39 | robs wahrheit.

[...] Einer der beteiligten Auroren starb, zwei wurden leicht verletzt. Von Rheinar Kalgan oder seiner Leiche fehlt jede Spur. Jolanda Pierce, die als einzige Nahestehende neben Kalgans Eltern vernommen werden sollte, wird bezüglich seines Verschwindens ebenfalls untersucht.

Logan starrte so fest auf die unterste Zeile des vierten Paragraphen, dass ihre Augen tränten. 

Das siffige Papier des Tagespropheten vom Jahr 1982 war von einer matten Staubschicht überzogen, die sich in ihre Fingerkuppen fraß, und umso länger sie es vor sich hielt, desto welliger wurde die Titelseite.

Von Rheinar Kalgan fehlt jede Spur.

Das Zeitungsarchiv der Hogwartsbibliothek war genauso kalt wie an jenem Septembermorgen, an dem Logan hier zuletzt gesessen und genau dieselben Worte in sich aufgesogen hatte wie frisch gepresstes Lebenselixier.

Jolanda Pierce -

Irgendwo draußen, ganz nah am Fenster, rauschte ein Uhu vorbei.

Einzig Nahestehende von Rheinar Kalgan -

Sie wusste, dass ihr Magen vor Hunger eigentlich grummeln wollte, doch die Panik schnürte Logans Kehle derart zu, dass ihr selbst das Lufthohlen wie ein brachialer Widerstandsakt erschien.

Roberts Mutter kannte Rheina Kalgan.

Die streitenden Viertklässler zwei Regalreihen weiter waren gegangen. Schneeregen hatte eingesetzt und trommelte leise wie ein schaulustiger Wegbegleiter gegen die dünne Fensterscheibe über ihr.

Jolanda Pierce und Rheinar Kalgan. Robs Mutter und der Grund für den Mord an ihrer Familie.

Logan atmete fest und wusste, dass sie nicht viele Möglichkeiten hatte. Es war der winzig kurze Moment der Gefasstheit, bevor die Panik einsetzte. Und genau so bittersüß schmeckte das Blut in ihrem Mund, während sie sich auf die Wange biss.

Jolanda Pierce und Rheinar Kalgan.

Wenn Logan ihr Augenlid auch nur einen Spaltbreit öffnete, konnte sie durch die beiden Regalreihen Madam Pince hinter ihrem Tresen werkeln sehen und die Lichter über ihrem Kopf zogen sich in glänzend goldene Schliere.

Entweder, jeder um sie herum übersah das Offensichtliche, oder die Wahrheit war eine andere.

Logan rollte mit den Schultern. Robs Mutter hatte den Mann gekannt, der vielleicht einen Teil zu dem Tod ihrer Familie beizutragen hatte. Den Mann, von dem der Kompass kam. Und die Ecken des Tagespropheten bogen sich unter dem Stoff ihres Schulrucksacks, in den sie die Titelseite zwängte.

Jetzt, mit dem aufwallenden Gallensaft und plötzlich einsetzender Kälte, kam die Panik.

Robs Mutter hatte ihn gekannt. Gut. So gut, dass sie als Zeugin auf seiner Seite vorgeladen worden war. So gut, dass sie vielleicht vorgehabt hatte, für einen Todesser einzustehen. So gut, dass sie vielleicht nie den Kontakt zu ihm gebrochen hatte, so gut, dass vielleicht auch Rob ihn kannte - Er ist ein Slytherin, Logan. Du kannst ihm nicht vertrauen.

In der großen Halle brannte noch Licht und ein lautes Besteck-Klirren erstickte das Stimmengewirr. Das Grummeln in ihrer Magengegend hatte sich jedoch noch immer nicht in Appetit gewandelt, war viel eher das Schürfen von Krallen in ihren Eingeweiden. Also preschte sie an dem Eingangsportal vorbei zum Gemeinschaftsraum empor.

„Wo bist du gewesen?"

Corben saß unter der Treppe und schrieb an seinem Verwandlungsaufsatz, als Logan durch die Tür gestolpert kam. Vor ihrer brennenden Netzhaut wirkte er schrecklich weit entfernt.

Bevor sie sich an ihm vorbei schieben konnte, hielt er sie auf.

„Ist alles gut?"

Alle Eingeweide in ihr krampften.

„Hör mal", raunte Corben dann, weil Logan bloß verbissen in das glimmende Feuer starrte und zwanghaft versuchte, das Salz, das ihr in die Augen schoss, hinunterzuwürgen. „Rob hat tatsächlich geschlafen, aber Pomfrey sagte, wir dürften morgen vorbeikommen. Zwar nur einer von uns, weil er seine Ruhe braucht, aber es geht ihm wohl wesentlich -"

„Du kannst gehen."

Ihre Stimme klang als käme sie gegen den Kloß in ihrem Hals nicht an.

Corben reckte den Kopf als versuche er, sich in ihr Blickfeld zu schieben. Doch Logan ertrug das Grau seiner Augen nicht und all die Heimat, die sie darin einst zu sehen geglaubt hatte.

„Sicher?"

Sie zuckte die Achseln. „Klar." Sie wusste nicht, ob sie Robs Gesicht jemals wieder ertragen konnte. Auch, wenn der Sturm in ihr nach Antworten tobte; die panische Angst, gar nichts mehr zu begreifen, schnürte ihr die Kehle zu. „Bin grad eh nicht in Stimmung dafür."

„Logan." Corbens Worte waren längst eindringlich geworden und plötzlich fiel ihr stärker auf denn je, dass er sie noch immer an der Schulter berührte. „Ist alles okay bei dir?"

Also schob sie sich von ihm los und ließ ihn stehen. „Muss nur ins Bett."

Und dorthin verschwand sie auch.

Die Nacht kroch mit einer Winterkälte und niederfallendem Schnee über Hogwarts, der Logan vorkam wie die Reißleine zu einer anderen Welt. Die Zeilen des Tagespropheten schimmerten im Licht ihres Nachtschränkchens und sie rührte sich nicht, als Anne und Naome um zehn Uhr den Schlafsaal betraten und in die Stille hinein nach ihr fragten. Und auch der Vorhang um ihr Bett blieb stumm, als sie Corbens Namen sagten und beteuerten, dass er nach ihr fragte.

Der nächste Morgen brachte gleißend klare Weiten, über den Frühstückstischen schwebende Kerzen und die Trägheit eines Samstagmorgens, die manche Tage unwirklich erscheinen ließ.

Logan verbrachte die zehrenden Stunden dieses dunklen Wochenendes, an dem die Sonne früher sank denn je, in den Gängen der Bibliothek und las zum zweiten Mal jede einzelne Zeitungsausgabe, die sich mit Rheiner Kalgan und seiner Festnahme befasste. Diesmal jedoch mit einem schrecklich unappetitlichen Gefühl in der Magengegend und darauf bedacht, einen zweiten Namen zu finden. Doch Jolanda Pierce wurde kein einziges Mal mehr erwähnt und irgendwann im Jahr 1986, als ihr erster Beitrag im Tagespropheten über schwarzmagische Artefakte die Titelseite einnahm, ließ Logan es sein.

„Pomfrey sagt, es wäre ein Brandmal", raunte Corben am Sonntag Abend, als sie gemeinsam vor dem Kamin saßen. Er hatte sich eben erst neben sie fallen lassen und noch immer haftete der sterile Krankenflügelduft an ihm.

Logan presste die Lippen aufeinander, während sie auf die zerfließenden Zeilen ihres Aufsatzes starrte.

Corben beugte sich vor: „Bei Merlins Bart, das Ding geht über seinen ganzen Arm." Logan schwieg. „Ernsthaft, solche Sachen entstehen nicht einfach so."

Sie musste die warme Gemeinschaftsraumluft inhalieren, um ihn und seinem ernsten Blick standhalten zu können. Jegliches Interesse an dem Kompassrätsel war wie aus ihrem Verstand geblasen.

„Wird er's überwinden?", fragte sie also bloß und Corben zog die Stirn kraus.

„Überwinden?" Er schnaubte. „Quatsch nicht, Rob fliegt drauf." Genüsslich sank er in die Kissen zurück. „Er sagt, und ich zitiere, 'Jetzt werden die Ladys mir aber -'"

„Corbs." Logan unterbrach ihn mit einer Direktheit, die in ihren eigenen Wangen brannte. Sie hatte ihre Lider geschlossen. „Tut mir leid, aber können wir nicht über Rob reden?"

Logan wusste, dass Corbens Blick sich verhärtete, ohne ihn ansehen zu müssen.

Er beugte sich vor. Und seine Finger legten sich sanft um ihre. Sie ertrug seine Wärme nicht mehr. Und die zarte Stimme, die hauchte: „Sagst du mir endlich, was los ist, oder muss ich weiter rätseln?"

Sie hatte grade den Mund aufgemacht, um ihm zu antworten, als vor ihnen die Sessel knarrten.

„Keine Sorge", kam es von vorne und Naome schlug genüsslich ihr Verwandlungsbuch auf. „Lo schleppt bloß chronische Sturrkeiteritis mit sich herum."

Schnaubend ließ Logan ihr eigenes Buch zufallen. Stand auf, ignorierte Corbens in den Nacken geworfenen Kopf -

„Das ist nicht mal ein Wort, Naome", war alles, was sie sagte, bevor sie in den Schlafsaal ging.

Rob wurde für das ganze Wochenende nicht aus dem Krankenflügel entlassen. Und Logan war mehr als froh darum. Denn auch, wenn sie ahnte, dass sich Naome zwischen den Mahlzeiten immer wieder zu ihm schlich, besuchte sie ihn kein einziges Mal.

Nicht, als Corben sie unter argwöhnischen Blicken traktierte und auch nicht, um ihm am Dienstag nach ihrem Nachsitzen bei Snape von der Tortur zu erzählen, die es gewesen war, zerfallende Flupperwürmer ohne Schutzhandschuhe von den noch lebenden loszureißen, die allem Anschein nach für so kleine Wesen einen erschreckend großen Drang zum Kannibalismus hatten. Und auch Corbens Hände waren noch bei ihrem Quidditchtraining am Mittwoch von der Kesselsäuberungstinktur so aufgeweicht, dass er kaum einen Quaffel fing.

„Sieh's ein, es ist zu kalt!", zog Tina an diesem Abend den Trugschluss, als auch Maureen ihren Schläger zum fünften Mal in die Dunkelheit fallen ließ. Flocken dick wie Daumennägel rieselten schon seit Tagen vom Himmel und manchmal bildete Logan sich ein, unter dem gleißenden Licht der Stadionscheinwerfer ihren eigenen Atem in der Luft gefrieren und gen Boden fallen zu sehen.

Doch aus irgendeinem Grund fühlte sich das langsame Sterben jeglichen Gefühls ihrer Gliedern nach Erlösung an.

Nichts desto trotz beendete Corben an diesem Abend ihr Training früher als sonst und ihre Wangen dampften von der heißen Dusche in der Eiseskälte als sie sich mit ihm gemeinsam zum Schloss begab.

„Ist alles gut bei dir?", wollte er wissen und festigte seinen Griff um ihre erfrorene Hand.

Sie zeigte ihm ein fahriges Nicken.

„Rob geht es übrigens immer besser." In den vergangenen Tagen erzählte er es wie beiläufig und auch jetzt schlug es nicht anders von den sandsteinernen Treppengelendern zurück. „Bleiben nur blasse Narben zurück. Vielleicht kommt er bald raus."

Weil Logan daraufhin jedoch noch immer keine Regung zeigte, ergänzte er: „Er hat übrigens gefragt, wo du steckst. Sagt, er würd' mal wieder gegen jemand Schach spielen wollen, der genau so grottig ist wie er."

„Ich hab keine Zeit, ihn zu besuchen." Logan verkündete es mit solch einer Nüchternheit, dass ihre Worte allein mehr Kälte erzeugten als der draußen rauschende Winter.

Allein der Gedanke daran, sich Rob gegenüberzustellen, ließ ihr ätzenden Gallensaft die Speiseröhre hochsteigen. Während sie vor zwei Wochen noch geglaubt hatte, ihn so erschreckend gut einschätzen zu können, so war sie sich doch heute sicher, ihn nie wirklich gekannt zu haben.

Und so begann sich ihre Vorstellung von Rob und die Erinnerungen daran, wer er war, zu verzerren. Als zöge ihr eigener Verstand eine scheußliche Grimasse. Denn um so länger sie über ihn, seine Mutter und Rheinar Kalgan nachdachte, desto abstruser wurden ihre Theorien.

Was war, wenn Roberts Mutter tatsächlich in Verbindung zu Rheinar Kalgan stand?

Die Federn ihres Bettes knatschten an diesem Abend, als sie das noch vor Tagen von Corben geliehene Die Kunst des Zauberformens auf ihrer Matratze aufprallen ließ.

Hatte sie von seinen düsteren Machenschaften gewusst?

Sie fing den Einband, ließ ihn aufs Neue fallen.

War auch sie eine Todesserin gewesen?

Wieder quietschte das Bett.

Hätte sie Kalgan den Rücken decken wollen?

Logan beugte sich vor.

Hatte Rob von Rheinar Kalgan gewusst?

Die einzelnen Ecken des Buches bogen sich, als es auf dem Laken landete.

Oder schlimmer noch: Hatte er ihn  gekannt?

Mit einem Mal saß sie kerzengerade im Bett.

War es möglich, dass Rob ein Todesser war?

Diese Spekulationen brannten sie sich mit jeder vergehenden Stunde tiefer in ihr Fleisch. Und immer, wenn sie morgens aufstand, Abends ins Bett ging und während den Unterrichtsstunden aus dem Fenster starrte, versuchte sie sich an den Robert Pierce zu erinnern, den sie zu kennen glaubte. Und sich davon zu überzeugen, dass nur, weil seine Mutter Rheinar Kalgan kannte, er deshalb nicht automatisch jemand vollkommen anderes war.

Die brennende Befürchtung in ihrem Hinterkopf jedoch, sich in ihm getäuscht haben zu können, peinigte sie bei jedem Schritt.

„Mum will unbedingt, dass wir über Weihnachte nach Hause kommen", berichtete ihr George am Donnerstag bei einer wenigstens abwechslungsreichen Unterhaltung auf dem Weg zu Zaubertränke, den sie diesmal ganz bewusst nicht mit Corben oder irgendjemand anderem angetreten war.

Im Gegensatz zu ihnen verloren die Zwillinge kein Sterbenswörtchen über Rob, das Nachsitzen bei Snape oder den Krankenflügel und gaben Logan so die Chance, ihr schlechtes Gewissen tiefer in sich zu verkorken.

„Kommt jetzt ziemlich mies, wenn du mich fragst", beteuerte Fred, während er in seinem Schulrucksack nach dem halbfertigen Aufsatz für Snape blätterte, um die Schriftbreite zu verdoppeln.

„Wir haben nämlich noch keine Geschenke. Dachten, wir können uns bis nach Weihnachten Zeit lassen und unnützes Kram weiterverschenken" - George nahm ihm einen Stapel Bücher ab - „und dann sagen, die Posteulen hätten sich verspätet. Also Quasi Geschenkeverwertung vom Feinsten."

Mit einem strahlenden Gesicht zog Fred den zerknitterten Papierstapel hervor und ergänzte: „Das können wir jetzt vergessen."

„Deshalb müssen wir unsere letzte Chance in Hogsmeade am Wochenende nutzen, um -"

Fred schnaubte. „Naja, 'wir' ist großzügig formuliert."

Er wuchtete die Bücher zurück in seinen Rucksack und die Träger ächzten unter dem neuen Gewicht. Auf seinem Gesicht sammelte sich Schalk, bevor er zu George deutete: „Er hier hat am Samstag nämlich leider schon was vor und deshalb darf ich die ganzen Besorgungen alleine machen."

Verblüffte lugte Logan zu George empor. „Was denn?"

Sie war sich nicht ganz sicher, doch für einen Moment glaubte sie, seine Nasenspitze rosa anlaufen zu sehen.

George hatte sich trotzdem bemüht, den Mund für eine Erklärung zu öffnen, doch Fred war schneller: „Hat ers dir noch nicht erzählt? Mir hat ers schon siebenunddreißig Mal gesagt: Er hat Tracie Warwick um ein Date gefragt." Freds Grinsen wurde sichelgroß. „Und sie hat ernsthaft Ja gesagt."

Zu den Einzelheiten dieser Umstände gab sich George jedoch nicht sonderlich auskunftswillig. Stattdessen verbarg er jegliche Details hinter einem selbstzufriedenen Lächeln und etwas, das er womöglich für das Schweigen eines Gentlemans hielt. Während der späteren Stunde bei Binns war Logan jedoch ziemlich sicher, gemurmelte Dinge wie 'Madam Puddifoots' und 'Fand mich beim letzten Quidditchspiel gut' rauszuhören.

Georges scheinbarer Erfolg im Liebesleben war dabei jedoch nur eine recht kurzweilige Ablenkung gegenüber dem Gedankenstrudel, in den Logan sich seit dem vergangenem Wochenende zerfraß und spätestens, als sie sich an diesem Abend zum Training aufmachen wollte, hatte sie diesen Umstand beinahe wieder vergessen. Auch, wenn Fred ihr auf dem Weg zum Mittagessen noch so amüsiert in den Ohren gelegen hatte - Fühl mich schon so'n bisschen wie'n stolzer großer Bruder und bin ich ja auch.

Zum Abendessen war die große Halle rege gefüllt und an der Schwelle zum Eingangsbereich hatte sich lange eine braune Pfütze aus Schneematsch der Ländereien gesammelt, der Logan beinahe froh machte, am Wochenende nicht dem Gruppendruck unterliegen und nach Hogsmeade streunen zu müssen.

„Rob wird nächsten Montag entlassen."

Naome kam als letzte an ihren Tisch. Corben und Logans Blicke schossen zeitgleich auf.

„Ich komm grad vom Krankenflügel", bemühte sie betont nebensächlich zu sagen und langte nach dem Brötchenkorb. „Hat wieder in allen Fingern Gefühl."

„Ich dachte, du wolltest die Aufgaben für Alte Runen in der Bibliothek machen?"

Anne grinste sie schamlos an. Naome hingegen starrte bloß auf ihr Brötchen.

 „Wollte nur fragen, wie's ihm geht."

Dabei war Logan sich sicher, dass sie Brixtons genuscheltes 'So wie die letzten sechs Tage auch' genau gehört haben musste. Auch, wenn sie es gekonnt überging.

An diesem Abend, bevor sie sich auf dem Weg durch das Schneetreiben zum Quidditchplatz hinabkämpfte, stand Logan eine ganze Weile vor dem vierten Korridor des Ostflügels und starrte die Steinwände entlang. Und überlegte ernsthaft, Rob einen Besuch abzustatten und ihn zu fragen. Geradeheraus, so nebensächlich wie möglich - Hey Rob, was hatte deine Mutter vor sechzehn Jahren mit einem Todesser zu tun, der jetzt vielleicht an dem Tod meiner Familie Schuld hat?

Doch vielleicht, weil ihre Zeit immer knapper wurde, Tina sie an der Abzweigung zum Krankenflügel entdeckte und ihre Furcht vor den Antworten sie hinderte, ging sie nicht. 

„Sicher, dass du nicht doch noch raus möchtest?", fragte Corben sie am Samstag Nachmittag, als sie gemeinsam vor dem Feuer im ravenclaw'schen Gemeinschaftsraum saßen und die Beine übereinanderschlugen. Verstohlen lugte er über die neuste Ausgabe des Tagespropheten hinweg. „Ich wette, bei Madam Puddifoots gibt's gerade Weihnachtspunsch."

„Nein, danke", seufzte Logan und zupfte gedankenverloren an dem Stoff seiner blau-silber geringelten Wollsocken, die seine Tante ihm scheinbar im Lebensvorrat zugeschickt hatte. „Ich hab keine Lust mehr, mich unerlaubt irgendwo hin zu schleichen."

Außerdem graute es ihr vor der Vorstellung, nur zwei Tische weiter George bei seinem heiß ersehnten, ersten Date mit Tracie Warwick stören zu müssen und ihre Knutschgeräusche zu ertragen.

Sie warf einen misslungen Anfang für einen Aufsatz über Gegengiftverhältnisse in die glimmenden Flammen und das gleißende Flammenblau stob empor.

„Was tust du an Weihnachten?" Mit einem Knistern faltete Corben die Titelseite in der Mitte und schmiss den von Tag zu Tag dicker werdenden Pergamentbatzen des Tagespropheten auf den Tisch. „Fährst du nächste Woche heim?"

„Nein."

Der Gemeinschaftsraum um sie herum war leer. Nahezu jeden Schüler hatte es für letzte Besorgungen ins Zaubererdorf gelockt.

„Meine Eltern sind geschäftlich unterwegs."

Corben setzte sich auf und griff nach ihrer Hand; zwang sie, den Federkiel und das Zaubertrankbuch beiseite zu legen.

„Also bleibst du hier?", schlussfolgerte er, während er sie sanft an den weichen Stoff seines Pullovers zog. Sie nickte und die einzelnen Wollfasern kratzten an ihrer Wange. Corben räusperte sich. „Ich meine, ich könnte auch - also, wenn du nicht alleine sein willst, meine Eltern hätten bestimmt nichts dagegen, wenn ich -"

„Du brauchst nicht wegen mir hierzubleiben", versicherte sie ihm und lugte über die dünnen Brillengläser zu ihm hinauf.

Seine Finger zeichneten Kreise in ihr Haar.

„Ich will nicht, dass du an Weihnachten alleine bist."

Die Unausweichlichkeit des Ganzen trieb ihr Ironie in die Stimme, dabei meinte sie ihre Worte durchaus ernst: „Naja, manchmal bin ich gerne allein."

Das Wochenende verging mit der Schläfrigkeit sich langsam nähernden Feiertagen und Logan hatte das Gefühl, dass sich bei jedem weiteren, auftauchendem Mistelzweig bloß mehr Taubheit in ihr Empfinden schob. Noch nie in ihrem Leben hatte sie derart wenig Vorfreude auf Weihnachten empfunden und als Fred sie am Montag Morgen auf dem Weg zu Zauberkunst mit einem Schneeball an der Schulter traf, warf sie nicht einmal zurück.

Der Montag, an dem Robert Pierce aus dem Krankenflügel entlassen wurde, drohte mit einem Schneesturm. Ihre Stunde Pflege Magischer Geschöpfe wurde abgesagt und Logan starrte beim verspäteten Frühstück mit so einer Anspannung auf den Slytherintisch als könne sie von dort jederzeit ein hervorspringendes Monstrum erwarten. Doch von Rob fehlte jegliche Spur.

Umso weiter der Tag jedoch verstrich, desto mehr spürte sie in sich tobende Panik und ein reißerisches Dilemma, das ihr schon seit dem vergangenen Wochenende die Konzentration zerriss. Ihr Kopf hatte sich mit Spekulationen über Rob gefüllt, durch die sie keinen roten Faden mehr sah und beinahe bildete sie sich beim Mittagessen ein, bei dem er immer noch fehlte, dass sie sich kaum mehr an den wirklichen Klang seiner Stimme oder die Form seines Kopfes erinnern konnte. Als hätte sie ihn all die Monate zuvor nie wirklich gesehen.

Der Entschluss, dass sie mit ihm sprechen musste, trieben sie in den Wahnsinn . Immer wieder huschten ihre Augen die Gänge entlang, suchten nach blonden Locken, die sie nie fand, nach dem Duft nach Minze und dem Klicken eines Feuerzeuges - sie wollte nicht mit ihm sprechen, doch eine Stimme, die der Vernunft schrecklich nahe war, entschied, dass sie es musste.

Also hielt sie den gesamten Tag nach ihm Ausschau.

Auch, wenn sie bis zum Nachmittag nicht die Hälfte der notwendigen Überzeugung zusammengekratzt hatte. Sie war gerade im Anschluss an ihrer Freistunde in der Bibliothek unterwegs zu Wahrsagen, als sie ihn sah: Robs Lockenschopf am Ende des Korridors.

Und beinahe hätte sie ihn weitergehen lassen. Beinahe hätte sie sich selbst überzeugt - Nicht jetzt.

Doch die Adern an ihrem Hals pulsierten und der Griff um die Einbände ihrer Bücher hatte sie so verkrampft, dass sie das Blut aus ihren Knöcheln weichen spürte. Ob er wütend war, dass sie sich die gesamte Woche nicht nach ihm erkundigt hatte?

Sein überraschter Blick, als er sie entdeckte, sah nicht danach aus.

„Hey Log -", hatte er eine Oktave zu hoch ansetzen wollen, doch bevor er zu mehr kam, hatte sie ihn am Umhangärmel gepackt und hinter sich her gezogen.

Verblüfft schüttelte Rob ihren Griff los.

„Nicht so grob, den hat Madam Pomfrey grad erst wieder rangekriegt."

Er grinste selbst dann noch, als die Tür eines verlassenen Verwandlungsklassenzimmers hinter ihnen zufiel.

Das Licht an der Decke war hell und für einen Moment vergewisserte Logan sich, dass wirklich niemand bei ihnen war.

Rob musterte sie mit einer Mischung aus Verblüffung und Amüsanz. „Du siehst verdammt durcheinander aus. Corbs hat schon gesagt, dich hätt was umgetrieben. Ist alles gut?"

Er war noch ein wenig blass und die Haut an seinen Wangen zog sich dünn wie Backpapier über seine spitzen Knochen. Kein Hauch der Sommerbräune mehr, in der sie ihn kennengelernt hatte. Allerdings war dort an seiner Schläfe, wo vor zehn Tagen noch getrocknetes Blut geklebt hatte, bloß noch die matte Spur eines kaum erkennbaren Plastikpflasters geblieben und auf seinem Handrücken erstreckte sich nur noch ein blasser Schatten. Der faulende Gestank war verflogen.

„Ich hab gehört, Dumbledore hat -"

Doch sie unterbrach ihn, bevor er auch nur irgendeine Schlussfolgerung antreten konnte.

„Deine Mutter kennt Rheinar Kalgan."

Sie konnte dabei zu sehen, wie Rob jeglicher Ausdruck entgleiste. Verdattert stützte er sich auf den nächsten Tisch.

„Was ist los?"

Logan spannte die Muskeln um ihren Kiefer an. „Ich bin deiner Mutter begegnet."

Es sollte entschlossen klingen, ihn aus der Reserve locken. Doch die Hände um ihre Bücher waren schwitzig und in ihr tobte der Wunsch, sein regloses Gesicht nicht mehr vor ihrem geistigen Auge zu sehen. „Sie heißt Jolanda Pierce, oder?"

Er runzelte die Stirn. „Ja, aber -"

„Sie kennt Rheinar Kalgan." Logan sprach es mit einer Menge an Standhaftigkeit, die sie eigentlich gar nicht verspürte und sie war sich sicher, wenn Rob nur etwas genauer hinsehen würde, würde er erkennen, dass sie lange nicht so sicher war. Und dass dort Furcht hinter ihrem Blick brannte.

Dennoch blieb er bei Verwunderung: „Wie genau kommst du auf Rheinar Kalgan?"

„Weiß sie, dass er ein Todesser war?"

Robs Finger hatten sich an die Kante des Tisches gekrallt und nun zierte seine zusammengerafften Brauen schierer Argwohn.

„Logan." Er sprach ihren Namen mit einer Dehnung, die ihr gar nicht gefiel. „Was ist los?"

„Sie sollte befragt werden. Damals, 1982, bevor Kalgan verschwunden ist. Knapp vor seinem Prozess." Der Kronleuchter über ihnen wog sich in Gleichgültigkeit. „Sie hat ihn gekannt."

Rob schlug die Knöchel übereinander. „Ja, und?"

Ihre Nägel krallten sich so fest in die Einbände, sie mussten Kuhlen hinterlassen und nun konzentrierte Logan sich so fest auf Robs Lippen, um irgendetwas anderes als den Anflug von Spott darin zu finden.

Sie blieb bei ihrer Sache: „Er ist ein Todesser."

Ein heißes, giftiges Schnauben entkam Robs Nasenflügeln, die sich aufblähten wie Nüstern.

„Logan." Er sprach mit so einer Durchdringbarkeit, dass sich der Klassenraum um ihn zu verkleinern erschien. Für einen Moment sagte er nichts, sondern verschränkte bloß die Arme vor der Brust.

Dann starrte er sie an und sagte es. Einfach so. Gerade heraus: „Er ist mein Vater."

Sie hätte ihre Bücher fallen lassen, wenn der Knoten in ihrer Brust nicht zuvor zerschellt wäre.

„Dein -" Hitze durchschoss sie. „Er ist dein - was?"

„Mein Vater", wiederholte Rob geduldig und streckte die Beine in die Länge als habe er aus dieser Tatsache nie einen großen Hehl gemacht.

Mit einem Mal überkam Logan das schrecklich dringende Gefühl, fliehen zu müssen. Ihr Blick huschte zu der verschlossenen Tür, an der Rob wesentlich näher stand.

„Er ist mein Vater."

Wieder starrte sie zu ihm als konnten die Worte nicht seine Lippen verlassen haben und plötzlich waren die Muttermale auf seiner Haut schrecklich fremd als hätte sie sie nie wirklich gesehen.

Rob blieb derweil unbeeindruckt.

„Naja", sagte er und zuckte desinteressiert die Schultern. „Nicht, dass er ein besonders guter Dad gewesen - Hey!"

Er hatte aufgeschrien, bevor er anderweitig hätte reagieren können, doch Logan stieß gegen seine Hand, die sich nach ihr ausgestreckt hatte - der Zauberstab vor ihr bebte.

„Fass mich nicht an!", schrie sie und prompt schossen Robs Hände an seine Brust.

„Merlin!", blaffte er und sie konnte sehen, dass die Ader an seiner Schläfe zu pulsieren begann. „Was ist in dich gefahren?"

Sie hatte gar nicht wirklich mitbekommen, dass sie ihren Zauberstab gezogen hatte. Doch nun, wo seine Spitze auf Robs angespannten Kiefer deutete, fühlte sich diese Situation wesentlich kontrollierbarer an. Das Blut in ihren Adern raste und ihr Herzschlag holperte unter ihrer Zunge.

„Dieses Frühjahr", flüsterte sie und kniff die Augen zusammen; sie würde ihm keinen Zauber auf den Hals hetzen können, niemals „als du verschwunden bist. Hast du da wirklich nach deinem Vater gesucht? Hast du wirklich -"

„Warum interessiert dich -"

Sie hob ihren Zauberstab und prompt war er verstummt. 

„Dein Vater ist ein Todesser."

„Er war", korrigierte Rob und auch, als eine Schülergruppe das Klassenzimmer passierte, blieb er auf die vor ihm gleitende Zauberstabspitze fixiert. „Er hat es bereut."

Logans Lippen kniffen sich aufeinander und ihre Netzhaut brannte vor Wut, doch zu blinzeln wagte sie nicht. „Du hast ihn unterstützt."

„Nein!" Rob stieß den Tisch beiseite, damit keine Barrikade mehr zwischen ihnen war - „Nicht immer - aber er ist mein Dad!"

Kaum hatte sie den Arm gestrafft, war er wieder zurückgewichen und so langsam schien er den aberwitzigen Ausdruck in Logans Blick ernst zu nehmen.

„Er ist mein Dad und er tut alles, um seine Fehler ungeschehen zu machen!"

Nun war es an Logan zu schnauben und mit Selbstgefälligkeit auf den Lippen, ließ sie ihren Zauberstab sinken.

„Und warum hat er das nicht dem Ministerium gesagt, als sie ihn geschnappt haben?"

„Wie?" Rob war in jeglicher Regung erstarrt. „Sie haben ihn gefasst?"

Die Perplexision auf seinem Ausdruck konnte nicht die Wahrheit sein.

„Das ist ein Witz", schlussfolgerte Logan und starrte in seine aufgerissenen Augen. „Du verarscht mich."

„Logan", flüsterte Rob und irgendetwas in ihm erschien schrecklich weit in die Tiefe zu fallen. „Was passiert hier?"

„Sag du's mir! Wie kannst du ihn verteidigen -"

„Hey, du musst mir zuhören! Er -"

Sie hatte es nicht tun wollen. Eigentlich hatte es nicht zu ihrem Plan gehört. Eigentlich war gar nichts von alledem irgendein Plan gewesen. Und doch straffte sie ihre Schulter, als Rob einen verzweifelten Schritt auf sie zu wagte und seine Hände beschwichtigend - Impedimenta!

Der Lähmfluch warf Rob mit so einem Donnern an die Wand, dass das Bücherregal neben ihm bebte und er zwei massige Tische von sich stieß. Mit strammen Schritten stob Logan auf ihn zu und für einen Moment mochte sie, wie fest sich sein Hinterkopf gegen die Steinwand presste, auch wenn alles Vertrauen zu ihm in eintausend Teile zerbrach.

„Sie haben ihn nicht gefasst", würgte er gegen die Wirkung des Lähmfluchs hervor und Logans Finger klammerten sich so fest um den Griff ihres Zauberstabs, dass er zitterte.

Robs Arme und Beine waren zusammengeschnellt und sein ganzer Körper presste sich gegen die Wand. Und die Röte stob langsam in sein Gesicht als könne sich seine Lunge nicht mehr nach Luft dehnen und als kämpfe er dagegen an.

Heißes Wasser brannte sich in Logans Augenwinkel.

„Du bist zu ihm." Es auszusprechen machte es real genug, damit sie Robs Kopfnicken gar nicht mehr brauchte. „Letztes Schuljahr, da bist du aus dem Schloss abgehauen, um Rheinar Kalgan auf seiner Flucht zu helfen."

„Sie können ihn nicht gefasst haben", krächzte Rob und die Adern an seinen Schläfen traten gefährlich arg hervor. „Das hätte ich gehört."

Für einen winzigen Augenblick lang, da war sie ihm schrecklich nah und da entfesselte die Panik und die Furcht vor Verrat in ihr beißenden Hass.

„Die irische Regierung hat es der Welt verschwiegen", zischte sie und bohrte die Spitze ihres Zauberstabs in sein Schlüsselbein, „Sie haben ihn schon im Juni -"

„Was, bei Merlin, tut ihr hier?"

Corbens losplatzende Stimme glich einem Unwetter.

Logan wusste nicht, was geschah, bis er sie von Rob wegschob und ein weiterer Schatten in der Tür erschien - Enervate.

Rob sackte zu Boden und fasste sich an die Brust. Energisch rasselte sein Atem.

Eine fremde Hand, warm und bestimmt, drückte Logans Zauberstab nieder und sie spürte, wie jemand sie an der Schulter griff, der in all das nicht gehörte - Logan, was soll das?

Doch sie hörte es nicht.

Alles, was sie tat, war Rob mit ihrem Blick an den Boden zu pinnen. Mit dem Hauch von Entsetzen in der Kehle und der Spur von Mitleid im Blick. Ihr Atem raste.

„Du weißt es wirklich nicht?", schlussfolgerte sie, noch während Corben Rob auf die Beine half und er sie voller Fassungslosigkeit anstarrte. „Er ist dein Vater und du hast es nicht gehört?"

Rob schüttelte den Kopf.

Eine Träne biss sich in Logans Mundwinkel.

Eine Stimme und ein Nachdruck zogen sie weiter von ihm fern. Fred Weasleys Worte drangen zu ihr. Worte, die unglaublich weit entfernt waren und sie lange nicht berührten - „Logan, komm schon -"

„Es ist Monate her." Und das Nächste, was sie sagte, brannte in ihrer eigenen Galle und hallte unendlich betäubend zwischen ihnen nach. „Rob, er wurde von den Dementoren geküsst."

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SHIT. HOLY FRICK. ENDLICH.

Jolanda Pierce. Rheinar Kalgan. Rob ist sein Sohn. Endlich wisst ihrs, endlich kann ich wieder atmen.

Was glaubt ihr hat das zu bedeuten? Erklärt das ein paar Dinge? Wirft das ein paar mehr Fragen auf? 

Und glaubt ihr, Corben weiß, dass Robs Dad ein Todesser ist? 

Liebe das Ende dieses Kapitels. Habe es geliebt, es zu beschreiben, denn jetzt sehen wir endlich (fast) das ganze Spektrum von Rob. Oh how you should never trust a broken boy.

Deswegen gibt es oben auch den Song, der für mich Robs und Kalgans Beziehung verdammt gut zusammenfasst. Can't wait to tell you more. 

Ab hier werden die Kapitel auch wieder ein bisschen kürzer. Und am Samstag gibt's die Folgen von alldem. Bereit? 

Ach ja, und: Happy Birthday,  theartistress.

All the love, Ally x

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