[03]
Jisung PoV
Ich schreckte hoch und saß aufrecht in meinem Bett. Es war alles nur ein Traum gewesen. Keine Pause, keine Schläge, kein Messer, kein Lino.
Das Ungewöhnlichste an diesem Traum war, dass ich noch nie zuvor das Gesicht meines Mörders gesehen hatte oder gar seinen Namen kannte, doch nun wusste ich, wie er aussah und hieß.
War Lino der jenige, der mich Nacht für Nacht umbrachte oder war es jedes Mal jemand anderes? Ich hatte mir noch nie zuvor Gedanken darüber gemacht, wer mich eigentlich umbrachte. Es erschien mir einfach nicht wichtig genug zu sein, um sich den Kopf darüber zu zerbrechen und eine Antwort hätte ich wahrscheinlich sowieso nicht gefunden.
Selbst wenn er der jenige wäre, der mich in meinen Träumen heimsuchte, musste es nichts heißen. Ich könnte ihn auch irgendwann mal flüchtig gesehen haben, was sich dann in mein Unterbewusstsein gedrängt hatte. Auch wenn ich mir ziemlich sicher war, dass ich mich daran hätte erinnern können. Er hatte einfach die Art Gesicht, die man nicht vergaß.
Im Endeffekt wäre es sowieso egal. Er war nicht mehr als Jemand, den ich in meinem Kopf geschaffen hatte. Vermutlich hatte die gestrige Diskussion über meinen zukünftigen Partner sich in abgewandelter Form in meinen Traum geschlichen.
Mit diesem Gedanken stand ich auf und machte mir mein Frühstück. Ich nahm Brot statt Müsli und Nutella statt Käse. Hauptsache ich konnte mit dem heutigen Tag von meinem Traum abweichen. Selbst wenn es nur die Details waren, die mir zeigten, dass ich nicht träumte und ich nicht Gefahr lief, jeden Moment umgebracht zu werden.
In der Schule lief alles zunächst so ab, wie ich es geträumt hatte. Wie gewohnt betrat ich den leeren Klassenraum und setzte mich auf meinen Platz, wo ich still anfing zu zeichnen. Anstelle der Katze von gestern begannen nun Lino's Umrisse auf dem Papier ihre Form anzunehmen.
"Woher kennt ein Loser wie du Minho?", fragte mich eines der Mädchen, mit denen ich unglücklicherweise in einer Reihe sitzen musste, mit angewiderter Miene. Sie war vermutlich genauso begeistert davon, dass wir nebeneinander saßen, wie ich.
"Wer ist Minho und wie kommst du darauf, dass ich ihn kennen würde?", fragte ich verwirrt.
"Du krickelst ihn doch gerade auf dein Blatt Papier.", erwiderte sie zickig. "Er ist der am besten aussehende Junge, den diese Schule seit Jahren gesehen hat und ist eine Klasse über uns. Aber von sowas hast du ja keine Ahnung. Das einzige was dich interessiert, sind deine blöden Bücher. Kein Wunder dass du keine Freundin bekommst, wenn du deine Zeit nur damit verbringst, auf Papier zu starren."
"Will ich auch gar nicht. Ihr Mädchen seid sowieso alle nervtötend und jetzt halt bitte einfach die Klappe.", gab ich trotzig zurück und tat meinen Zeichnenblock beiseite.
"Habt ihr das gehört, Freunde? Trauriger Weise ist unser geliebter Frauenschwarm Han Jisung nicht an Mädchen interessiert. Ich frage mich nur, woran dann...? Etwa an Minho?", sagte sie zu ihren Freunden, allerdings laut genug, um es die ganze Klasse wissen zu lassen. Noch bevor ich reagieren konnte, schnappte sie sich meinen Block, stellte sich vor die Tafel und hielt meine unfertige Zeichnung hoch, sodass sie jeder sehen konnte. Ein Raunen ging durch den Raum.
"Oder wonach sieht das hier für euch aus?", fragte sie und grinste teuflisch.
Ich stand auf und riss ihr meinen Block aus der Hand.
"Was soll der Schwachsinn?! Dann bin ich halt schwul, ja und?! Aber warum erzählst du überhaupt rum auf wen oder was ich stehe?!"
"Weil ich es kann."
Sie kam näher auf mich zu und ihre Augen füllten sich mit Schwärze.
Nicht jetzt. Bitte nicht jetzt und nicht hier...
Automatisch wich ich zurück, bis ich irgendwann mit dem Rücken an der Wand stand.
"L-Lass mich in Ruhe. Ich weiß, wie ich mich wehren muss.", sagte ich weniger selbstbewusst, als es in meinem Kopf klang. Gratulation, Han Jisung. Du bist jetzt offiziell am Arsch. Gleich wird jeder sehen, wie dich ein Mädchen fertig macht.
"Sieht man ja. Unser Jisung findet Mädchen anscheinend nicht nur nervtötend, sondern hat Angst vor ihnen. Niedlich."
Ihre Stimme klang unnatürlich verzerrt und viel zu tief. Eher wie die eines Mannes als wie die einer Frau, ebenso wie das auf ihren Kommentar folgende Gelächter meiner Klasse. Noch nie hatte ich diese Alpträume so sehr verflucht wie in diesem Augenblick.
Das ist nicht echt, Jisung. Jetzt wehr dich, du Esel.
Doch in dem Moment, in dem ich endlich all meinen Mut zusammen gefasst hatte, öffnete sich die Tür und mein Lehrer kam rein.
"Jisung, ich hab keine Zeit für Späße. Setz dich auf deinen Platz.", sagte er mit ebenfalls verzerrter Stimme und der gleichen Schwätzer in seinen Augen.
Für ihn sah es anscheinend so aus, wie als wollte das Mädchen, dessen Namen ich nicht mal versucht hatte zu lernen, nur etwas in den Mülleimer hinter mir schmeißen, aber ich versperrte ihr nur den Weg.
Noch immer rührte ich mich nicht von der Stelle.
"Han Jisung! Vor die Tür. Jetzt. Dass ihr Schüler auch immer schon am ersten Tag nach den Ferien so einen Kinderkram veranstalten müsst..."
Er zog mich unsanft vor die Tür, da ich mich immer noch nicht bewegte. Seine langen Finger umschlangen meinen Arm, wurden zu langen Seilen und ließen mich erst draußen wieder frei.
"Hier sollte dich nichts davon abhalten, über dein kindisches Verhalten nachzudenken. So etwas hat man dir in der Grundschule vielleicht durchgehen lassen, aber doch nicht mehr in der 11. Klasse."
Seine Stimme wurde zum Ende hin wieder normaler und ich war mehr als erleichtert, dass dieser Horror nun endlich sein Ende fand.
"Minho, kommst du bitte mit rein, damit du dich der Klasse vorstellen kannst?", fragte er den Jungen freundlich, den ich bis eben gar nicht bemerkt hatte. Das war also Minho. Mir stockte der Atem, als er kurz seinen Blick über mich gleiten ließ, bevor er die Klasse betrat. Fast alles an ihm war exakt wie bei Lino. Nur die Outfits stimmten nicht komplett überein.
Das ergab keinen Sinn. Wieso sollte der beliebteste Schüler mich jede Nacht aufs Neue umbringen?
Aus dem Klassenraum war Gerede und Gelächter zu hören, das nach einer Weile verstummte. Ich suchte mir in Gedanken schnell eine Entschuldigung für mein Verhalten zusammen, die meinen Lehrer zufrieden stellen würde, und wurde dann zurück in den Klassenraum gebeten. Als ich auf meine schon zuvor ausgepackten Sachen sah, wurde mir schnell klar, dass etwas fehlte.
Das Bild von Lino.
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