55 | kalgans ziel.

Logan erreichte den Gemeinschaftsraum an diesem Abend mit einem Puls, der raste als wäre sie gerannt. Dabei war alles, was um sie gefallen war, seitdem Fred Weasley und sein bedeutungsschwerer Blick den Raum der Wünsche verlassen hatte, Stille gewesen. Stille, die sie gemeinsam mit ihrem schweren Atem und diesem drängenden Gefühl, fliehen zu müssen, nicht mehr ertrug.

Denn Fred Weasley war gegangen. Hatte sich umgedreht, Distanz zwischen sie gebracht, als stünde die Luft nicht in Flammen und noch während seine Silhouette mit der Nachtschwärze des Korridors verschmolzen war, hatte er eine Endgültigkeit zwischen sie gekerbt. Jetzt gerade bricht es mir das Herz

Dabei war das, was sein Blick ihr versprach und der wahre Duft, der um ihn lag, nichts als die Sehnsucht, ihn nie wieder gehen lassen zu müssen. Dabei tat er es doch jedes Mal: Er ging. Und immer blieb Logan allein zurück.

Selbst, als sie an diesem Abend den Ravenclawturm erreichte.

Mit dem Beginn erster Frühlingsversprechen fing auch die Sonne an, früher über den Ländereien von Hogwarts aufzugehen. Das bemerkte Naome mit einem Zähneknirschen, als sie sich am nächsten Morgen auf den Weg zu Zauberkunst begaben.

„In was für einer Trance bist du denn versunken?", war das Erste, was Logan an diesem Tag wirklich hörte, und da hatten sie schon beinahe das Klassenzimmer erreicht. Naome hatte ihr fast eines ihrer Schulhefte gegen die Schläfe gedonnert. „Ich würd ja sagen, du verhältst dich komisch, aber das wär auch wirklich nichts Neues."

Logan wich ihren Gestikulierungen aus.

„Entschuldige, langen Abend in der Bibliothek verbracht."

„Ich dachte ich bin die Erste, die wegen den Abschlussprüfungen am Besen dreht", murrte Naome und raffte sich ihren Umhang zurecht.

Dabei hatten die anstehenden Abschlussprüfungen nicht auch nur annähernd Logans Realität erreicht. Und aus irgendeinem Grund verspürte sie ein drängendes Verlangen, höhnisch in das Klassenzimmer zu lachen, während ihr durch den Kopf ging, was Tonks ihr damals so eindringlich gesagt hatte: Du sollst ein normales Leben wieder haben. Deinen Abschluss machen.

Dumbledores Zettel hing bleiern schwer in ihrer Umhangtasche und lachte mit. Und während Professor Flitwick Wasser in der Luft kräuselte, kamen Logan die Versprechen des Ordens wie eine blanke Täuschung vor, die sie damals hätte durchschauen müssen: Ein normales Leben würde es für sie nicht geben. Nicht, solange der Kompass ihr gehörte, sich ein Geheimnis um sie rankte und Fred Weasley ein Teil ihrer Hoffnung war.

Den Rest der Schulstunden verbrachte Logan verbissen damit, sich den Abend auszumalen und mit ihm das letzte Quidditchtraining ihrer Schullaufbahn. Corben McLaggen musterte sie bei jeder Mahlzeit unauffällig akribisch und Logan musste sich einreden, dass es nichts mit der Spannung im Raum der Wünsche zu tun hatte, dass er von ihr und Fred und den Möglichkeiten, denen Logan nicht nachgeben durfte, doch gar nichts wusste.

Alles, worüber er womöglich mutmaßte, war, ob sie ihre Meinung geändert hatte. Und genau diese Spekulation bewahrheitete sich, als er sie im Gemeinschaftsraum auf dem Weg zum Quidditchgelände abfing.

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und im blassblauen Licht über den Ländereien war Corbens Haut noch papierener als vor dem Kaminfeuer.

„Du weißt, dass sich meine Meinung nicht geändert hat?", war das Erste, was Logan ihm sagte, während er unter aufforderndem Blick seinen Feuerblitz schulterte.

Sein Seufzen versank in dem Scharnierknarren der Gemeinschaftsraumtüren. „Ich habs befürchtet, ja."

Und ein klein wenig wünschte Logan sich, er wäre nicht so verständnisvoll. Nicht so großherzig. Ein klein wenig skeptischer zu ihr. Doch vielleicht war Corben McLaggen einfach nicht dafür gemacht, anderen Leuten Vorwürfe zu erteilen und vielleicht war der einzige Mensch, an den er jemals Anforderungen stellte, auch er selbst. Vielleicht war er auch gerade deshalb noch immer Robs Freund.

„Was wirst du jetzt tun?", fragte Logan als sie das Eichenportal erreichten. Bloß das Patschen ihrer Sohlen auf dem Sandstein begleitete sie.

Corben hob die Schultern bis an sein Kinn. „Einen Ersatz suchen." Dann raufte er sich sein plattes Haar. „Turner denkt drüber nach."

„Corben, es tut mir wirklich –"

„Hey, nicht."

Beinahe lächelte er, doch am Ende war es bloß ein verzogenes Gesicht. Die Abendluft war frisch und kalt, brannte in ihrer Lunge. Logan wünschte sich, in dem Grau seiner Augen würde etwas mehr Vorwurf liegen.

„Du hast mich gebeten, das zu akzeptieren. Also tue ich das auch."

Während des gesamten Trainings, das für eine ganze Weile wirklich den letzten Abend auf einem Quidditchfeld für Logan bedeuten sollte, bemühte sie sich, sich nicht der Wehmut nachzuhängen, die in ihrer Brust aufkeimte. Den Nachtwind über den Platz, das Lachen ihrer Teamkollegen, Corbens Pfiffe in die Dunkelheit und seine starke Silhouette in den Scheinwerfern aufzugeben, fühlte sich an als gäbe sie das kleine Bisschen Heimat her, das sie in Hogwarts gefunden hatte.

Trotzdem wusste sie, dass es richtig war. Dass sie nicht weiter im Mittelpunkt irgendwelcher Wochenendspiele oder Turniere stehen sollte. Dass sie nicht hier her gehörte. Weil ihr Platz längst ein anderer war.

Also war es an diesem Abend, als Logan das letzte Mal auf dem harten Rasen landete und von dem guten Sauberwisch aus der Besenkammer abstieg, ein klein wenig so, als würde sie sich von ihrer Kindheit verabschieden. Von Unbeschwertheit, von Freiheit. Von ihrer Nähe zu Gus, die irgendwie immer dagewesen war.

Und auch, wenn sie das alles nicht aussprach, wenn Corben dem Team noch nichts von alledem sagte, damit sie einen ruhigen Abschluss in aller Normalität hatte, wusste sie, dass er sie verstand. Bloß mit einem Seitenblick, einem Lächeln, einem Händedruck, der irgendwie sagte: Alles wird gut.

Logan inhalierte die Abendluft, brachte den Besen zurück, sah Corben beim Packen der Kisten zu. Und war sich sicher, ihn nicht in ihrem Leben verdient zu haben.

Manchmal fragte sie sich, ob Fred dasselbe über sich dachte, denn nach ihrem letzten Treffen im Gemeinschaftsraum erschien er am Samstag in keinem ihrer Kurse. Genauso wenig wie George.

„Die hecken irgendetwas aus", beteuerte Alicia, als sie am Dienstag das Verwandlungsklassenzimmer verließen. „Aber was Gewaltiges."

Doch daran verschwendete Logan keinen Gedanken. Lediglich daran, dass Fred sie immer noch ansah, wenn er in die Große Halle kam. Und dass er manchmal, wenn sie sich trotzdessen in den Fluren begegneten, immer noch zwinkerte. Als hätte er vor ihr nie seinen Stolz zu Fall gebracht: Du brichst mir mein Herz.

Dabei wich er ihr trotz all seinen lockeren Schlendereien und heimlich umhergereichten Kanariencremeschnitten auf die galantesten Weisen aus. Immer war es bloß George, der für einen Schlagabtausch bei ihr zurückblieb. Mit einem viel zu wissenden Blick.

Logan schluckte ihn, wann immer er sie traf, und hielt dabei Dumbledores Botschaft in ihrer Umhangtasche umkrampft. Weil wenigstens das ihr vielleicht sagte, dass sie das Richtige tat. Auch, wenn sie sich bis zum Abend hin fragte, ob ihn Robs Wissen überhaupt beunruhigte. Denn seitdem Logan seine Botschaft erhalten hatte, war Dumbledore nie in der Großen Halle aufgetaucht. Und beinah konnte man glauben, er wäre noch immer nicht im Schloss zurück.

Bloß Rob war seit Neustem immer dort gewesen. Auch, wenn der Ausdruck, den er ihr gelegentlich vom Slytherintisch schenkte, ein nüchterner gewesen war. Nüchtern, weil er sein Versprechen bislang wirklich hielt.

Als Logan an diesem Abend trotzdem hinter den Wasserspeier und in Dumbledores Büro trat, regnete es. Bleiern schwer, aber auch schrecklich weit entfernt. Als wären die dumpfen Tropfen auch bloß ein Beweis dafür, dass die Zeit vorangeschritten war.

„Professor?"

Logan sprach es zaghaft in den kreisrunden Raum hinein, weil sie Albus Dumbledore nicht beim ersten Wimpernschlag erkannte.

In dieser Nacht trug er kein grell purpurnes Gewand und keine silbernen Verzierungen an seinem Saum. Stattdessen floss matt graue Seide um seine Schultern, als wolle er sich und seinen Bart in einem Schleier der Ungreifbarkeit verbergen.

Er stand vor seinem hohen Turmfenster und drehte sich um.

„Logan." Er klang freudig überrascht als hätte sie sich auch anders entscheiden können. Als sie den aufploppenden Stuhl zurecht zog, hob er die Hand. „Du brauchst dich nicht setzen." Stattdessen deutete er zu einer offenstehenden Vitrine. Schwummriges Licht waberte transzendös an die Decke hinan. „Ich hab dich eingeladen, damit wir uns etwas anschauen können."

„Sir?"

Perplex hielt Logan die Stuhllehne fest.

Dumbledore seufzte schwer. Als hätte sich diese Ausschweifung für ihn eigentlich längst erübrigt gehabt. Dabei wusste er genau, was penetrant wie Schwefelqualm zwischen ihnen stand.

„Wie ich hörte, hast du erfahren, dass Robert Pierce dein Geheimnis kennt?", sagte er deshalb.

Geduldig faltete er die Hände vor seinem Schoss. Regte sich trotzdem um keinen Zentimeter und nahm sich noch immer nicht seinem Schreibtisch an. Er klang als würde er ihr einen Gefallen tun.

Logan schluckte. „Er hat mich damit konfrontiert, ja."

„Genau wie mich, als ich seine Familie während der Weihnachtsfeiertage besuchte." Dumbledore gluckste: „Er war äußerst überzeugt von seiner Theorie."

Neugierig lugte er über den Rand seiner Halbmondbrille hervor. „Du hast ihm die Wahrheit auch kaum ausreden können, nehme ich an?"

Logan blinzelte in den Raum hinein.

Dumbledore musste ihre Verwirrung sehen. Also trat er einen ausladenden Schritt vor.

„Logan", sagte er geduldig. „vertraust du mir?"

„Er wird es der ganzen Schule verraten." Sie sagte das, weil das eine Unabdingbarkeit war. „Irgendwann."

Dumbledore zuckte nicht. „Vertraust du mir?"

Logans Körperwärme sammelte sich an der Stuhllehne an. War surreal, schwitzig, kalt. Sie hatte sich diese Frage tausendfach und doch auch nie gestellt. Dafür war die Stimme ihres Vaters immer zu präsent: Dumbledore bedeutet Sicherheit.

Diesmal harkte sie bei sich selber nach. Vertraute sie ihm?

„Ja", schloss sie, auch wenn es zögernd und vorsichtig und vorbehalten war.

Trotz dessen erreichte es Dumbledore. Die Eindringlichkeit fiel.

„Gut", befand er und wandte sich wieder der Vitrine zu. „Ich habe dich nämlich nicht wegen Robert Pierce hierher gerufen."

Verblüfft folgte Logan ihm, wie er den Raum durchschritt.

„Nicht?"

Er lächelte. „Nein."

Dann zog er mit der Eleganz einer geschmeidigen Handbewegung ein steinernes Wasserbecken aus seinem Schrank hervor. Lautlos glitt es in den Raum hinein und spätestens nun war zu verorten, von wo der dunsen blaue Schimmer kam. Die gläserne Flüssigkeit darin schwappte; strahlte seicht als wäre sie der Mond.

„Es gibt etwas, das du dir ansehen musst." Dumbledores Hände glitten die steinerne Kante entlang und sein Ausdruck hatte etwas Schmerzliches angenommen. Eine Unannehmlichkeit, vor der er sich gerne länger verborgen hätte. Diesmal konnte seine Rechtschaffenheit sie nicht überspielen. „Ich denke, es wird Zeit, dass du etwas verstehst."

„Sir." Jetzt hatte Logan die Lehne des Stuhls losgelassen, hatte ebenfalls einen Schritt in den Raum hinein gewagt. Sie hatte etwas dergleichen bereits einmal gesehen, in einem irischen Klassenraum, in den Händen ihrer Lehrerin für Zauberkunst. „Ist das ein Denkarium?"

„In der Tat."

Damals hatte Reed ihr in den Oberarm gestochen. Hey, hatte sie gesagt, heißt das etwa, mit so etwas kann ich meinen Kuss mit Bobbie Ryand immer wieder und wieder sehen?

Thormen neben ihr hatte die Lippen verzogen, ein ungeniertes Würgegeräusch: Glaub mir, das willst du gar nicht wieder sehen.

Es schwamm etwas Silbernes darin, in der klaren, bis auf den Steingrund durchschimmernden Flüssigkeit. Ein gläsernes Gewebe gleißenden Lichts, das willenlos wie eine hypnose Schlange durch die seichten Wellen trieb.

„Von wem stammt die Erinnerung, Sir?", fragte Logan, nun da sie das Denkarium erreicht hatte.

Dumbledore war zurückgetreten und in der unruhigen Spiegelung sah Logan dabei zu, wie das Wasser ihr eigenes, fahles Gesicht verzerrte.

„Es ist meine", antwortete er. Und tauchte mit der Spitze seines Zauberstabes in das Denkarium ein.

Prompt fror die Oberfläche fest – regte sich keinen Zentimeter mehr. Stattdessen brach der silberne Faden auf.

Ein seltsames Klingeln stieg in Logans Hinterkopf auf als würde etwas nach ihr rufen. Als spüre sie einen fernen Drang, als müsse etwas gleich beginnen.

„Sie liegt gut zwanzig Jahre zurück."

Anhand von seinen Lippenbewegungen verstand Logan, dass Dumbledore lauter sprach, doch unter dem sich auftauenden Rauschen konnten sie ihn kaum noch verstehen.

„Sieh sie dir an."

Da berührte ihre Nase das Wasser schon. Und auch, wenn sie es erwartete, benetzte kein bisschen Flüssigkeit ihre Haut. Stattdessen wurde sie durch einen zarten Schleier in die Tiefe gezogen.

Dumbledores Büro wurde dumpf. Die ratternden Gerätschaften meilenweit entfernt - und schon fiel Logan vornüber, am Nabel losgerissen, in das glänzende Licht hinein -

Und landete beinah an der exakt selben Stelle, von der aus sie gegangen war. Nur, dass sie diesmal auf der anderen Seite von Dumbledores Schreibtisch stand.

Das Schulleiterbüro war dasselbe. Mit den gleichen, neugierig lugenden Portraits, denselben schwirrenden Regalen und dieser selben, drückenden Düsterheit, die bloß die Deckenlampe über ihnen bekämpfte. Und wenn die Türen der Vitrine nicht zu gewesen wären, hätte sie sich denselben Tag eingeredet. Hätten nicht auch zwei fremde Gestalten auf der anderen Seite des Professorenpultes gesessen.

Ein jüngerer Albus Dumbledore sank neben ihr in seinen Stuhl. Das Leder knatschte bereits damals so wie es das heute tat.

Dumbledores Gesicht sah reiner aus. Weniger gegerbt, die Haut um die schmalen Augen glatt, der Bart kürzer. Doch den behutsamen Blick unter demselben Halbmondbrillengestell gleißend klar. In dieser Nacht trug er ein purpurnes Gewand.

„Danke, Mr. Bolton."

Dumbledore sprach in den Raum hinein. Erst glaubte Logan, es wäre an niemanden adressiert; beinah zuckte sie selber zusammen -

Bis sie den Jungen erkannte, der an der Tür zum Steinweiher stand. Und fast glaubte sie, sie sähe Gus. Dabei hatte Gus nie ein dunkles Hogwartsgewandt und eine rote Krawatte getragen. Und er trug auch nie das Vertrauensschülerabzeichen auf seiner Brust.

Sie flüsterte es: Dad.

Doch ihr entwich kein Ton. Und niemand der Anwesenden sah sich nach ihr um.

Andrew Boltons kurzgeschorenes Haar flackerte im Deckenlicht.

„Gerne, Professor."

Seine jungenhafte Stimme war ungreifbar.

Er zögerte. Wog ab, ob er wirklich entschuldigt war. Bis einer der Jungen, die auf den Stühlen vor Dumbledores Pult saßen, gehässig durch die Zähne pfiff –

„Mr. Kalgan." Dumbledore lächelte. Und der Junge im rechten Stuhl erstarrte.

Dann wandte Andrew Bolton sich um, die Miene ausdruckslos. Öffnete die Tür und verließ den Raum.

Geh nicht, bemühte Logan sich, doch er hätte sie nie gehört. Und anhand der schummrigen Wand, die hinter der Tür waberte wie flüssiges Gummi und die die schemenhafte Gestalt eines 17-jährigen Andrew Boltons verschluckte, wusste Logan, dass Dumbledores Erinnerung nicht weitreichend genug war.

Also riss sie sich los, sobald das Gewand ihres Vaters in der Schwärze verschwand – und sah stattdessen die beiden Jungen an. Die Mahagonistühle, auf denen sie saßen, waren ähnlich denen, auf den Logan immer Platz nehmen musste.

Dabei hätten die zwei Jungen kein größerer Widerspruch seinen können.

Der rechte von ihnen war einem Märchen entsprungen. Seidengoldenes Haar als hätte die Sonne es just geküsst. Gebräunte Haut, stahlblauer Blick. Rheinar Kalgan war schön gewesen.

Im Vergleich zu ihm wirkte der schwarzhaarige, rattengleiche Junge neben ihm wie ein Gestrüpp. Unkraut, das man nicht entfernt hatte, mit seiner Hakennase und seinem schwerfälligen Atem eine aberwitzige Karikatur. Auch, wenn die Jugend ihn seltsam faszinierend machte. Seine Augen waren blutunterlaufen.

„Mr. Kalgan."

Dumbledore wiederholte es und der Märchenprinz wurde starr. Sein gehässiger Ausdruck glättete sich. Der Rheinar Kalgan vor ihr hatte nichts mit dem Mann auf den Titelbildern gemein, der Jahre später in der Nacht aus Askaban verschwand.

„Sir." Seine Stimme war weich wie Samt. Seine Miene faktischer Ernst. „Das ist ein Missverständnis."

Dumbledore lehnte sich vor. „Gewiss."

Auch damals schon umgab ihn dieser Hauch geflissentlicher Amüsanz, die ihn unantastbar machte.

„Klären Sie mich auf. Was hatten Sie in den Kerkern zu suchen?"

Die Augen des Jungen neben Rheinar flüchteten wieder und wieder zu der Dunkelheit hinaus. Seine Finger knibbelten an der Nat seiner Jeans.

Doch Dumbledore sah ihn gar nicht an. Er beugte sich bloß zu Kalgan vor. Und erst jetzt konnte Logan über seine Schulter hinweg sehen, dass er etwas in seinen Händen hielt.

„Woher haben Sie den?"

Ein verräterisch blitzender Kompass wandte sich durch Dumbledores Griff. Schlug auf dem Schreibtisch auf.

Rheinar Kalgans Lider zuckten nicht. „Es ist nicht meiner, Sir."

Die Kühle, mit der er sprach, kam als hätte er sie sich aus Robs Mund geliehen.

„Ich weiß." Dumbledore wandte das Holz umher. Das reine Gehäuse. Die Windrose darunter, die nicht zuckte. Die wirkte als wäre sie willenlos, verloren. „Er ist trägerlos. Ein Rohstück. Ist er intakt?"

„Is'er. Voll funktionstüchtig."

Bei dem Jungen in Schwarz hatte sich ein Schalter umgelegt. Und erst, als er ebenfalls begierig vorschoss, war seine giftgrüne Krawatte zu sehen. Ehrliche Aufregung tanzte durch seinen Blick, beinah ekstatische Faszination.

„Es sin' keine Flüche auferlegt, Sir. Wir ham alles geprüft. Es geht uns nich um Grindlwald, wir –"

„Ich vertraue Ihrer Einschätzungskraft vollkommen, Mr. Gormock", befand Dumbledore.

Überrascht hielt Jope Gormock inne. Und glitt zwar still, aber trotzdem mit einer gewissen ehrenhaften Zufriedenheit auf seinen Mausaugen, an seine Lehne zurück.

„Trotzdem müssen auch Sie ungeachtet aller Faszination eingestehen, dass es sich um einen potentiell schwarzmagischen Gegenstand handelt, den Sie gar nicht besitzen dürften."

Entschlossen hob Dumbledore den Kompass empor und legte ihn auf einen Pergamentstapel neben sich. Rheinars Augen folgten ihm außer Reichweite.

Dann wurde Dumbledores Ton eindringlich: „Woran forschen Sie?"

Rheinar blinzelte.

„Forschen, Sir?"

Dumbledore faltete seine Hände. Zum ersten Mal erkannte Logan an ihm so etwas wie Ungeduld.

„Mr. Kalgan. Sie sind einer unserer Jahrgangsbesten. Ms. Pence unterrichtete mich erst kürzlich, sie atmeten und lebten ausschließlich in ihrer Bibliothek, sie ist ganz hin und weg." Logan kannte den erbarmungslosen Blick, mit dem er Rheinar ansah: „Also, woran forschen sie?"

„Es war eine dumme Idee."

„Sie wollen nach wie vor Heiler werden?"

Rheiner Kalgan presste seine Lippen zusammen. Logan kannte die Art und Weise, wie sich seine Nägel in die Holzlehnen bohrten.

„Man hat die Erkrankung meines Vaters nicht erkannt. Man hätte ihn heilen müssen."

Keine Regung in Dumbledores Gesicht verriet, ob ihn diese Aussage überraschte. Stattdessen gab er sich ehrlich interessiert: „Und was ist es, dass dieser Kompass dagegen ausrichten soll?"

In Rheinar Kalgans Augen war etwas erschienen. Aufgeblitzt wie ein Feuer. Mit einer entflammten Dringlichkeit, die Logan aus einem Ruinenklassenzimmer kannte.

„Der Zauber, der auf diesen Kompassen liegt, zeigt den Weg zum größten Glück."

Dumbledore hob seine Brauen. „Mr. Kalgan. Er wird Sie nicht zu ihrem Vater führen."

Rheinar schnaubte. „Das ist es nicht. Sie wissen, wie er funktioniert." Seine Augen bohrten sich auf den Kompass; mit einer Ehrfurcht, die seine Wangen straffte. „Er bindet sich an einen Träger. Aber er bindet sich nicht an die Person, er reagiert nicht primär auf Hautkontakt. Er bindet sich an die Seele, Sir. Es ist die höchste Theorie der Seelenforschung, dass –"

„Schwarzmagische Flüche geheilt werden können, in dem man sie mit dem gesunden Teil einer Seele bereinigt." Dumbledore sprach in einer Nüchternheit, die wie Selbstschutz klang. Trotzdem ließ sein eindringlicher Blick Kalgan nicht los. „Das ist mir bekannt. Und es ist noch niemandem gelungen."

Doch der sah nicht zurück. Starrte auf das Gehäuse mit einer Intensität, die seine Lippen spannte.

„Wenn es möglich wäre, den Bindungsmechanismus des Kompasses zu extrahieren –"

Dumbledore schielte auf den Wegweiser. „Sie möchten den Prägungszauber nutzen –"

„Und ihn an den gesunden Teil einer menschlichen Seele binden. Sir, es könnte tausende Heilen." Rheinars Finger waren ineinander verzahnt, das Adrenalin trieb das Blut dort hinaus. „Man muss den Zauber nur dazu kriegen, nicht nach dem größten Glück zu suchen, sondern –"

„Nach dem gesunden Seelenkern eines Patienten." Dumbledores Augen schmälerten sich. Er begriff, bevor Kalgan es sah: „Und dann?"

„Dann muss es gelingen, ihn von der kranken Seele zu trennen."

„Sie wollen eine Seele spalten?"

Rheinar war an die Kante seines Stuhls gerückt: „Ja."

Dumbledore hingegen sank in seine Lehne hinein. Und seine drahtigen Finger glitten durch seinen Bart.

„Das ist eine bemerkenswerte Idee", befand er schließlich und Logan glaubte, das Pulsieren von Rheinars Herzschlagader zu hören. „Aber auch eine Gefährliche."

„Sir, die Seelenforschung bietet den entscheidenden Hinweis, sie –"

„Ist nicht einmal den höchst ausgebildetesten Heilern gänzlich erschlossen."

Die Miene ihres Schulleiters hatte sich verhärtet. Und was zuvor vielleicht noch Hoffnung auf Verständnis gewesen war, zog sich nun wie eine türmende Mauer an Ablehnung vor Rheinar empor.

„Sie besitzen Bücher dazu."

„In der Tat." Dumbledores Stirn straffte sich. „Aber ich fürchte nach wie vor, ich kann sie Ihnen nicht aushändigen."

Irgendetwas in der Szenerie wurde dröge. Als sinke langsam aber sicher Staub durch das Bild. Und als verdicke es jeden von Dumbledores Ton.

„Es gibt viele Mächte, für die Sie sich mit Ihrer Forschung interessant machen."

Rheinar hob seine Brauen. Lang und zäh und in Unwirklichkeit. Er sprach in Spott: „Malfoys und Blacks Machtkämpfe für die reine Zauberergemeinschaft haben mich noch nie interessiert."

Dumbledores Mundwinkel zuckten. „Das ist mir bewusst. Und es beruhigt zugleich."

Seine Worte hatten begonnen, wie ein Gong nachzuhallen. Als würden sie mit drückendem Wind in die Ferne getragen.

„Mr. Kalgan, Mr. Gormock, Sie sollten in Ihre Schlafsäle zurückkehren. Morgen steht Ihre UTZ-Prüfung in Verwandlung an, richtig?"

„Korrekt, Sir."

Die Stühle schürften über das Holz. Das Bild verschwamm als hätte jemand an der Oberfläche gekratzt, oder einen Stein in einen See geworfen.

„Gute Nacht, Sir."

Logan hörte die zerfließende Stimme Dumbledores noch, ehe es sie aus der Szenerie zog – „Eine gute Nacht."

Sie schlug mit den Füßen auf dem Dielenboden auf, ohne sich je davon gelöst zu haben. Als dränge die Schwerkraft in sie zurück.

„Professor."

Die Welt um sie nahm bloß schemenhaft Gestalt an. Logan keuchte. Der Dumbledore aus ihrer Zeit stand nicht mehr neben ihr, er hatte sich zurück ans Turmfenster bewegt.

„Was hat das zu bedeuten?"

„Logan." Er fuhr herum. Beinah ein wenig überrascht, dass es schon vorbei war. Dann blinzelte er durch seine Halbmondbrille hindurch. Vertrieb den Gedanken, in den er verfangen gewesen war und bündelte all seine Aufmerksamkeit auf ihr. Mit einer Handbewegung ließ er das Denkarium zurück in die Vitrine gleiten. Lautlos, und Logan nahm ihren Griff von dem Stein.

„Es bedeutet, dass wir eine Ahnung haben, was Kalgan vermutlich zu den Todessern getrieben hat."

„Seine Forschung?"

Dumbledores Finger verkeilten sich in seinem Bart. So wie in einer anderen Nacht, in der er Andrew Bolton aus dem Raum geschickt und Rheinar Kalgan gehen lassen hatte.

„Rheinar hatte viele Prinzipien, musst du wissen, doch die meisten galten seinen eigenen Zielen. Alles, was er tat, tat er für ein größeres Wohl." Auf seinen Ausdruck war etwas Nostalgisches getreten. Wie eine ferne Erinnerung, die die Konzentrationsfalten auf seiner Stirn verwischte. „Sein Vater, ein hoch angesehener Auror, war Jahre zuvor an einem schwarzmagischen Fluch gestorben. Ein tragischer, langsam wie qualvoller Tod für die ganze Familie. Vermeidbar."

Die Türen der Vitrine glitten zu und ließen Logan mitten im Raum zurück.

„Sie meinen, Sie-Wissen-Schon-Wer hat sich für Kalgans Forschung interessiert? Aber was sollte er mit medizinischem -"

„Es ging Voldemort nicht ums Medizinische. Ich bin mir sicher, dass er für Rheinars Forschung viele andere Interessen hatte." Dumbledores Lippen schlängelten sich unter seinem Bart, als wäre er auf ein äußerst vergnügendes Rätsel gestoßen, von dem er hoffte, dass auch Logan es löste: „Was hat Rheinar noch gesagt, das für den Dunklen Lord von Bedeutung wär?"

„Seelenforschung." Das war das Erste, was ihr einfiel. „Man kann eine Seele spalten?"

Dumbledore seufzte. „Die meisten Hexen und Zauberer, die das untersuchten, hatten nicht solch noble Heilungsambitionen wie Kalgan im Sinn. Meist ging es darum, das eigene Leben zu verlängern."

Er trat an seinen Schreibtisch zurück. Und erst jetzt fiel Logan auf, dass ihr Kompass mit einer zuckenden Nadel auf dem Schreibtisch lag. Genauso, wie beim letzten Mal.

„Wegweiser", begann Dumbledore ausschweifend „binden sich, wie du gehört hast, immer an eine Seele. Das ist ihr Prägungsmechanismus. So kann er sicherstellen, dass er immer nur auf einen Menschen hört, er kann nicht mit Vielfsafttränken der Animagi-Gestalten getäuscht werden."

„Kalgan sprach davon, seine Orientierung zu ändern. Ihn nicht nach dem größten Glück für eine Seele, sondern –"

„Nach etwas anderem suchen zu lassen. Demselben Mechanismus ist Grindelwald damals gefolgt, als er hunderte Wegweiser manipulierte, damit dessen Träger in seinem Namen handelten."

„Hat Sie-Wissen-Schon-Wer das auch gewollt?"

Dumbledore blickte auf den Kompass hinab. Die Spiegelung seiner Brille brach an dem Riss im Glas.

„Nein. Voldemort hat etwas anderes interessiert." Seltsam zäh hob er den Kompass empor. „Wenn es möglich ist, seine Orientierung zu beeinflussen, kann er wie etwas anderes funktionieren."

Logan holte tief Luft. Rasselnd, als atmete sie Ruinenzimmerluft ein. Darüber hatte sie schon einmal nachgedacht –

„Wie eine Karte, Sir. Er kann eine Karte sein."

Dumbledore nickte. „In der Tat. Eine Karte, die nur auf einen einzigen Menschen hört."

„Auf Sie-Wissen-Schon-Wen?"

„Korrekt." Dumbledore lächelte gequält. „Beinah."

Er drehte den Kompass so, dass Logan sich selbst in der gerissenen Glasoberfläche sah.

„Wir müssen davon ausgehen, dass Kalgan diesen Kompass für Voldemort modifiziert hat. Damit sie nur ihn an ein besonderes Ziel führt." Sein Tonfall war ausdrücklich scharf. Und Logan ahnte, wie wichtig es war, dass sie das nun verstand: „Wenn wir Mr. Pierces Behauptungen glauben und Rheinar seine Taten bereut hat, dann wird er versucht haben, die Prägung zu lösen, damit Voldemort ihn nicht mehr nutzen kann. Das ist ihm nicht gelungen."

In dem Raum um sie war es dunkler geworden. Und keine einzige Gerätschaft regte sich.

„Man kann eine Prägung nicht lösen, sobald sie einmal da ist. Sie bleibt, bis die entsprechende Seele stirbt. Alles, was man tun kann, ist eine neue zu erschaffen. Und genau das hat Kalgan getan."

„Sie meinen, es befinden sich zwei Prägungen darin?"

Dumbledore nickte. „Eine für den dunklen Lord. Und eine –"

„Für mich."

Dort drin kämpft etwas gegen seinen Zauber an.

Der Kompass glitt auf den Schreibtisch zurück, Logan folgte ihm.

„Gewiss war sie nicht für dich gedacht, Kalgan schuf sie für sich selbst. Damit er dem Kompass folgen und das finden konnte, was auch immer Voldemort vor der Welt verbirgt. Aber Kalgan starb. Genauso wie dein Vater und dein Bruder Augustus."

„Und jetzt liegt sie auf mir."

Dumbledores silbernes Gewand spannte sich, als er sich vor dem Turmfenster aufbaute. Und Logan mit einem Mitleid bedachte, das er noch nicht einmal an dem Tag getragen hatte, als sie in den Grimmauldplatz eingefallen war.

„Es wird Ihnen nicht gelingen, die Prägung zu lösen, richtig, Sir?" Logan fragte das, weil es bis in ihre Zunge pulsiert war. Ihre Hände waren schrecklich kalt geworden, nass vor Schweiß, im Kampf gegen die Erkenntnis.

„Nein." Dumbledore sprach es mit simpler Endgültigkeit. „Eine neue zu erschaffen ist wesentlich leichter. Aber die Gefahr, dass es ihn zerstören würde, ist viel zu groß. Du kennst die Anspannung, unter er der mit bloß zwei gegeneinander kämpfenden Prägungen steht."

Logan hatte das Gefühl, dass die Dielen unter ihren Füßen schmolzen. Weich und inkonsistent als könnte sie nicht wirklich gerade stehen. Sie dachte an die Energie, die von ihm ausgegangen war, als er über ihren Köpfen thronte und Rob damals auf ihn zielte –

„Was hat das zu bedeuten, Sir?"

Dumbledores Finger verhakten sich ineinander. Er lächelte sanft, doch das änderte nichts.

„Dass ich dich eines Tages bitten werde, diesem Kompass zu folgen."

Logan spürte, wie in dem Moment ihr Herzschlag starb.

„Sobald ich weiß, was sein Ziel sein kann."


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Naja. Jetzt wissen wir es. Jetzt wisst ihr, was am Ende dieser Geschichte passieren wird: Logan muss dem Kompass folgen. Und es ist gar nicht mehr allzu lang, bis es so weit ist.

Was haltet ihr von Jopes und Rheinars Freundschaft, von der habt ihr ja vorher noch gar nichts gewusst?

Wie findet ihrs, dass Kalgan eigentlich nur Gutes mit der Seelenforschung vorhatte? 

Und was glaubt ihr, wo führt der Kompass hin? Wofür hätte Voldemort eine Karte gebraucht, damit nur er immer wieder und wieder den Weg dorthin findet? 

Logan muss das alles jetzt erst einmal schlucken. Das nächste Update kommt deshalb nicht schon am Dienstag, sondern Mittwoch. Genießt das Pfingstwochenende, ich sende euch alles Liebe!

Ally x

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