wir hatten hier keine Supermärkte in Fußnähe. „Dann ist der Zucker in diesen Brötchen hier Traubenzucker?"
Ich machte den Mund auf, aber Ares grätschte erneut dazwischen: „Ne, da ist normaler Zucker drin. Papa hat seine extra-Brötchen immer im Vorrat zuhause, weil man die nur im Reformantenhaus bekommt."
„Reformhaus", korrigierte ich automatisch, nahm Yves die Brötchen ab und legte sie in den Wagen, sonst versäumte ich das am Ende noch.
„Achso." Yves faltete die Hände, kaum befand nichts mehr in ihnen. „Tut mir leid, ich hab die Diagnose erst vor kurzem bekommen und kenne mich deswegen nicht so gut aus. Im Moment lebe ich nur von Reis und Würstchen." Was er zusätzlich untermauern musste, indem sein Magen lautstark zu knurren begann.
Ich betrachtete ihn.
Es gefiel mir, dass er blass war, aber vielleicht entsprach seine Blässe eher einer fehlenden Vitaminzufuhr. Oder allgemeiner Nahrungszufuhr. Und ich hatte nichts von Angestellten, die mir während der Arbeit umkippten, weil sie sich nicht richtig zu ernähren wussten.
Am liebsten hätte ich mit der Zunge geschnalzt. „Kennen Sie die Grundzüge einer fruktosearmen Diät?"
„Ähm." Yves griff sich in sein Haar, wickelte beinahe hektisch eine Strähne auf. „Nicht wirklich." Er senkte den Blick. „Ich kann ja im Internet nicht nachlesen, worauf ich achten muss."
Weil er nämlich Analphabet war.
Ich schaute von ihm zu meinen Kindern. Einen Angestellten zu mir nach Hause zu holen, wäre fahrlässig. Niemand außerhalb meiner Familie und meinem engen Bekanntenkreis brauchte meine Anschrift zu kennen oder mehr als zufälligen Kontakt zu meinem Nachwuchs zu haben.
Eine andere Lösung musste her: „Sind Sie morgen gegen Mittag verfügbar?"
„Wie ...?" Yves hob den Blick wieder. „Aber da sind doch gar keine Öffnungszeiten."
„Dessen bin ich mir bewusst." Im Gegensatz zum Zungenschnalzen konnte ich das Heben meiner Brauen nicht unterdrücken. „Ich frage nach Ihrer Freizeit."
„Ah!" Er fing an, an der aufgewickelten Strähne zu ziehen. „Ich hab morgen mittags nichts vor. Überhaupt nichts!"
„Gut." Ich nickte. „Dann werde ich morgen bei Ihnen vorbeischauen und die Diätanforderungen mit Ihnen durchgehen."
„Echt?" Nicht nur seine Augen strahlten, sein gesamtes Gesicht strahlte. „Das würden Sie für mich tun?"
Eher tat ich es für mich selbst und meine Finanzen.
„Die Gesundheit meiner Mitarbeiter ist mir wichtig." Ich wandte mich ab. „Ich sehe Sie morgen."
„Ja!" Mittlerweile hatte er von seiner Strähne abgelassen, um sich beide Hände flach gegen die Brust zu pressen. „Vielen Dank, Herr Lindqvist! Ich freue mich!"
Er hatte wirklich außerordentliches Glück, dass ich eine Schwäche für hübsche Dinge hatte. Und er beinahe lächerlich hübsch war.
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