13
Detroit
Jay
Mein Finger am Abzug zittert. Das war noch nie passiert. Er war immer ruhig, bereit abzudrücken. Aber nun als ich die Pistole auf meine eigene Brust richte, zittert er verdammt noch mal.
Ich atme tief ein und schließe meine Augen. Das kühle Metall fühlt sich schwer in meiner Hand an. Ich bin so müde. So verdammt müde.
Hohe, panikerfüllte Schreie dringen durch die dünnen Wände der Fabrik an meine Ohren und lassen meinen Geist in einen noch dunkleren Abgrund fallen.
Tu es!
Eine laute Stimme dröhnt in meinen Kopf. Dunkel und unheimlich.
Tu es, du Schlappschwanz! Beende es!
Ein leiser, heiser Schrei ertönt. Er klingt seltsam vertraut und je länger er dauert, desto atemloser werde ich. Als ich fast nicht mehr atmen kann, hört er endlich auf. Mein Brustkorb bewegt sich hektisch auf und ab, als ich versuche nach Luft zu schnappen. Der Stahl der Waffe drückt immer noch auf meine Brust.
Seit einem Monat bin ich nun an diesem kranken Ort. An diesem kranken Ort, der die Hölle als Paradies erscheinen lässt. Die Zeit läuft hier langsamer. Sie steht fast still. Quälend langsam werden Sekunden zu Minuten, zu Stunden. Zu Tagen und Wochen. Wochen, die meinen Verstand in eine verdammte Hölle verwandelten.
Etwas regt sich in meiner Brust. Ist es mein Herz? Oder ist es die endgültige Erkenntnis, dass es das war. Dass heute der Tag war, an dem ich es endlich beenden würde?
Es würde nur eine Sekunde dauern. Eine Sekunde um den Abzug zu drücken und all die Scheiße zu beenden.
Ich atme noch einmal tief durch. Ein letztes Einatmen und Ausatmen. Eine Sache von wenigen Sekunden. Sekunden, in denen mein kleiner Bruder plötzlich vor meinen Augen auftaucht. Sein zahniges Grinsen ist auf mich gerichtet, als sein siebenjähriges Ich von seinen Cartoons aufschaut, um zu sehen, ob ich sie genauso lustig finde, wie er. Mir stockt der Atem, während mir die Tränen in die Augen steigen.
„NOLAN!", brüllt eine tiefe Stimme wütend und bricht den Bann.
Ich blinzele ein paar Mal, bevor ich die Waffe aus meiner Hand fallen lasse und mir mit dem Handballen über mein Gesicht fahre. Schließlich stecke ich die Pistole zurück in mein Halfter, öffne die Tür meines Zimmers und folge der Stimme.
***
Tiefes männliches Gestöhne dringt durch die Fabrik und lässt meinen Magen augenblicklich rebellieren. Die Tür rappelt, als Evelyns Körper dagegen gedrückt wird.
Ein Grunzer. Zwei. Drei.
„Nimm das, du Schlampe!", dringt eine dunkle, angestrengte Stimme plötzlich durch die Wand und lässt die Mädchen um mich herum zusammenzucken.
Sie alle haben Angst. Wie jeden einzelnen verdammten Tag. Aber besonders heute.
Mein Puls rast in meiner Brust, wie jeden verfickten Freitag. Düstere Gedanken gehen durch meinen Kopf, der Drang zu töten dabei im Vordergrund. Es würde nur noch ein paar Minuten dauern, bis die nächste für ihre Vorführung bereit war.
Ein langes, tiefes Stöhnen signalisiert, dass einer der Männer mit Evelyn fertig ist. Das Geräusch wird mit einem anderen, kleineren Geräusch vermischt. Es ist ein kleiner Schluchzer, der an meinem nicht vorhanden Herzen zerrt.
Mein Blick schweift über den Raum, über Mädchen, die auf dem Boden hocken und sich hektisch schminken und die Haare bürsten. Bis sie auf eine kleine Gestalt landen, die in der hintersten Ecke des Raumes kauert und die versucht sich verzweifelt die losen, roten Haarsträhnen in den Zopf zu binden. Sie ist die Jüngste von allen, so viel konnte ich in diesem Monat ergründen. Aber ich weiß immer noch nicht ihren Namen, sowie von vielen Mädchen nicht, denn sie haben Angst vor mir. Ich bin der Teufel, der hier lauert und sie beobachtet. Ich bin derjenige, der sie an Handgelenken packt, an ihren zerre, wenn es nötig ist. Meistens freitags und bei anderen zufälligen Besuchen von Lamia und den Männern. Ich musste meine Farce vor ihnen bewahren. Die Maske durfte nicht verrutschen.
Zum Glück war er heute nicht da. Der als Teufel verkleidete Engel. Ich konnte das Böse in seinen dunklen Augen sehen. Keiner musste mir sagen, wer er war. Ich wusste es sofort, als er am ersten dieses Monats die Fabrik betrat. Er schlenderte in einem Designeranzug herum, als gehöre ihm die halbe Welt. Haare so golden wie ein Heiligenschein, aber eine Seele so dunkel wie die von Zenone.
Jegor. Und er war bereit, ein paar Mädchen abzuholen. Zu diesem Zeitpunkt war ich eine Woche hier gewesen. Eine Woche in der ich mehr gebrochene Seelen gesehen habe, als in meinem ganzen Leben. Die hohen, gequälten Schreie verfolgten mich noch immer die meiste Zeit der Nacht in meinen Alpträumen, als Jegor und seine Handlanger vier Mädchen einsammelten und sie mitnahmen. Unschuldige, gequälte Augen verfolgten mich. Obwohl die meisten von ihnen nicht mehr unschuldig waren. Wegen ihnen.
Sie sagten ihnen, dass sie Jungfrauen wollten. Aber nicht um sie für einen höheren Preis zu verkaufen, sondern um sie für völlig egoistische Zwecke zu benutzen. Und das taten sie auch. Brutal mit ihren Schwänzen, die sie in ihre engen, viel zu jungen Löcher rammten und sie auf die grausamste Art und Weise in eine Frau verwandelten wie man sich nur vorstellen konnte.
Ein weiterer leiser Schluchzer dringt zu mir und reißt mich aus meinen Gedanken. Ganz langsam stoße ich mich von meinem Platz an der Wand ab und bewege mich auf sie zu. Die Mädchen weichen von mir zurück, ihre runden, ängstlichen Augen treffen auf meine, während ich durch den Raum auf das rothaarige Mädchen zulaufe. Jeder einzelne Blick ist wie ein Schlag in mein bereits zerstörtes Inneres. Ich war kein Raubtier, das Jagd auf junge Mädchen machte.
Einen halben Meter vor dem Mädchen gehe ich schließlich in die Hocke. Gestützt auf meine Fußballen, bewege ich mich langsam durch den Schotter nach vorne, bis ich sie schließlich erreiche. Sie sitzt zusammengekauert mit dem Rücken zu mir und schluchzt leise vor sich hin, während Teile ihres stufigen, roten Haares aus ihrem Zopf fallen.
„Sch", murmele ich leise, während ich meine Hand hebe und sie langsam in Richtung ihres Zopfes bewege.
Meine Fingerspitzen streichen sanft über ihre Strähnen. Sie zuckt augenblicklich zusammen und eine Sekunde später rutscht sie von mir weg, während ein erneutes, leises Wimmern aus ihrem Mund dringt. Meine Hand verharrt in der Luft zwischen uns. Ich beobachte sie. Langsam nehme ich sie in mich auf. Eine große Männerhand. Schwielig, die Fingerknöchel tätowiert. In der Lage ihr zierliches Wesen zu brechen.
Ich seufze tief, während ich die Hand in den Raum zwischen uns fallen lasse.
„Ich will dir nur helfen, Liebling", sage ich sanft, während ich versuche mich kleiner zu machen, aber in ihren Augen ist immer noch nichts als pure Angst zu sehen.
Langsam schnalle ich meine Pistole von meinem Gürtel ab und schiebe sie über den Boden, bis sie außer Reichweite ist. Anschließend halte ich meine Hände hoch, mit den Handflächen zu ihr. Ein leises Gemurmel ertönt zwischen uns, aus den Augenwinkeln sehe ich, dass meine Waffe augenblicklich vom Boden aufgehoben wird.
„Fass sie nicht an, oder ich töte dich!" sagt die Stimme fest, allerdings mit einem leichten, fast nicht hörbaren Zittern im Unterton.
Meine Augen gleiten zur Seite. Blaue, hohle Augen starren in meine, während blassblondes Haar in wirren Strähnen über ihr grimmiges Gesicht fällt. Ihre abgesplitterten, schwarzen Nägel sind am Abzug, bereit zu schießen. Sie war älter als die anderen. Wahrscheinlich siebzehn, vielleicht achtzehn. Sie ist die Mutterhenne unter ihnen. Die älteste.
„Lisa...", höre ich eine leise Stimme murmeln.
„Was?!", schreit sie genervt. „Er fasst sie nicht an. Ich schwöre, wenn er sie mit seinen Schwanzhänden anfasst, werde ich ihn umbringen!", sagt sie fieberhaft, während eines ihrer blauen Augen dabei zuckt. Ihr Gesicht ist zerschrammt und sie ist viel zu dünn für ihr Alter.
„Hör zu, ich werde ihr nicht wehtun. Ich will nur helfen... ich", meine rechte Hand wandert in meine Hosentasche und greift nach einer kleinen, schmalen Haarnadel.
Ariels Haarnadel.
Meine Brust zieht sich zusammen, als ich den schlanken Gegenstand zwischen meinen Fingerspitzen halte. Ich habe ihn eines Tages in meinem Auto gefunden. Die einzigen Überreste meines Sweethearts. Hier bei mir.
„Ich will ihr nur die Haare feststecken", sage ich eindringlich, wobei die Worte auf meiner Zunge seltsam klingen, mein Blick hält dabei ihre blauen, leeren Augen und versucht Aufrichtigkeit zu vermitteln.
Ariel hat mich weich gemacht. Sie hat mich zu jemanden gemacht, der sich mit weiblichen Dingen auskennt, denn sie überfiel mich mit Haarnadeln, mit Lippenstift, mit Rouge und ihren verdammten hohen Absätzen, die meinen Schwanz schmerzhaft in meiner Hose pochen ließen.
Ich beobachte, wie Lisas Augen zu der Haarnadel in meinen Händen gleiten, bevor sie schließlich die Waffe senkt.
„Schön!", stößt sie mit einem Hauch von diesem nervigen Tonfall hervor, der eindeutig nach Teenager- Mädchen schrie.
Ich nehme dies als mein Stichwort und hebe meine Hand erneut. Diesmal zuckt das Mädchen nicht zurück, aber sie zittert immer noch heftig, als ich ihr loses rotes Haar an ihren Zopf stecke.
Ein paar Sekunden lang verharren meine Finger auf der Stelle.
„Wie heißt du, Liebling?", frage ich sie erneut, meine Stimme hört sich heiser an.
Stille breitet sich zwischen uns aus und als ich bereits glaube, dass sie mir nicht antworten wird, höre ich plötzlich ihre zittrige Stimme, die mir antwortet.
„Willow", flüstert sie zaghaft.
Ich öffne meinen Mund, aber alle Absichten, etwas zu sagen, werden von einem lauten Knall übertönt. Mein Blick fällt sofort auf die Tür, die nun sperrangelweit offen steht. In der Mitte von ihr Titus, der Evelyn an ihrem blonden Haar aus dem Zimmer zerrt. Ihre Augen sind geschwollen, rote Fingerabdrücke auf ihren Wangen und am Hals, während Lamia's Absätze über den Boden klacken. Gefolgt von dem Clown.
Pennywise.
Eine unsichtbare eiskalte Hand greift nach mir, als meine Augen zu ihm hinüberschweifen. Er war ein böses Wesen, das es auf junge Mädchen abgesehen hatte. Seine schwarze Kapuze ruht halb auf den rot gefärbten Spitzen seiner dunklen Haare, während er vorwärts schreitet. Ich musste sofort handeln.
„Es tut mir leid", stoße ich schnell flüstern hervor, bevor ich meinen Armbeuge um Willows Nacken lege und sie zu mir ziehe.
Ihr Rücken ist jetzt an meine Vorderseite gepresst. Ich versuche, nicht zu viel Druck auszuüben, während ich meinen Kopf senke.
„Ich werde dir nicht wehtun, das verspreche ich", flüstere ich ihr ein letztes Mal ins Ohr, bevor ich meine emotionslose Maske aufsetze.
Niemand brauchte meine wahres Ich zu sehen. Niemand musste wissen, dass ich vorhatte, all diese Mädchen zu retten.
Meine Augen sind immer noch auf den Clown gerichtet. Sein Gesicht ist weiß geschminkt, während seine Nase und Wangen von dunklen Schattierungen umzogen sind. In seinen Augen, die stark lila umrandet sind, liegen gelbe Kontaktlinsen. Gelbe unmenschliche Augen, die mich und Willow nun anstarren, während seine Zungenspitze über seine dunkelrot geschminkten Lippen fährt. Aus deren Mundwinkel sind zwei rote Linien gezogen, die bis durch seine Augen und die böse geformten Augenbrauen gehen. Wie ein blutiger Messerstich.
Ich weiß nicht wer er ist. Alles was ich weiß ist, dass er jung ist. Die Haut an seinem Hals ist zu glatt, um ein altes Arschloch zu sein.
Tiefer Ekel durchfährt meinen Körper, als er sein Gesicht leicht verzieht, seine dunkelrote Nase glänzt wie Blut.
„Bis zum nächsten Mal, du Schlampe!", ertönt plötzlich Titus raues Lachen an mein Ohr und lässt mich für einen Augenblick meinen Blick von dem Clown nehmen und ihn auf die Mitte des Raumes richten, in dem nun Titus mit Evelyn steht.
Ich beobachte anschließend, wie er ihr Haar loslässt und mit seinen Stiefeln gegen ihren Rücken tritt, so dass sie nach vorne taumelt, bis sie auf allen Vieren landet. Die Männer lachen. Aber es ist nicht nur das Lachen der Männern, sondern auch Lamias unter ihnen. Es ist ein hoher Ton, der mir die Haare auf der Haut zu Berge stehen lässt. Sekunden später sehe ich, wie sich die Spitze ihrer High Heels auf Evelyns Hintern zubewegt und sie erneut tritt, bis Evelyn mit dem Gesicht in den Dreck fällt.
Evelyn gibt keinen Laut von sich. Stattdessen lieg sie dort im Dreck. Fast regungslos, nur das gleichmäßige Heben und Senken ihres verbrannten Rückens signalisiert mir, dass sie noch am Leben ist. Ihr schmutziges, blondes, blutverschmiertes Haar um sie herum gefächelt.
Mein Magen revoltiert, gefolgt von einem eiskalten Schauer, der mir den Rücken hinunterläuft, als nun eine tiefe, kratzige Stimme ertönt. Es ist die Stimme des Clowns.
„Ich will sie", haucht er, während seine gelben Pupillen, die nun leicht geweitet sind, über Willow huschen und auf ihrer kleinen Brust, die sich durch ihr weißes Kleid abzeichnen, verweilen.
Seine Zunge leckt über seine rot geschminkten Lippen, während sein Blick weiter nach unten wandert. Bis sie über ihre nackten Beine gleiten. Schamlos, als ob ich nicht hier wäre. Mein Puls schlägt wild in meiner Brust. Der Drang, dem Bastard die Kehle durchzuschneiden, pulsiert heftig durch meine Adern. Stattdessen beiße ich mir auf die Zunge, während ich Willow fest an mich gedrückt halte. Ihr ganzer Körper verwandelt sich in einen Stein, als sie in meinen Armen, dem perversen Blick des Clowns ausgesetzt, alle Hoffnung zu verlieren scheint.
„Sorry, Penny, aber sie ist nicht zum Ficken da. Sie ist noch Jungfrau.", schallt Titus Stimme augenblicklich durch das Fabrikgebäude, während die Absätze seiner Stiefel über den Schotter knirschen.
„Umso besser", antwortet der Clown mit erregter Stimme, während seine Zunge erneut über seine Lippen gleitet.
Sogar durch die Kontaktlinsen kann ich den Wahnsinn in seinen Augen sehen.
„Ich liebe es junge Muschis zu zerfetzen. Allein der Gedanke daran macht meinen Schwanz verdammt hart. Willst du ihn spüren, kleines Täubchen?" ,fragt er sie erregt und packt Willows Arm, bevor ich irgendetwas tun kann.
Angewidert beobachte ich, wie er ihre kleine Hand an seine Leiste drückt.
„Penny!", ertönt die Stimme von Lamia schrill durch den Raum und lässt den Clown somit augenblicklich erstarren.
„Noch ein weiterer Fehltritt und ich werde deiner kleinen Frau von deinen wahren Wünschen erzählen. Also lass die Finger von ihr, denn ich garantiere dir deine Frau wird nicht begeistert darüber sein, dass sie einen Kinderficker geheiratet hat.", spuckt Lamia mit einer tödlichen Stimme hervor, das Geräusch ihrer Absätze ertönt hinter mir, bevor sie kurze Zeit später neben dem Clown zum Stehen kommt.
„Lamia, hab dich doch nicht so...", besitzt der Kerl die Dreistigkeit zu sagen, was dazu führt, dass sich auf Lamias Gesicht ein tödlicher Ausdruck ausbreitet, der sie wie eine Reinkarnation des Bösen aussehen lässt.
„Hab ich mich falsch ausgedrückt, oder was verstehst du daran nicht, Penny?" fragt Lamia düster. „Der Boss wird sie für einen Haufen Geld an die Russen verkaufen. Sie gehört dir nicht. Und wenn du es noch einmal wagst, so mit mir zu reden, werde ich dir das Leben zur Hölle machen", droht sie dem Clown, ihre Stimme wechselt jetzt in ein eiskaltes Timbre, das die Luft um uns herum gefrieren lässt.
Der Clown wirft seine Hände in die Luft, woraufhin Willows Hand von seinem Penis fällt. „Okay, beruhig dich. Ich habe nur angenommen, dass sie für einen kostenlosen Fick zu haben ist."
„Nein, ist sie nicht. Aber du kannst dir jemand anderen aussuchen. Irgendeine von ihnen", Lamias Stimme wird wieder süßlicher.
„Jede?", die Stimme des Clowns klingt jetzt aufgeregt.
„Ja, jede von ihnen. Obwohl ich Evelyn empfehlen würde.... oder , wenn du einen unser frischeren Schmetterlinge haben willst, vielleicht Olivia?", ihr Blick fällt auf ein junges Mädchen mit langen schwarzen Locken und olivfarbener Haut.
Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben. Angst, die den Clown zu erheitern scheint, denn ein paar Sekunden später läuft er auf sie zu, seine erregte Stimme erfüllt den Raum dabei.
„Komm her zu Papa."
***
Es ist lange nachdem Lamia und die Männer gegangen sind, als ich nach ihr sehe. Reihe für Reihe suche ich in jedem kleinen gefängnisartigen Raum nach ihr. Die Mädchen sind verängstigt. Entsetzte Augen blicken mich an, jede von ihnen hat Angst, was ich mit ihnen anstelle werde. Außer Lisa, die mir augenblicklich direkt ins Gesicht schlägt, als ich ihren Raum betrete und mir somit ein Veilchen in der Größe von Honolulu verpasst. Das Arschloch hat es verdient. Ich verdiene es. Es pocht wie verrückt, aber der Schmerz erinnert mich daran, dass ich noch am Leben bin.
Als ich sie endlich finde, liegt Evelyn auf dem Boden ausgestreckt . Wie eine zerbrochene Puppe, ihr Gesicht in den Dreck gedrückt. Jeglicher Kampf ist aus ihr gewichen. Alles Leben aus ihr verschwunden.
Etwas bewegt sich in meiner Brust . Es ist klein und kaum vorhanden, aber ich spüre es trotzdem. Wie eine unsichtbare Hand, die mich anstupst und mich nun in Bewegung setzt. Sie war jünger als Blake. Jünger als mein verdammter kleiner Bruder. Hilflos ausgeliefert.
Langsam gehe ich auf sie zu und hocke mich schließlich vor ihr hin. Vorsichtig hebe ich meine Hand und streiche sanft über ihre schmale Schulter. Mein Inneres verkrampft sich, als mein Blick über ihren nackten, dreckigen Rücken wandert, der mit Verbrennungen von Lamias Kerze übersät ist.
„Hey...", sage ich leise, doch Evelyn rührt sich nicht.
Ihr Rücken hebt und senkt sich nur langsam, das einzige Anzeichen dafür, dass sie noch am Leben ist. Ohne lange zu überlegen, schlinge ich meine Arme um ihre Mitte und hebe sie hoch. Ich wiege sie in meinen Armen, wie eine kleine Puppe, während mein Blick über ihren nackten Körper wandert, ihre Wunden inspizierend. Einige von ihnen sind tiefer als andere, aber nicht tief genug, um ernsthaft zu sein. Die Mädchen waren zu wertvoll für sie, um sie verbluten zu lassen.
Mit Evelyn in meinen Armen laufe ich weiter, bis ich das Badezimmer dieses verdammten Gefängnisses erreiche. Schimmelige, rissige Fliesen säumen die Steinwände. Auf der linken Seite befindet sich eine einzelne Badewanne und auf der rechten Seite ein Waschbecken und eine kleine Toilette. Vorsichtig setze ich Evelyn auf den Toilettensitz ab und drehe den Wasserhahn der Badewanne auf. Das Wasser würde kalt sein, denn warmes Wasser war ein Luxus, der den Mädchen nicht gegönnt war. Meine Hand greift nach der regenbogenfarbenen Seife, die riecht wie ein verdammtes Bonbon. Ich zerdrücke sie in meiner Hand, während mich ein sarkastische Schnaufen verlässt. Was für eine verdammte Shit-Show. Dann drehe ich mich zu Evelyn um, dessen Körper steif vor und zurück schaukelt, ihre Augen sind dabei unscharf auf die gegenüberliegende Wand gerichtet.
„Evelyn?", rufe ich sanft nach ihr, aber sie hört mich nicht. Ihr Verstand ist zu weit weg.
Schließlich mache ich einen Schritt nach vorne und hebe sie erneut hoch. Anschließend trage ich sie zur Badewanne, ihr Körper fühlt sich dabei zerbrechlich in meinen Armen an. So zerbrechlich, dass ich spüre, wie Traurigkeit in die tiefsten Abgründe meines Magens kriecht.
Die Seife immer noch in der Hand, setze ich sie schließlich in die Badewanne. Dann fange ich an sie einzuseifen. Langsam und gründlich bewege ich die Seife sanft über ihren Körper, über das verkrustete Blut und den Schmutz auf ihrer Haut. Blut und Schmutz füllen das Wasser und verwandeln es in einen hässlichen rot-schwarzen Farbton. Alles schreit in mir danach, das Wasser zu wechseln, aber alles was ich stattdessen tue, ist den Wasserhahn nach ein paar Minuten abzustellen und mich ihrem Haar zuzuwenden. Ihr Körper ist immer noch steif und bewegt sich kaum.
„Es war einmal ein Bösewicht", beginne ich plötzlich mit heiser Stimme zu sprechen, während ich die Seife auf ihre Kopfhaut lege und beginne ihr Haar einzuseifen.
„Er war gutaussehend, aber das spielte keine Rolle, weil er böse Dinge tat.", fahre ich fort, während Schaum über Evelyns nasses Haar rinnt.
Ich lege die Seife weg und beginne ihre Kopfhaut zu massieren und die Seife mit meinen Fingern einzuarbeiten. Der Schmutz rinnt mir über die Finger, aber ich mache weiter.
„Eines Tages traf er eine Prinzessin. Eine sehr hübsche", meine Stimme bricht für eine Sekunde und meine Brust zieht sich zusammen.
Ich nehme Evelyns lange Haarsträhnen in meine Hände, atme tief durch und fahre mit meinem beschissenen Märchen fort. Denn das ist es, was kleine Mädchen und Frauen lieben nicht wahr?
Märchen, die sie mitreißen. Auch wenn es ein beschissenes war.
„Sie war wild und stark und tanzte wie das Schönste, was er je gesehen hatte. Sie zog ihn mit dem Feuer in ihrer Seele in ihren Bann und lies ihn zum ersten Mal in seinem Leben träumen. Von Schlössern und Prinzessinnen, die ihm gehörten", ich mache erneut eine Pause, in der mich nun eine Vision von Ariel wie eine Flutwelle mit sich zieht.
Sie zwingt mich fast in die Knie, doch ich rede weiter. „Aber er war nur ein Bösewicht und Bösewichte waren einer Prinzessin nicht würdig", meine Stimme bricht als etwas Heftiges in die Mitte meiner Brust sticht.
„Kein Prinz?", es ist nur eine einzige Frage, die mit leiser, schwacher Stimme durch das Badezimmer driftet.
Trotzdem schnürt sich meine Kehle dabei zu. Ich schaue zu Evelyn hinunter und für einen kurzen Moment werden ihre braunen Augen sanft. Ein Anflug von Emotionen an diesem gottverdammten Ort, der mir die Tränen in die Augen treibt.
„Nein, kein Prinz, honey", antworte ich mit erstickter Stimme, während meine Hand sanft über ihr Gesicht streichelt, über ihre Augenlider fährt und sie sanft schließt.
„Schließ deine Augen ein wenig, kleine Harpyie. Du brauchst Ruhe", sage ich leise, bevor ich den Duschkopf ergreife und das Wasser erneut anstelle.
Ganz langsam spüle ich die Seife aus Evelyns Haar. Sobald ich fertig bin stelle ich den Duschkopf aus und lasse das Wasser aus der Badewanne ablaufen. Meine Arme greifen unter Evelyns Achselhöhlen und ich hebe sie ohne große Anstrengung aus der Wanne. Ihre braunen Augen sind jetzt auf mich gerichtet, während ich sie sofort in ein kratziges Handtuch wickele.
„Warum hast du mich Harpyie genannt?", fragt sie mich mit zittriger Stimme.
Ich sehe sie an und meine Lippen verziehen sich zu einem kleinen Lächeln, obwohl mir nicht nach Lächeln zumute ist. Mir war schon lange nicht mehr nach Lächeln zumute.
„Weil Harpyien die stärksten Vögel der Welt sind", sage ich sanft und schaue ihr dabei direkt in die Augen.
Ich beobachte, wie ihr Tränen in die Augen steigen und ihre Lippen leicht zittern. Ich wickele sie enger in das Handtuch und hebe sie wieder hoch. Dann trage ich sie zurück in ihren kleinen Raum. Kurz bevor ich sie auf ihre Matratze setze, ertönt ihre kleine Stimme erneut und lässt meinen Atem für eine Sekunde stocken.
„Du bist kein Bösewicht".
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