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Wo bin ich hier? Wie bin ich hierhergekommen?

Ich sitze in einem großen Zimmer. Es ist hell. Die Wände sind weiß gestrichen. Mir gegenüber sind große Fenster. Die Sonne scheint durch sie herein. Schnell blicke ich weg, bevor ich blind werde.

Wo bin ich hier?

Mir schräg gegenüber sitzt eine Frau mit strohblondem Haar. Wie das von Prinzessin Aschenbrödel! Nur am Scheitel wird sie schon grau. Grau wie....wie Asche! Sie hat sogar einen Zopf!

Ihre Kleidung ist tiefblau. Ist sie eine Polizistin? Ich habe eine Spielfigur, die Polizist ist. Ja, die Kleidung sieht fast gleich aus. Wo habe ich meine Figur? Unauffällig taste ich meine Jackentasche ab. Sie ist weg! Wo ist sie? Wo ist mein kleiner Polizist? Leise wimmere ich auf. Ich muss ihn verloren haben, auf dem Weg hierher!

„Frau Graf? Geht es Ihnen gut?", die Polizistin blickt mich seltsam an.

Etwas berührt meine Hand. Schnell reiße ich sie weg, weg von was auch immer da ist. Ich drücke sie an meine Brust, ganz, ganz fest.

„Frau Graf?"

Panisch blicke ich mich um. Wo ist diese Frau? Wer ist Frau Graf? Ist sie böse?

Doch niemand ist hier. Wir sind alleine.

„Bitte nicht böse sein!", wimmere ich.

Vielleicht versteckt sie sich ja, diese Frau Graf? Habe ich etwas falsch gemacht? Will sie mir damit Angst machen, dass ich sie nicht sehen kann? Sicher habe ich etwas falsch gemacht, ich war böse! Ich habe versucht wegzulaufen, das weiß ich noch. Da haben sie mich einmal ganz kurz alleine gelassen. Ich bin durch den Wald gerannt, ganz, ganz lange. Es hat geschneit. Kalt war es!

„Niemand hier ist böse auf dich! Hören Sie mich? Frau Graf? Erna?"

„Lena!", wispere ich ängstlich.

Die Polizistin scheint für eine Sekunde zu gefrieren.

„Wie bitte?", fragt sie mich tonlos.

Oh Gott, nein! Sie wird mich schlagen! Sie wird mich töten!

Ich versuche mich klein zu machen, so klein wie eine Maus.

Warum macht sie nichts? Warum schlägt sie nicht zu?

Oh, ich verstehe! Sie lässt mich warten. Sie wartet, bis ich mich wieder sicher fühle – und dann tut sie mir weh!

Ich bemerke, dass ich zittere. Nicht zittern, Lena! Sie mögen das nicht!

„Ern - äh, Lena? Ganz ruhig! Alles ist gut!"

Das gehört zu ihrem Plan, das ist alles ein Teil ihrer Taktik!

„Ich will Ihnen nichts tun, hören Sie mich? Möchten Sie ein Glas Wasser?"

Ich wimmere auf. Bitte nichts trinken! Bitte, ich will nichts trinken! Ihr Trinken tut immer so weh!

„Oder ein Taschentuch?"

Kaum merkbar schüttle ich den Kopf. Bloß nichts verlangen! Nichts brauchen!

„Lena? Ist das dein Name?"

Unsicher nicke ich. Ist das die richtige Antwort?

„Das ist ein sehr schöner Name."

Sie meint das nicht so. Sie findet den Namen nicht hübsch. Das ist nur ein Test, ein ganz böser Test!

„Weißt du, wie ich heiße?"

Ich überlege. Wenn ich die Wahrheit sage, dass ich sie nicht kenne, wird sie sicher böse. Also nicke ich. Die Polizistin atmet erleichtert aus. Doch dann hält sie den Atem an. Ängstlich mustere ich sie. War das ein Trick? Als sich unser Blick trifft, schaue ich ganz schnell wieder weg.

„Mein Name ist Müller. Magdalena Müller. Wie alt bist du?"

Ich halte eine Hand hoch.

„Du...du bist fünf Jahre alt?"

Stolz nicke ich. Ich bin schon groß!

„Weißt du, warum du hier bist?"

Ich spüre, wie meine Lippe zu zittern beginnt. Automatisch wandern meine Hände zu den Knöpfen meiner Bluse. Ungeschickt beginne ich den ersten zu öffnen. Ich schluchze leise.

„Lena?"

Ich wage es nicht sie anzusehen. Wortlos mache ich weiter.

„Lena?!"

Ich schüttle meinen Kopf. „Bitte nicht böse sein!", hauche ich, „Bitte, bitte nicht böse sein!"

„Lena, hör auf damit dich auszuziehen!"

Ich gefriere mitten in der Bewegung ein. Habe ich etwas falsch gemacht?

„Ich rufe jetzt einen Arzt, ist das in Ordnung für dich?"

Mein Nicken ist wie das eines Roboters. Ich will gar nicht zum Arzt. Ich bin doch nicht krank! Ich will nach Hause...

„Kannst du mir helfen?", wimmere ich. Wo habe ich den plötzlichen Mut her, nach sowas zu fragen?!

„Bitte, bitte nicht schlagen!", schiebe ich schnell hinterher.

„Ich werde dir nicht weh tun!", antwortet die Polizistin.

„Versprochen?"

„Ich schwöre es!"

Misstrauisch blicke ich auf ihre Hände. Ihre Finger sind nicht gekreuzt. Erleichtert atme ich auf.

„Bist du eine wirklich echte Polizistin?", frage ich wispernd.

Sie nickt.

„Dann bitte, bitte verhafte ihn!"

„Wen? Wen soll ich verhaften, Lena?"

Ich antworte nicht. Ich habe die Kamera in der Ecke des Raumes bemerkt. Er beobachtet mich. Er kann mich sehen. Er wird mich töten.

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