04 | norwich.
Die Tage im Grimmauldplatz vergingen schleppend. Andererseits konnte Maden nach einer ganzen Weile auch nicht mehr sagen, was tatsächlich Tage waren und was aus ihren Albträumen entsprang.
„Hat dein Vater dir etwas gegeben?"
Albus Dumbledore fragte das regelmäßig. Bei jedem ihrer Gespräche, und jedes Mal verpackte er seine Worte neu.
Diesmal jedoch war er weniger subtil, sondern musterte Maden aufmerksam, während sie zum fünften Mal ihre Erzählung von jener Nacht abschloss. Mittlerweile kam es ihr schon gar nicht mehr wie ein Erlebnis, sondern wie ein vor Jahren gesehener Film vor, wie die Geschichte einer anderen. Mittlerweile weinte sie auch nicht mehr. Sie schluckte bloß.
„Etwas, das du mir zeigen müsstest?"
Heute war ihr sechstes Treffen. Der Hochsommer kündigte an, sich bald von London zu verabschieden, doch noch immer waren die Zimmer des Grimmauldplatzes stickig heiß. Das Fenster in ihrem Raum war noch immer so dreckig, dass sie kaum auf die Straße blicken konnte.
Für einen Moment bildete Maden sich ein, die Kälte des Kompasses durch den Holzboden zu spüren. Sie antwortete mit einer Gegenfrage: „Was hat mein Vater mit ihnen besprechen wollen?"
Sie hatte Dumbledore schon oft fragen wollen, doch nie war es ihr richtig erschienen. Jetzt seufzte er tief.
„Er schrieb mir eine Eule, Stunden vor seinem Tod. Er würde mich in einem privaten Ermessen aufsuchen müssen, das sich nicht verschieben ließe."
Mit rauer Zunge dachte sie an die Gespräche, die sie an jenem Abend belauscht hatte – Ich muss nach England zurück.
„Sirius ist überzeugt, Kalgan -"
„- habe deinem Vater eine Information zugespielt, ich weiß."
Auf Dumbledores Lippen lag ein Lächeln und Maden sah ihm an, dass er diese Vermutung nicht weiter kommentieren wollte.
Also sah sie sich gezwungen, zu seiner Frage zurückzukehren: „Ich besitze diese Information nicht. Ich habe ihnen alles gesagt, was ich weiß." Und weil sie das Gefühl hatte, Dumbledore wäre ihr für ihre vielen Antworten auch etwas schuldig, fragte sie: „Was sind die Geheimnisse der dunklen Künste? Und wer teilt sie durch sich selbst?"
Dumbledore lächelte als hätte er es kommen sehen.
„Nun", er beugte sich vor als wäre es ein Geheimnis. „Diese Antwort suche ich genau wie du."
Als sie ihn das nächste Mal traf, saß er nicht in ihrem Zimmer und wartete auf sie, sondern befand sich stattdessen mit gefalteten Händen im großen Salon. Maden betrat diesen Raum das erste Mal seit ihrer Ankunft vor vierzehn Tagen und auch, wenn sie gedacht hätte, ihre Erinnerung müsste alles verschwärzen, war es genau so, wie es ihr vorgekommen war; die Vorhänge waren noch genau so starr wie vor zehn Tagen.
„Warum schreiben sie das? Über mich?"
An diesem Tag war sie die erste, die sprach, und sie sagte es gerade rechtzeitig, bevor Dumbledore die neueste Ausgabe des Tagespropheten auf den nächsten Stuhl gleiten ließ. Sie stand nicht mehr auf der Titelseite, doch ihr Gesicht blitzte immer noch von den rauen Pergamentseiten empor. Sie wünschte sich, sie hätte etwas fühlen können, wenn sie das sah – sie wusste, sie hätte etwas fühlen müssen. Wut, Verzweiflung, Hilflosigkeit. Doch sie ahnte, die Taubheit, mit der sie durch die Tage wandelte, war Selbstschutz.
Dumbledore sah dem lachenden Gesicht eines Mädchens hinterher, das es nicht mehr gab – Mörderin der eigenen Familie bleibt verschwunden.
„Ich fürchte, weil sie dich als ihren Sündenbock missbrauchen."
Maden rollte ihre Lippen übereinander. „Ich bin es nicht gewesen."
„Das weiß ich." Sie war dankbar, wie besonnen er jedes Mal klang, wenn er ihr das bestätigte.
„Wann kann ich es ihnen sagen?" Maden saß am Rande ihres Stuhls und es war das erste Mal seit ihren Gesprächen, dass ihre Stimme kraftvoller klang. „Vor dem irischen Ministerium eine Aussage machen?"
„Du musst Mr. Lupin gestern Abend im Salon belauscht haben." Dumbledore wirkte zufrieden, wenn nicht gar ein wenig amüsiert: „Ich gebe zu, der Disput zwischen ihm und Mr. Shaklebot war kaum zu überhören."
Maden raffte schamlos ihre Brauen. Sie hatte sie tatsächlich belauscht – wie eigentlich an jedem Abend – und es war das erste Mal gewesen, dass sie einander angeschrien hatten – Sie ist ein Kind, sie muss nach Hause! – Wir können sie nicht nach Irland ausliefern, die nehmen sie umgehend fest! Sie wird keinen Prozess kriegen, Remus, genauso wenig wie Kalgan einen bekommen hat!
„Ich möchte heim." Sie sagte es mit einer Bestimmtheit, die mittlerweile in Wellen gegen ihre Schädeldecke schwappte. Sie wollte nicht nur, sie musste auch. Vielleicht – und sie wusste, diese Vorstellung war Irrsinn – war ja noch irgendjemand da, der auf sie wartete.
Wieder war Dumbledore rational. „Ich weiß." Doch dann entwich ihm ein Seufzen und seine Ellenbogen gruben sich in die Tischkante, noch während er sie mit dem ernsthaftesten seiner Ausdrücke durchbohrte als wäre das, was er nun sagte, wichtiger denn je. „Sie suchen nach dir. Sie brauchen, und das weißt du, einen Grund. Einen Schuldigen, um den Tod deiner Familie zu erklären."
„Die Todesser -"
„- sind für Fudge wie auch für euren Minister Coen keine annehmbare Entschuldigung."
Das wusste Maden. Sie hatte die Zeitung gelesen.
„Wie Kingsley kalkuliere auch ich das Risiko, nach Irland zu gehen, zu hoch für dich. Zumindest im Moment. Wir müssen abwarten." Dumbledore sah sie über den Rand seiner Brille hinweg an als wüssten sie beide, dass Maden die Situation besser einschätzte als sie ihm eingestehen wollte. „Bis dahin bist du hier sicher. Wir werden nicht zulassen, dass dir etwas geschieht. Und wir werden dir dein Leben zurückgeben, sobald wir können."
Doch das, und Maden ahnte es, während sie ihre Augen auf das verwucherte Gartenstück pinnte, das sich in Dumbledores Rücken hinter den verdreckten Vorhängen erstreckte, konnten sie nicht. Nicht wirklich zumindest.
„In den kommenden Tagen werde ich nicht wiederkommen." Es war ein Donnerstag und Maden war bereits seit zwei Wochen im Grimmauldplatz, als Dumbledores Worte durch den schmalen Flur hallten. Irgendetwas in ihr fühlte sich nach Erleichterung an, auch wenn sie sich wünschte, er würde ihr mehr Antworten geben.
„Ich werde einige Reisen unternehmen, um Informationen zu sammeln." Mit vielsagendem Ausdruck setzte er sich den Spitzhut auf, der fast bis an das Treppengeländer reichte. „In einer Woche soll eine Zaubererfamilie hier eintreffen. Sie -"
Logan zitierte, was Sirius ihr beim Frühstück erzählt hatte: „- agieren für den Orden, ich weiß."
Dumbledore klemmte sich eine Ausgabe des Klitterers unter den Arm, über den Sirius sich gestern beim Abendessen lustig gemacht hatte. Dumbledore hingegen betrachtete den Thestral auf dem Cover mit flammendem Interesse.
„Ich habe lange mit Nymphadora und den Eltern der Familie, Molly und Arthur, gesprochen. Wir halten es für das Beste, wenn du mit Nymphadora in ihre Wohnung nach Norwich gehst und dort ein wenig deine Ruhe hast. Bis wir eine Lösung für dich haben."
Auch davon hatte Sirius ihr erzählt.
Dumbledore neigte seinen Kopf. „Sechs Minderjährige in dein Dilemma einzuweihen erscheint uns zu diesem Zeitpunkt doch etwas - unsicher."
„Danke", war alles, was sie dazu sagte. Und das meinte sie auch so.
An dem Tag ihrer Abreise hatte sie die wenigen Dinge, die sie besaß, schon vor dem Frühstück zusammengerauft und vor dem Kamin platziert, bevor Tonks vergnügt den Grimmauldplatz betrat. Der Kompass lag schwer in ihrer Jackentasche. Doch Sirius lächelte bloß wie ein stolzer Vater, als Maden ihm zum Abschluss sogar Tschüss sagte - der Klang ihrer Stimme war in der vergangenen Wochen regelmäßiger geworden.
Die Tage in Norwich waren länger als Maden es sich je hätte vorstellen können. Kein Windhauch erreichte die Waterloo Road, in der sie lebte. Die Morgende waren getaucht in stumpfsinniger Bitterkeit und die Abende ertranken ihr Ende in wolkenverhangener Schwärze.
Es vergingen vier Wochen in Norwich. Ihr eigenes Gesicht hatte die Seiten des Tagespropheten noch immer nicht verlassen, auch wenn es mittlerweile von der Titelseite verschwunden war. Seit einer geraumen Zeit, die Maden Bolton längst nicht mehr einschätzen konnte, saß sie immer auf dem Fenstersims, wenn Nymphadora Tonks den Kamin zur Arbeit nahm. Und es geschah ihr zu oft, dass sie den gesamten ihr gebliebenen Inhalt des großen pechschwarzen Rucksacks über die Holzdielen ergoss, die Beine im Schneidersitz verhakte und anstarrte, was dort noch übrig war. Und egal, wohin sie ging und was sie tat: Die Nadel des Kompasses zeigte noch immer auf sie.
Maden verließ das große Haus aus fadem Putz bloß an jedem dritten Tag, schritt die breite Doppelstraße entlang, beobachtete das Zusammenspiel der Passanten und verschwand dann erneut in dem hohen Treppenhaus, dessen Kälte ihr zu gut gefiel.
An manchen Abenden tauchte Remus Lupin in zerschlissener Kleidung auf, mit matten Pullundern und vernarbtem Gesicht. Maden wusste, wie Nymphadora ihn ansah. Sie wusste, dass Hoffnung in ihren Augen lag und das Lächeln von Remus Lupin versprach ihr nicht weniger. Sie redeten viel, wenn sie gemeinsam zu Abend aßen und Maden gewann zunehmend Gefallen daran, ihnen zuzuhören, auch wenn sie das Meiste nicht verstand.
Allein deshalb war die Tatsache, dass draußen, weit außerhalb Norwichs, stumm ein Krieg drohte, in jeder Sekunde zu spüren. Es waren Worte, die sie hörte, ohne dass sie sie berührten - Crabbe ist befördert worden. Manda Diggory ist verschwunden -, die ihr zeigten, dass es dort etwas Großes gab, an dem sie vorbei floss, ohne sich ihm zu stellen. Als wäre sie in einen Ort des Geschehens hinein geglitten, an den sie eigentlich nicht gehörte. Und trotzdem konnte sie nicht heim.
An einem Abend und nach einer Weile, in der Maden lange begonnen hatte, den Grimmauldplatz und seine schäbigen Wände zu vermissen - auch wenn es gar um des Zeitvertreibswillen war -, lugte der Kopf einer summenden Nymphadora Tonks nach Feierabend in das Wohnzimmer hinein. Maden saß auf einem der grell lilanen Sofas, alte Märchen lesend. Bücherstapel türmten sich auf Zeitungsausgaben und immer war es Madens eigenes Gesicht, das unter einem Einband verschwand.
Heute war Tonks Haar rosa und die dünnen Lippen knallrot. Maden sah erst zu ihr hinauf, als sie nicht mehr fröhlich ein Lied summte, das die vergangenen Tage ständig aus dem Radio geflossen war. Tonks lächelte - „Hey Mads."
„Abend Tonks." Maden schob 'Der Brunnen des wahren Glücks' über den Tisch, so dass es die Kurzmeldungen und einen sich drehenden Kessel in grauer Tinte verdeckte. „Wie wars im Ministerium?"
„Die müssen dir doch zum Hals raushängen, oder?" Tonks zeigte eine unwirsche Handbewegung auf den Bücherstapel zwischen ihnen und ignorierte Madens Frage. „Die waren ein Geburtstagsgeschenk meiner Tante, hab keines davon je gelesen."
„Nun ja, gib mir eine andere Aufgabe." Maden lachte, aber sie meinte es nicht so.
Es geschah nicht oft, dass sie sich ernsthaft bemühten, Smalltalk zu führen. Zwar war Tonks in jeglicher Hinsicht stets für sie da gewesen, hatte bereits vor Wochen im Grimmauldplatz Nudelauflauf vorbeigebracht, doch bedeutungsschwere Gespräche, so wie jene, die Maden zu Sirius verband, hatten sie miteinander nie geführt. Vielleicht, weil Tonks verstand, was sie nicht verstand. Und auf groteske Art und Weise war diese Ungezwungenheit, schweigen zu dürfen, angenehm.
Doch am heutigen Abend lag dort eine gewisse Sorgenfalte zwischen Tonks Brauen und ihr sonst immer so strahlendes Grinsen war erloschen, als Maden wieder zu ihr sah. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen, als würde sie Tonks strahlende Flamme der Freude mit ihrer Trauer löschen. Allerdings wirkte Tonks an diesem Abend ebenfalls belegt.
„Hör mal", sagte sie schließlich, als es zu lange still gewesen war „ich war eben bei Kingsley. Wir sind noch immer auf der Suche nach einer Lösung." Es war ruhig in ihrer Wohnung - dabei war Ruhe doch eigentlich nichts, das in Tonks Gegenwart gehörte. Doch jetzt sprach sie bedacht. „Wir werden dich nicht den Dementoren ausliefern und erst recht nicht der irischen Regierung, das ist natürlich klar."
Madens Miene war ausdruckslos, so wie an jedem ihrer Abende. Für sie hatte es nie eine Lösung geben. So wie nun hätte sie weitergemacht. Für immer dann.
Schließlich war es nicht so, dass das Krampfen in ihrer Magengegend und der düstere Schleier um sie je wieder vergehen würden.
„Ihr vertraut mir", flüsterte Maden und die Frage brannte ihr auf den Lippen. „Wieso?"
„Albus Dumbledore ist ein guter Mann", erwiderte Tonks. „Und ein weiser Mann obendrein. Wenn er dir vertraut, vertrauen wir dir auch."
Genau das selbe hatte Sirius auch immer gesagt. Maden sah zum Fenster hinaus.
„Wir wollen dich in Sicherheit bringen", fuhr Tonks schließlich fort, als nichts weiter geschah. „Und es gibt nur einen Ort, der sicherer ist, als ein Leben im Untergrund." Vielleicht genügte ihr das auffallende Pulsieren an Madens Schläfen, um zu wissen, wie genau sie zuhörte. Vielleicht war es aber auch offensichtlich. Tonks atmete fest. „Hogwarts ist unsere Schule für Hexerei und Zauberei. Du sollst dort aufgenommen werden, dein Leben fortsetzen, das letzte Schuljahr abschließen und -"
Irgendwie, ein ganz klein wenig, hatte Maden mit so etwas gerechnet.
„Drei Wochen und ich werde verraten." Sie klang so entschlossen, dass sich Verwunderung in Tonks Ausdruck schlich.
Als hätte Maden nicht darüber nachgedacht, als hätte sie nicht jeden Tag all ihre Möglichkeiten durchgespielt. Schließlich lag es doch auf der Hand: „Es muss nur eine Person geben, die sich vor mir fürchtet. Mein Gesicht ist überall. Maden Bolton ist kein sicherer Name an einem fremden Ort."
„Niemand hat davon gesprochen, dass Maden Bolton Hogwarts besuchen soll", entgegnete Tonks mit einem süffisanten Grinsen und schlagartig sah Maden sie an. „Maden Bolton wird sterben." Auf Madens Haut brannte ein Feuer. „Und du musst jemand anders sein."
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Oh ja, jetzt geht es endlich so richtig los.
1. Was glaubt ihr, wird Maden das Angebot annehmen? Hat sie überhaupt noch eine andere Wahl?
2. Findet ihr es richtig, dass der Orden sie versteckt hält und sie keine Aussage in Irland machen lässt? Glaubt ihr, da würde überhaupt wer zuhören?
Entschuldigt übrigens das verspätete Update. Allerdings habe ich übers Wochenende StephVi in ihrer Heimat besucht und war deshalb viel unterwegs, damit bin ich hoffentlich entschuldigt. Wenn nicht: Beschwerde bitte direkt an Stephie :D
Das nächste Update verlege ich deshalb auch auf Mittwoch, dann geht es nicht ganz so Schlag auf Schlag und ich hab Zeit, eure wundervollen Kommentare zu beantworten. Ihr haut mich nämlich wirklich um, danke für eure aufmerksamen Rückmeldungen, die tollen Theorien, das Mitfiebern - ich lieb euch.
Bis zum nächsten Mal: Kamillentee ist gut für den Magen.
Ganz viel Liebe, Ally x
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