//FLIEGENDE BÜCHER UND AHORNSIRUP//
AM SPÄTEN NACHMITTAG trafen sich Amy, Dion und Olive in der Bibliothek von Hogwarts. Amy hatte noch keine wirkliche Vorstellung davon, welche Art von Büchern sie hier wohl erwarten würde. Sicher, eine Menge über das Brauen von Zaubertränken, allerhand Zaubersprüche, von denen sie nichts verstand, weitere magische Tierwesen und vielleicht auch eine Gebrauchsanweisung für Flugbesen. Diese Sache konnte sie sich von allen zauberhaften Dingen am allerwenigsten vorstellen. Sie und auf einem Besen fliegen? Hin und wieder hatte sie noch immer das Gefühl, in einem schier endlosen, äußerst sonderbaren Traum festzusitzen. Wiederum schien alles um sie herum so real und, zumindest für alle anderen, normal zu sein, dass sie die Dinge einfach weiter auf sich zukommen ließ.
Wo wir auch schon bei der ersten skurrilen Begegnung beim Eintreten in der Bibliothek wären. Denn Amy hatte kaum einen Fuß durch die schwere Holztür gesetzt, da kam ihr bereits eines der zahlreichen Bücher entgegengeflogen.
»Du meine Güte! Hier sollte ein Schild an der Tür hängen. Betreten auf eigene Gefahr! Das ist ja lebensgefährlich«, rief Amy erschrocken auf.
»Hab dich nicht so, Manda«, ertönte eine missmutige Stimme zwischen zwei der zahllosen Bücherregale. »All die Jahre hast du die Schulanfänger damit erschreckt, also halts aus, selbst einmal Opfer zu sein.«
Eine Hufflepuff-Schülerin, aus dem siebten Schuljahr legte tröstend ihre Hände auf die Schultern eines Erstklässlers. Dieser hatte anscheinend versucht, sich mithilfe von Magie ein Buch aus dem Regal zu holen und dieses dann versehentlich in Richtung Tür katapultiert.
»Nichts für ungut! Ich könnte dieses Buch nicht mal vom Boden abheben lassen«, sagte Amy beschwichtigend und blickte anerkennend auf den kleinen Hufflepuff-Jungen, der sie mit großen dunklen Augen anstarrte. »Du machst das großartig! Wirklich faszinierend«, fügte sie hinzu und zauberte ein Lächeln auf das Gesicht des Knaben.
»Ach ja, jetzt verstehe ich«, murmelte die schwarzhaarige Hufflepuff-Schülerin daraufhin. »Du bist nicht Manda. Du bist diese Doppelgängerin oder was auch immer. Komm, Barsukas. Mit die wollen wir uns lieber nicht abgeben. Wer weiß, was die für ein Spiel spielt.« Ohne sich weiter um Amy und ihre Freunde zu kümmern, ging das Mädchen, den Jungen namens Barsukas vor sich herschiebend, zu einem Tisch an den Fenstern. Dort setzte sich mit dem Rücken zum Raum gewandt hin, um mit dem Erstklässler zu lernen.
Wie durch ein stummes Zeichen ausgelöst, drehten sich auch alle anderen anwesenden Schülerinnen und Schüler zu Amy und ihren Freunden um. Argwöhnische Blicke mischten sich mit neugierigen. Einige taten sofort wieder so, als seien sie fest in ihren Büchern vertieft, sobald Amy nur einen Hauch von Blickkontakt zu ihnen aufnahm. Dabei machte es auch keinen Unterschied, ob die Schüler zu Gryffindor, Slytherin oder einem anderen Haus gehörten. Jeder schien seine ganz persönlichen Erfahrungen mit dieser Manda gemacht zu haben und ebenso hatte jetzt auch jeder seine Meinung zu Amy und ihrem mysteriösen Auftauchen in Hogwarts.
»Lass dich von denen nicht verunsichern«, flüsterte Olive Amy zu. »Du bist für sie genauso unbegreiflich, wie es diese ganze Zaubererwelt für dich ist.«
»Ja, da hast du recht, Olive«, stimmte Amy ihrer Freundin zu. »Für sie bin ich vermutlich das Skurrilste, was sie je gesehen haben und damit sind wir eigentlich quitt. Mit dem Unterschied, dass ich das alles hier sehr gern kennenlernen möchte und sie alle sich eher fremdelnd und vorbehalten mir gegenüber verhalten. Ich schätze, das hat wohl damit zu tun, dass ich nicht irgendeiner ehemaligen Schülerin ähnlich sehe, sondern ausgerechnet dieser Manda. Hm?«
Olive und Dion nickten beide stumm. Es war wirklich nicht einfach, sich vorzustellen, dass Manda sieben Jahre lang, unter falscher Identität in Hogwarts ihr Unwesen getrieben hatte, und nun ganz plötzlich die richtige Amanda Owens hier ein und aus ging.
»Gib ihnen Zeit«, riet Dion. »Sie werden bald merken, dass du außer dem Namen und der Ähnlichkeit nichts mit unserer Chaos-Manda gemein hast.«
»Ich hoffe, du hast recht.« Amy und ihre Freunde setzten sich an einen freien Tisch, der genug Abstand zu den nächsten Mitschülern ließ, aber dennoch nicht vor deren Blicke schützte. Schließlich wollten sie Amy nicht vor ihnen abschotten, sondern ihnen durch einen ganz normalen Schulalltag zeigen, dass man sich vor Amy nicht zu fürchten brauchte. Vor allem aber, dass sie eine gewöhnliche junge Frau war, die jetzt, mit einigen Jahren Verspätung, das Zaubern erlernte.
»Ihr könnt also jedes Buch einfach so hierher schweben lassen? Ohne aufstehen zu müssen?«, fragte Amy neugierig.
»Nicht jedes«, antwortete Dion. »Es ist ganz hilfreich, zu wissen, welches Buch man genau haben möchte. Bloß eines über Zaubertränke haben zu wollen, reicht meist nicht aus. Das können vielleicht einige der erfahrensten und begabtesten Zauberer. Du solltest aber den Titel und das Aussehen kennen und, was auch nicht unwichtig ist, es sollte vorrätig sein. Wenn es bereits von einem anderen Schüler genutzt wird, könnte das problematisch werden, wie du dir sicher vorstellen kannst.«
»Viel einfacher ist es hingegen das Buch zurück an seinen Platz zu befördern«, ergänzte Olive. »Dazu musst du das geliehene Buch nur auf den Weg schicken und dann schwebt es durch die Gänge und Reihen an seinen Platz. Das siehst du ja gerade an den zahlreichen Beispielen um uns herum.« Olive zog rasch den Kopf ein, als ein besonders dicker Wälzer über sie hinweg sauste. »Man sollte eventuell über eine Geschwindigkeitsbegrenzung nachdenken«, scherzte sie, doch das Lachen sollte ihr schnell vergehen.
»Miss Hornby, vielleicht wäre es besser, wenn Sie künftig ihre Bücher mit ihren Händen zurück ins Regal tragen würden. Auch Hexen und Zauberer sollten nicht vergessen, wofür wir diese Körperteile haben. Nicht allein fürs Frisieren und am Besen festhalten, möchte ich meinen«, erklang eine übel gelaunte Stimme zwischen zwei Regalen. »Das gilt übrigens FÜR ALLE ANWESENDEN!«, ergänzte der breit gebaute Mann mit den graumelierten Haaren, dem gezwirbelten Schnurrbart und den riesigen, prankenähnlichen Händen, die denen Hagrids in nichts nachzustehen schienen.
In dem Moment, indem die Stimme des Griesgrams die Bibliothek erbeben ließ, verstummten alle Schüler und die letzten sich noch in der Luft befindlichen Bücher stürzten lautstark auf den Boden.
»Ab! Aufsammeln! Aber schnell!«, dröhnte der unbekannte Mann erneut durch die Reihen. Unverzüglich tippelten aus allen Ecken der Bibliothek die Schüler zu den von ihnen auf die Reise geschickten Büchern. Sie sammelten sie wortlos vom Boden auf, um sie anschließend sachgemäß und mit ihrer eigenen Hände Kraft an ihre Plätze zu bringen.
»Und Sie, junges Fräulein – mitkommen«, rüffelte er knapp und blickte dabei Amy mürrisch an.
»Was? Ich? Mitkommen? Äh, ja. Ja!« Sie hatte keine Zeit mehr, ihre Freunde zu fragen, mit wem sie es eigentlich gerade zu tun gehabt hatte. Die ganze Art und Weise dieses forschen Herrn ließ Amy nur eine Wahl: ihm erst mal widerstandslos zu folgen und abzuwarten, was er für ein Problem mit ihr oder Manda hatte.
Während er sie durch die Gänge führte, bemerkte Amy erneut die verängstigten Blicke der anderen Schüler. Die meisten von ihnen taten so, als würden sie in ihren Arbeiten vertieft sein. Aber sie sah, wie sie über die Ränder ihrer Bücher und Notizen hervorlugten. Nur dieses Mal galten diese unsicheren Blicke nicht ihr, sondern diesem stämmigen Kerl, der mit deftigen Schritten voranging. Er war bedeutend kleiner als Rubeus Hagrid, aber sein Gang war dafür um ein Vielfaches schwerer.
Er führte sie zu einem der großen Bücherregale und fischte ein Buch mit einem verschlissenen schlammgrünen Ledereinband heraus, welches er sogleich mit einem lauten Rumms vor Amy ausbreitete. Er blätterte kurz darin herum und blieb dann auf einer Seite, auf der ein Kaninchen abgebildet war.
»Nun versuchen Sie mal, auf die nächste Seite umzublättern«, befahl er mit forschem Ton.
Amy zögerte nicht lange und trat zu dem Buch hin und nahm die rechte aufgeschlagene Seite in die Hand, um sie umzuschlagen. Doch das war nicht möglich. Die Seiten klebten zusammen.
»Sie sind verklebt, Sir«, sagte Amy und versuchte, nicht eingeschüchtert zu klingen.
»Was Sie nicht sagen! Das weiß ich selbst«, motzte der Klotz von einem Mann. »Und warum kleben sie zusammen?«
»Das weiß ich nicht, Sir«, antwortete Amy und war dieses Mal eher bemüht, nicht genervt denn ängstlich zu klingen. Woher sollte sie schließlich wissen, was mit diesem Buch geschehen war, das sie in diesem Augenblick zum ersten Mal zu Gesicht bekam?
»Mein Name ist Mr Parker, Miss Owens. Hat Ihnen das Ihre Cousine nicht gesagt?«, rüffelte der Widerling.
»Verzeihen Sie, Mr Parker«, begann Amy sich zu rechtfertigen. »Aber ich kenne diese Person nicht, die vermutlich meine Cousine ist. Ich bin Manda nie begegnet. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen mit diesem Buch hier helfen soll. Wenn Sie mich dann entschuldigen würden?«
»Nicht so schnell, junge Dame!«, hielt er Amy auf. »Sie kommen für diesen Schaden auf. Sie sind die einzige Verwandte von Manda, die wir haben. Es kann nicht sein, dass dieses vorlaute Gör unsere schuleigenen Bücher mit Ahornsirup beschmutzt und wir auf den Kosten sitzen bleiben.«
»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst?« Amy konnte nicht glauben, was sie da hörte. Bildete sich dieser Mr Parker wirklich ein, dass sie ab sofort für alle Fehltritte aufkommen soll, die diese Manda verbockt hatte?
»Das ist mein VOLLER Ernst, junge Dame. Denken Sie, ich stehe hier zur Belustigung herum? Ich bin der Bibliothekar von Hogwarts und all diese Bücher wurden mir anvertraut. Es ist meine Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass sie in genau dem Zustand wieder zurückgegeben werden, wie sie ausgehändigt wurden. Also, zu welcher Adresse soll ich die Rechnung schicken.« Mr Parker hielt auffordernd die geöffnete riesengroße Handfläche vor Amys Gesicht.
»Nicht an meine, jedenfalls«, sagte Amy und trat einen Schritt zurück. »Ich verstehe Ihren Unmut und es tut mir leid um dieses, ähm, Märchenbuch? Aber ich habe es nicht mit Ahornsirup beschmiert und werde für den Schaden nicht aufkommen. Guten Tag.«
Sie war zwar bemüht dem Bibliothekar höflich gegenüber zu treten, doch an der aufsteigenden Röte in dessen Gesicht erkannte Amy, dass sie ihn nicht so schnell loswerden würde in dieser Angelegenheit.
»Ich werde die Sache Professor Dumbledore melden. Unglaublich so was! Genauso verdorben, wie die echte Manda. Einfach unglaublich.«
Mr Parker drehte sich grummelnd um und verschwand hinter einem anderen Regal. Amy suchte ebenfalls das Weite und ihre Stimmung erhellte sich sehr schnell wieder, als sie sah, dass Joseph Attenborough sich zu ihren Freunden an den Tisch gesellt hatte.
Randnotiz: Barsukas bedeutet Dachs auf Litauisch
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