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Fort Lauderdale
Ein schwacher, milder Luftzug streift über mein Gesicht, kitzelt meine Nasenspitze und holt mich sanft aus meinem wohligen Schlaf. Ich öffne langsam meine Augen, blinzele ein paar Mal gegen die Helligkeit, bevor mein Blick durch das Schlafzimmer meines Cottages wandert. Die Terassentür steht weit offen, ihre weißen Vorhänge bewegen sich sanft in der milden Brise, während helles, klares Sonnenlicht den Raum flutet.
Ich richte mich in den flauschigen, weißen Laken auf und strecke meine Arme über meinen Kopf. Mein Haar kringelt sich in wilden, ungebändigten Locken um mein Gesicht. Ich kann das Meersalz noch an ihnen riechen. Ein Lächeln dringt auf meine Lippen, die definitiv wund von Jays Küssen sind. Es wird noch eine Spur größer, als mir Bilder von letzter Nacht vor meinem inneren Auge erscheinen. Ich beiße mir auf die Unterlippe, als Bilder von mir und ihm, wie wir wildküssend durchs Bett rollen durch meinen Kopf schießen. Nach Cocktails und schokoladenüberzogenen Erdbeeren gab es nichts Besseres als wilden, guten Sex! Mit einem zufriedenen Seufzen falle ich wieder zurück in mein Kissen und strecke meine Arme über meinem Kopf aus und schließe für einen kurzen Moment die Augen.
Ein auffällig starker Geruch nach Sandelholz dringt in meine Nase. Verwirrt öffne ich meine Augen und versuche zu erfassen, wo der Geruch herkommt. Mit einer schnellen Bewegung schlage ich die Decke zurück und bin für einen kurzen Moment sprachlos, als ich sehe, was ich anhabe.
Mein Körper steckt in nichts, als Jays hellblauem Shirt. Nur bin ich mir sicher, dass ich es nicht angezogen habe. Hatte ich mich in so einem komatösen Zustand befunden, dass ich nicht mal bemerkt hatte, dass er mir sein Shirt angezogen hatte?
Und was wollte er damit bezwecken? Hatte er es mir als eine Art Souvenir zurückgelassen?
Ich entscheide mich dazu mir nicht weiter darüber Sorgen zu machen. In den letzten Monaten hatte ich genug Männer getroffen, um mich nicht mehr mit ihren Eigenarten zu beschäftigen. Kurz entschlossen schwinge ich meine Beine über die Bettkante und laufe schließlich in Richtung Badezimmer.
Der große Badezimmerspiegel bestätigt mir, dass mein Haar aussah, wie eine Löwenmähne. An meinem Hals befindet sich ein riesiger Knutschfleck. Wenigstens war ich nicht die Einzige, das wusste ich. In der Nacht, hatte ich einen Blick auf Jays Hals erhaschen können, auf dem ich ebenfalls meine Spuren hinterlassen hatte.
Anscheinend hatte nicht nur er, sondern auch ich ein Souvenir hinterlassen. Ich kichere und greife schließlich nach dem Saum seines Shirts und streife mir es vom Körper. Dann steige ich in die angrenzende Dusche um mir das Salzwasser und die vergangene Nacht vom Körper zu waschen.
♥♥♥
„Uh Mírad!", trällert Lupita sofort, als ich die Umkleidekabine betrete. Uh schaut sie euch an. Ich verdrehe meinen Augen bei ihren Worten, auf meinen Lippen ein Lächeln.
„She just had seeeeeeeeeeex!", fängt Lupita von ihrem Stuhl an zu singen.
„And it felt sooo good", klinkt Ximena von ihrem Platz mit ein.
Ich schüttele lachend meinen Kopf, bleibe kurz zwischen den beiden stehen und schiebe die schwarzgerahmten Herzgläser meiner Sonnenbrille auf meinen Kopf.
„Komm, was erwartest du...?", Amaia zeigt nun mit eine Handbewegung auf mein Outfit. „Du trägst offensichtlich ein übergroßes Männershirt. Aufgepeppt oder nicht. Und du hast dieses scheiß Grinsen auf deinem Gesicht, das man nur hat, wenn man mit multiplen Os gesegnet wurde."
„Drei", sage ich nüchtern. „Hintereinander", ich ziehe das Wort extra lang, besagtes scheiß Grinsen nun auf meinem Gesicht.
„Maldito!", ruft Lupita aus „Sag mir bitte, dass es der heiße Typ von der Bar war und nicht irgendein Spinner!"
Ich zucke nonchalant mit meinen Schultern, während ein Grinsen auf meinem Gesicht erscheint.
„Oh, venga ya..." flucht Ximena schließlich. Och komm schon.
„Chica, gib uns wenigsten ein paar Details!", ruft Amaia mir leicht ungeduldig von ihrem Platz zu. „Ich hatte seit gefühlten Ewigkeiten keinen Sex mehr!"
„Una dama no besa y habla de eso", sage ich mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht und überbrücke schließlich den Weg zu meinem Sitz. Eine Dame küsst nicht und redet darüber.
„Es bueno que no seas una dama.", wirft Ximena nun von ihrem Platz ein. Gut, dass du keine Dame bist.
Ich stemme meine Hand in die Hüfte und ziehe fragend eine Augenbraue hoch. Ein Lachen dringt aus ihrem Mund, während sie ihre langen, dunklen Locken zurückwirft.
„Bellaza, versteh mich nicht falsch, du hast dein Herz an der richtigen Stelle, aber du bist keine Dame. Tienes demasiado fuego en tu sangre para eso." Dafür hast du zu viel Feuer im Blut.
„Sí", fügt Amaia hinzu und nickt dabei. „Niemand kann so seine Hüften schwingen wie du, wenn er kein Feuer im Blut hat, Chica".
„Ich meine guck dich doch an", sagt Ximena anerkennend. „Keine Dame hätte ein T-Shirt von ihrem One Night Stand schnurstracks zu einem Kleid umfunktioniert"
Ich kichere und zucke mit den Schultern. „Es hat eine viel zu schöne Farbe, um es zu verschwenden"
„Plus tío Iker hat bestimmt noch immer Angst vor dir!"
Bei der Erwähnung ihres Onkel Ikers breche ich in lautes Lachen aus.
„Was hätte ich denn auch denken sollen, wenn mir ein Mann Mitte 50 aus dem Nichts einen Wangenkuss verpasst?", kichere ich.
„Que te saluda", wirft Lupita ernst ein. Dass er dich begrüßt.
Ich schüttele den Kopf. „Wir Amerikaner begrüßen uns aber nicht so"
„Chica, du sprichst fast fließend Spanisch, aber weißt nicht, dass die Leute sich in Mexiko mit einem Küsschen auf der Wange begrüßen?"
Ich zucke erneut mit der Schulter. „Aparentemente no", gebe ich auf Spanisch von mir. Anscheinend nicht.
„Er wird sein Leben lang davon geschädigt sein, dass du ihm in die Eier gekniffen hast!", kichert Amaia los und Ximena lacht ebenfalls laut los.
„Bevor ich es vergesse...", ruft Lupita auf einmal klatschend aus. „Was wir dich fragen wollten Ariel, hast du Lust nächstes Wochenende mit uns nach Fort Lauderdale zu fahren? Du weißt der Club bleibt das ganze Wochenende wegen dem Vierten zu."
Ich zögere für einen kurzen Moment.
„Komm schon, chica. Ich bin mir sicher, da sind eine Menge Partys zum 4 Juli. Mit einer Menge Alkohol, Musik und heißen Typen!", versucht mich Lupita weiterhin zu überzeugen.
Ich habe kein Geld um nach Fort Lauderdale zu fahren. Ich muss all mein Geld sparen. Sonst würde Columbia noch weiter in die Ferne rücken.
„Wir fahren mit Ximenas Auto. Wenn wir uns die Spritkosten teilen kommen wir ziemlich günstig dorthin"
„Wo wollt ihr denn übernachten?", frage ich die wichtigste Frage.
„Im Hotel."
Ein Hotel ist definitiv zu teuer. Aber vielleicht konnte ich im Motel übernachten....
„Lasst mich die Nacht drüber nachdenken, ich sag euch morgen Bescheid."
♥♥♥
„Chica, ich bin immer noch kein Fan von der Idee", sagt Ximena zum wiederholt 1000 Mal zu mir, als wir nach einer 40 Minütigen Fahrt vor dem kleinen weißen Gebäude ankommen und sie kurz mit ihrem Wagen anhält.
„Ich auch nicht", pflichtet Amaia ihr von Beifahrersitz bei. „Wir hätten alle zusammengeschmissen und dir die Übernachtung bezahlt, Ariel. Dann hättest du nicht in diesem kleinen Ding, drei Straßen weiter als wir übernachten müssen."
Ich schüttele den Kopf. „Ich weiß, dass echt zu schätzen Girls, aber das war meine Bedingung", sage ich knapp, greife nach meinem kleinen pinken Handgepäck und öffne die hintere Autotür.
Stickige, feuchte Luft dringt mir entgegen und entfacht in mir eine sofortige Sehnsucht nach Ximenas Klimaanlage. Der Himmel über uns hat sich in der letzten halben Stunde grau gefärbt und lässt darauf hindeuten, dass uns in der nächsten Stunde ein Regenschauer bevorsteht. So wie es für Florida eben im Sommer üblich ist.
Mein Blick fällt auf das kleine Motel vor mir. Es sieht gar nicht so schlimm aus und hat sogar ein paar süße Palmen am Eingang.
„Aber chica ...", beginnt Ximena erneut.
„Lo sé", unterbreche ich sie sanft, bevor ich ein letztes Mal ins Auto blicke. Lupita schaut mich vom hinteren Autositz leicht besorgt an, doch sie sagt nichts. Sie weiß bereits, dass wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, ich schwer davon abzuhalten bin.
„Bis später", sage ich endgültig und trete ein paar Schritte vom Auto zurück.
„Und keine Cocktails ohne mich!", hebe ich spielerisch drohend meinen Finger, zwinkere ihnen anschließend spielerisch zu, bevor ich ihnen zum Abschied noch einmal eine Kusshand zu werfe. Dann drehe ich mich um und mache mich mit meinem pinken Koffer auf dem Weg zum Eingang des Motels.
Kühle Luft dringt mir entgegen, als ich das Motel betrete. Meine High-Heels schaben über den kratzigen, braunen Teppichboden, als ich auf die altmodische Rezeption zulaufe, an der eine Dame mittleren Alters sitzt. Als sie mich sieht weiten sich ein wenig ihre Augen. Ich kann es ihr nicht verübeln, denn mit meinem Outfit, bin ich der einzige Farbpunkt in diesem Gebäude. Meine knallpinken Shorts, die fast dieselbe Farbe von meinem kleinen Koffer haben, habe ich mit einem schwarzen T-Shirt in Lederoptik gepaart. Meine High Heels sind hellblau. Meine kleine Tasche, die über meiner Schulter hängt, orange. Ich hatte die Kleidung bei Goodwill für einen guten Deal ersteigert. Ich sehe aus wie ein wandelndes Knallbonbon, aber ich liebe es. Coco Chanel hatte einmal gesagt: „ Kleide dich schäbig und die Leute werden sich an deine Kleidung erinnern. Kleide dich einwandfrei und sie werden sich an die Frau erinnern."
Nach diesem Motto lebe ich.
„Hi", zwitschere ich fröhlich, als ich an der Rezeption angekommen bin und schenke der Frau ein warmes Lächeln. Ich setze meine blaue Sonnenbrille auf meinen Kopf, greife anschließend nach meiner Handtasche und öffne sie um meine Papiere rauszuholen.
Sie blickt mich an, als sei ich eine Außerirdische, die so eben aus einem Ufo gestiegen wäre. Ihre hellblonden Haare sind zu einem strengen Chignon zusammengebunden. Sie trägt kein Makeup, und schlichte Kleidung.
„Ich hab ein Zimmer für drei Tage gebucht. Auf den Namen Havering", sage ich und halte ihr meine Reservierungsbestätigung und meine Kreditkarte entgegen. Sie nimmt sie, mit kaum Regung auf dem Gesicht, entgegen.
„Einen Moment, bitte", sagt sie in einer monotonen Stimme und beginnt auf ihrem Computer zu tippen.
Als sie mich schließlich im System findet, steht sie von ihrem Stuhl auf und läuft auf die Wand hinter ihr zu, an der ein großes Schlüsselbrett mit mehreren altmodischen Metallschlüsseln hängt. Sie nimmt einen, mit der Nummer 34 drauf, von ihm herunter und kommt anschließend wieder auf mich zugelaufen.
„Hier ihr Schlüssel. Damit bekommen sie auch den Strom in ihrem Zimmer an. Das Zimmer befindet sich in der dritten Etage. Beim Auschecken müssen Sie den Schlüssel wieder an der Rezeption abgeben", sagt sie in einem ausdruckslosen Ton.
„Sex", sage ich auf einmal mit einem leicht frechen Lächeln auf dem Gesicht, weil ich solche unfreundlichen Leute einfach nicht ausstehen konnte. Das Wort scheint die Frau vollkommen aus der Bahn zu werfen. Ich sehe, wie sie knallrot anläuft.
„W..Was haben sie gesagt?", druckst sie hervor.
„Sex", sage ich noch mal nachdrücklicher. „Schüttet Glückshormone aus und verbessert die Laune. Sollten sie vielleicht auch mal öfter in ihr Leben integrieren", zwitschere ich und zwinkere ihr dabei zu. Dann fische ich meine Kreditkarte von der Rezeption, drehe mich um und laufe mit meinem kleinen pinken Koffer zum Aufzug.
Es wundert mich, dass so ein kleines, altmodisches Gebäude überhaupt einen Aufzug besitzt. Ich drücke den Knopf und warte bis der Aufzug endlich ankommt, dann steige ich ein und lasse mich in die dritte Etage fahren. Oben angekommen betrete ich den kleinen, altmodischen Flur und suche die Zimmernummern ab, bis ich schließlich mein Zimmer gefunden habe. Ich schließe es mit meinem Schlüssel auf und stecke anschließend den Schlüssel in das Schlüsselloch für den Strom.
Meine Augen gleiten kurz durch den Raum, über den braunen Teppich, das altmodische Queensize Bett, mit einer dieser hässlichen, bunten Steppdecken, bis zu den Vorhängen, die ebenfalls die selbe Farbe wie die Steppdecke haben. Schließlich seufze ich leise auf.
Für die nächsten Tage würde es reichen.
♥♥
„Chicos calientes en tres", ruft Lupita neben uns aus. Heiße Typen auf drei.
Ich öffne meine Augen und wende meinen Kopf ein Stück zur Seite, um von meiner Sonnenliege aus einen Blick auf besagte heiße Typen zu erhaschen. In einer schnellen Bewegung schiebe ich mir die Sonnenbrille auf den Kopf und beobachte wie drei Männer auf den Pool zugelaufen kommen. Sie sehen nicht schlecht aus.
Als sie am Pool angekommen sind, hockt sich der Größte von ihnen an den Pool und spricht mit Jemandem. Da ich neugierig bin, richte ich mich auf meiner Sonnenliege auf und schaue auf den Pool. In der Mitte liegt ein blonder Mann mit hellblauen Badeshorts und schwarzer Sonnenbrille auf einer blauen Luftmatratze. Er hat seinen Blick auf den größeren Mann gerichtet und spricht mit ihm.
Plötzlich hebt er jedoch seinen Kopf und schaut mich an. Sofort drehen sich sämtliche Männerköpfe um und die gesamte Aufmerksamkeit, der vier Männer liegt auf uns. Ich winke den vier Männern zu, was ein Grinsen auf deren Gesichtern auslöst. Ehe wir uns versehen können, kommen sie auf uns zu geschlendert. Der Mann im Pool, hat seine Luftmatratze nun völlig vergessen und steigt ebenfalls aus dem Pool. Ich greife nach meinem Sex on the beach und nehme einen Schluck, gleichzeitig setze ich mir wieder meine Sonnenbrille auf.
„¿Alguna vez te dije que te amo?", höre ich Lupita neben mir auf der Liege auf keuchen. Hab ich dir schon mal erzählt, dass ich dich liebe?
„No", sage ich lachend, während Lupita sich ein letztes Mal durch den dunklen Bob fährt, bevor die Männer vor uns zum Stehen kommen.
„Hi", spricht der Mann ganz rechts als Erstes. Er hat dunkelbraunes Haar, das zu einem kleinen Zopf zusammengebunden ist, auf seinem Gesicht ein Lächeln, was seine weißen Zähne zum Vorschein bringt. „Ich bin Gabriel. Das sind Oliver...", er deutet auf den Mann, mit kurzgeschorenem hellbraunen Haar, neben sich, „Zach...", sein Finger wandert zu dem blonden Lockenkopf daneben „ Und..."
„Chase", unterbricht ihn der Mann von der Luftmatratze, der nun ebenfalls an unseren Liegen angekommen ist. Seine Augen landen sofort auf mir. Ich schenke ihm ein Lächeln.
„Wir haben uns gefragt, was so schöne Frauen wie ihr ganz alleine ohne Begleitung am Pool macht?", flirtet Gabriel schamlos mit uns.
„Wer hat gesagt, dass wir alleine sind?", kontere ich und ziehe meine Augenbraue fordernd hoch.
Gabriel lacht laut auf. „Oh, ich sehe, du bist ein kleiner Hitzkopf"
„Klein ist gut", sage ich lachend und strecke ihm meine Hand entgegen. „Hi ich bin Ariel. Das sind Lupita, Amaia und Ximena", die Mädels begrüßen die Männer, während Gabriel meine Hand entgegennimmt und sie schüttelt.
„Morgen Nachmittag steigt bei uns im Ferienhaus eine kleine Party. Vielleicht habt ihr ja Lust zu kommen?", fragt uns plötzlich Zach, seine Augen liegen ein bisschen zu lange auf Amaias Brüsten, die durch ihr knappes gelbes Bikinioberteil noch ein Stück nach oben gepusht werden. Ich muss unmerklich schmunzeln.
„Klar!", ruft Ximena aus und wirft sich ihre langen dunklen Haare über die Schultern.
„Por favor di que la crees tan buena como yo", wirft sie schnell auf Spanisch ein. Bitte sagt, dass ihr sie auch so heiß findet wie ich.
„Oh si pero algo de", antwortet Lupita nickend und schenkt den Jungs ein leicht anzügliches Lächeln. Oh ja, aber sowas von.
„Ist das Spanisch?", fragt Chase auf einmal.
„Sí", antworten Ximena und Lupita gleichzeitig aus und nicken.
„Oh, das gefällt mir", sagt er, während er sich kurz über die Lippen leckt, seine Augen wandern über uns und bleiben für einen kurzen Moment auf mir haften. Sie wandern meinen Körper in einer schnellen, aber dennoch eindeutigen Art und Weise, entlang.
„Te apuesto", sage ich mit einem frechen Grinsen auf meinem Gesicht. Ich wette.
♥♥♥
Meine Finger wandern das letzte Mal zu meinem kleinen Zopf, mit dem ich mein dickes, lockiges Haar zur Hälfte hochgemacht habe. Alles war besser in dieser Hitze, als sein Haar offen zu lassen. Das grelle Licht der Badezimmerlampe verfängt sich in den regenbogenfarbenen Kreolen, die von meinen Ohren baumeln. Ein letztes Mal werfe ich einen Blick in den Spiegel, presse meine Lippen ein paar Mal aufeinander, um sicherzustellen, dass mein pfirsichfarbener Lippenstift hält. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, als ich auf mein Kleid schaue. Ich bin verliebt.
Selten habe ich, für so einen niedrigen Preis, ein so schönes Kleid ersteigert. Es ist ein geschnürtes Kleid in Batikoptik, das sich um meinen Körper wie eine zweite Haut legt. Mit seinen orange, rot, blau und gelben Farbtupfern erinnert es mich an den Regenbogen.
Ich verlasse das Badezimmer und suche nach meiner orangenen Handtasche. Es ist die einzige Tasche, die ich mitgenommen habe und ich bin froh, dass sie zu meinem Outfit passt. Kurz überschlage ich in meinem Kopf, wie viel Geld ich mitnehmen durfte um meinen Rahmen nicht komplett zu sprengen. Den Großteil meines verdienten Trinkgelds hatte ich bereits auf mein Konto eingezahlt, einen Teil hatte ich in einem Safe in Miami zurückgelassen. Für die drei Tage hier, hatte ich mir 100 Dollar genehmigt. Schließlich entscheide ich mich dazu, alles von meinem Geld mitzunehmen und meine Kreditkarte in den alten Safe des Motels einzuschließen. Dann stecke ich mein Handy in meine Handtasche, schließe sie und laufe mit denselben hellblauen High Heels wie gestern, über den braunen alten Teppichboden zur Tür. Ich ziehe den Schlüssel aus dem Schlüsselloch für den Strom und schließe die Tür hinter mir.
Unten vorm Motel angekommen, wartet bereits Ximenas Auto auf mich. Als ich die Hintertür des Autos öffne kommt mir direkt spanische Musik entgegen.
„Ojalá mi mamá me hubiera Illamado Sofía", sagt Amaia laut seufzend, als ich neben ihr auf die Rückbank gleite. Ich wünschte meine Mama hätte mich Sofia genannt.
„Y desearía que mi mamá me hubiera Ilamado Beyonce." Und ich wünschte meine Mama hätte mich Beyonce genannt. Ich lehne mich nach vorne und gebe Amaia zwei Küsschen auf die Wange. Bei der Erwähnung meiner Mama fühle ich einen kleinen Stich im Herzen. „ Aber wir können nicht alles haben", ich zucke mit den Schultern, während Lupita und Ximenas laute, singende Stimmen zu mir dringen.
Ich schnalle mich an und rufe anschließend durch den Wagen „Hey, ab heute heißt der Song nicht mehr Sofía, sondern Amaia."
Ximena und Lupita kichern und fangen sofort den Namen Sofía für Amaia auszutauschen.
„Schon besser", sagt Amaia kichernd und wirft ihren Kopf zurück.
♥♥♥
„Sehr außergewöhnliches Outfit", dringt Chase Stimme an mein Ohr. Ich stehe im Wohnzimmer des Ferienhauses, mein Blick auf den Pool gerichtet, der inzwischen von einer Menge von Leuten besetzt ist.
„Ich bin mir sicher in irgendeinem Land ist es nach §134 verboten, so viele Farben auf einmal zu tragen", sagt er lachend, weil er sich lustig findet.
Chase, Gabriel, Oliver und Zach, sind alles Jurastudenten. Sie befinden sich in ihrem letzten Jahr und sind als Pause von ihren Prüfungen über den vierten Juli nach Fort Lauderdale geflogen.
Lauter Bass dringt in meine Ohren, als ich meinen Kopf hebe und in Chases grüne Augen blicke. Fragend ziehe ich eine Augenbraue hoch.
Er zuckt mit den Schultern „Das war ein Scherz. Ich hab nur noch nie so ein Outfit bei einer Frau zuvor gesehen, das ist alles."
Ein kleines Lächeln dringt auf meine Lippen. „Das kommt daher, weil ich nicht so bin wie andere Frauen", sage ich frech und zwinkere ihm zu.
Chases Augen leuchten sofort auf und kurz verfluche ich mich, warum ich manchmal so forsch sein musste und mir nicht auf die Zunge beißen konnte. Chase ist süß, aber das wars auch. Sein Anwalt Jargon langweilte mich. Obwohl ich auf intelligente Männer stand, war mir Chase doch zu viel.
„Hast du Lust auf ne Runde Schwimmen?", er fährt sich mit seiner Hand kurz durch seine Haare und schaut mich hoffnungsvoll an.
„Hab keinen Bikini mit", sage ich knapp und widme mich wieder meinem Drink. Welcher dieses mal eine Cola ist, weil ich kein Bier mochte und es nur Bier im Haus gab.
„Och komm schon, du kannst doch auch in deiner Unterwäsche schwimmen gehen. Das ist doch praktisch dasselbe", sagt er schließlich.
Konnte ich. Das Problem ist, ich hatte keine Lust.
Ich schüttele wieder den Kopf „Keine Lust. Vielleicht später", sage ich knapp.
„Okay, darauf werde ich auf jeden Fall zurückkommen", sagt er und schenkt mir ein strahlendes Lächeln.
♥♥♥
Ein paar Stunden später, als es beginnt draußen zu dämmern, habe ich immer noch keine Lust, schwimmen zu gehen. Ximena tanzt mit Gabriel auf der Tanzfläche, Lupita ist nirgendwo aufzufinden und das letzte Mal, als ich Amaia gesehen hab, ist sie mit Zach zusammen gewesen. Ich will zurück zum Motel, das Problem ist nur, dass Ximena zu beschäftigt mit Gabriel ist, um mich zurück zum Motel zufahren. Ich fische nach meinem Handy und öffne Google Maps. Von dem Ferienhaus der Männer waren es nur zwanzig Minuten zu Fuß zurück zum Motel. Kurzerhand erschließe ich mich, den Weg zurück zum Motel zu laufen.
Als ich jedoch das Ferienhaus verlasse, höre ich Chase Stimme hinter mir.
„Ariel, warte! Wo willst du hin?"
„Zurück zu meinem Motel", rufe ich ihm über meine Schulter zu und laufe in die Richtung, die mir Google Maps anzeigt.
„Warte ich komme mit!", ruft er. Ich höre Schritte hinter mir und schließlich erscheint Chases blonder Haarschopf neben mir. „Wenigstens hast du dann einen angehenden Anwalt bei dir, falls dir was passieren sollte", plustert er sich ein wenig auf, bevor er schließlich mit mir in den Gleichschritt verfällt.
Meine Absätze hallen auf dem Bürgersteig wieder, als Chase beginnt über sein Studium zu erzählen. Ich höre nur mit halbem Ohr zu, meine Gedanken bei Mom. Es musste daran liegen, dass ihr Todestag immer näher kam. Um ihn herum wurde ich immer besonders nachdenklich und traurig. Ich war nie ein Kind der Traurigkeit gewesen, aber seine Mom zu verlieren, machte jeden Menschen traurig, so positiv er auch war. Ich schwelge in einer Erinnerung von vor ein paar Jahren und als ich das nächste Mal wieder blinzele, sind wir bereits vorm Motel angekommen.
Vorm Eingang will ich mich von Chase verabschieden, doch er besteht darauf mich bis zu meinem Zimmer zu begleiten. Auf der einen Seite bin ich dankbar dafür, aber auf der anderen Seite nervt es mich auch, weil ich keinen Mann dafür brauchte, mich bis zu meinem Zimmer zu begleiten.
Als wir die kleine Lobby betreten, sehe ich dass die Rezeption leer ist. Verwirrt schießt meine Augenbraue in die Höhe und ich bleibe für einen kurzen Moment stehen. Die Lampe über uns beginnt zu flackern. Im gleichen Moment ertönt Chase Stimme, mit derselben Frage, die mir auf der Zunge liegt.
„Muss die Rezeption nicht immer besetzt sein?"
Ich zucke mit den Schultern „Vielleicht macht sie Pause und sitzt irgendwo hinten im Pausenraum. Ist ja nicht so, als ob viele Gäste hier einchecken würden."
Chase nickt, so als ob das eine plausible Erklärung wäre, und begleitet mich zum Aufzug. Im Aufzug bemerke ich, dass Chase mich ständig anschaut. Ich weiß, dass er mich attraktiv findet und sich erhofft, dass ich ihn auf mein Zimmer mitnehmen werde. Aber da hatte er falsch gedacht. Ich mochte Sex zwar, aber ich stieg auch nicht mit Jedem ins Bett.
Als die Aufzugstüren sich endlich öffnen, kann ich diesen nicht schnell genug verlassen. Ich bin froh, dass Chase bald wieder weg ist. Meine Absätze schaben über den dunklen Teppichboden, eine der alten Neonröhren über uns beginnt zu flackern und taucht den Gang zu meinem Zimmer in einen leicht unheimlichen Schimmer. Ich werde schneller. „Hey Ariel, warte!", ruft mir Chase hinterher, doch ich biege schon um die Ecke zu meinem Zimmer. Kurz schaue ich über meine Schulter, sehe Chase, der ebenfalls um die Ecke biegt.
Als ich meinen Kopf wieder nach vorne wende, weicht jegliche Farbe aus meinem Gesicht und ein Schrei bleibt in meiner Kehle stecken. Mein Herz springt mir fast aus der Brust, als ich den Mann, der nun vor mir steht, in mich aufnehme. In seiner Hand hält er ein geöffnetes Butterflymesser, das nun auf mich gerichtet ist. Seine blauen Pupillen sind erweitert, sein langes Haar kringelt sich fettig um den Kragen seiner abgewetzten Kleidung, während er die schwenkbaren Griffhälften umklammert hält. Das Messer ist geöffnet, aber mit einer kleinen Bewegung war er in der Lage es zu schließen und es mir somit in den Bauch zu rammen. Angst durchflutet mich. Ich versuche mich jedoch zu beruhigen und mich nicht von ihr übermannen zu lassen. Ich muss ruhig bleiben. Panische Menschen tendierten in solche Situationen zu unüberlegten Reaktionen.
Ein manisch, hohes Lachen, das fast schon dem Joker ähnelt, dringt aus seinem Mund. Es halt an den Wänden entlang und verursacht eine Gänsehaut auf meiner Haut. Mein Zimmer liegt hinter ihm. Es gibt kein Entkommen.
„Ich bin Anwalt! Lassen sie das Messer fallen!", ertönt plötzlich Chases Stimme hinter mir.
„Tasche her!", schreit mich der Mann im selben Moment an. Seine Zähne sind gelb und halb abgebrochen, so wie es häufig bei Drogenabhängigen der Fall war.
Meinen Blick immer noch auf den Mann gerichtet, halte ich meine Tasche fest um meine Schulter geklammert. Ich zwinge mich dazu meine Stimme ruhig zu halten.
„Chase, gib dem Mann bitte Geld", sage ich so ruhig ich kann.
Ich weiß, dass der Mann tief im Inneren eigentlich nichts Böses im Sinn hat. Er wollte nur Geld für seine Drogen. Unter normalen Umständen hätte ich ihm auch meine Tasche gegeben, aber mein Handy befand sich darin. Mein Handy auf dem all meine Bilder mit meiner Mum waren. Ich konnte ihm die Tasche nicht geben, so sehr ich auch wollte. Allein die Vorstellung, dass er mit meinem Handy wegrennen könnte, ließ mir einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen.
Plötzlich wird mir von hinten die Tasche von der Schulter gerissen, im selben Moment ertönt Chase Stimme.
„Lassen Sie das Messer fallen! Laut §1 des Waffengesetz ist es nicht erlaubt, dass sie ein Balisong bei sich tragen."
Dieser Idiot!
Der Mann beginnt zu lachen und macht einen Schritt auf mich zu. Ich spüre die Klinge nun an meinem Bauch. Angstschweiß bildet sich auf meinem Rücken.
„Vielleicht in anderen Staaten, Schönling. Aber nicht hier in Florida", lacht der Mann wie besessen auf.
„Gib ihm einfach dein Geld, Chase", sage ich noch mal nachdrücklicher, während ein eiskalter Schauer meinen Rücken herunter läuft.
„Du solltest auf deine kleine Freundin hier hören. Sie ist schlau. Sie weiß was ich will. Entweder du gibst mir die Tasche oder dein Geld!", sagt er, seine Pupillen so sehr geweitet, dass ich das Gefühl habe seine Augen fallen bald aus seinen Augenhöhlen.
„Weißt du, mein letztes Date mit Crystal ist jetzt schon ziemlich lange her. Ich hab sie das letzte Mal heute Nacht gesehen...", seine Stimme klingt beinahe traurig, als seine Fingerspitzen über die Griffhälften des Butterflys fahren.
Schritte hinter mir deuten darauf hin, dass Chase sich endlich in Bewegung setzt. Ein bisschen Erleichterung dringt durch mich, als er schließlich in mein Blickfeld rückt und mit meiner Tasche neben dem Mann stehen bleibt. Doch statt ihm Geld zu geben, fängt er erneut an zu sprechen.
„Sie sind sich schon im Klaren, dass sie für eine Körperverletzung bis zu drei Jahren ins Gefängnis kommen können ? Und dann werden sie noch länger von ihrer geliebten Crystal getrennt sein", sagt Chase wieder in dieser verdammten Anwaltsstimme.
Hatte er den Ernst der Lage noch nicht erkannt?! Ich sehe wie die Augen des Mannes wütend aufleuchten, bei Chase Worten.
„CHASE!" schreie ich jetzt einfach nur. „GIB IHM EINFACH DEIN GELD!"
Doch Chase hört mir immer noch nicht zu.
„Anscheinend...", beginnt der Mann erneut, seine Zunge fährt über seine Zähne.
Plötzlich krallt sich seine Hand in einer schnellen Bewegung um meinen Arm und zieht mich blitzschnell mit einem Ruck zu sich heran. Ein modriger Geruch, vermischt mit dem Gestank nach Urin, dringt in meine Nase. Ich muss fast würgen.
„Braucht Schönling noch ein bisschen Motivation dazu das Geld rauszurücken."
Etwas Spitzes drückt sich nun in meinen Hals. Meine Augen weiten sich leicht, als ich realisiere, dass es die Klinge ist, die er mir an den Hals hält.
„ARIEL!", schreit Chase plötzlich auf, aus den Augenwinkeln kann ich sehen wie er einen Satz nach vorne macht und meine Tasche fallen lässt. Im gleichen Moment, öffnet sich urplötzlich die Tür neben meinem Zimmer und eine große Person tritt auf den Gang.
„Lass das Messer fallen!", knurrt eine tiefe, mir bekannte Stimme über den Gang.
Sie verursacht eine Gänsehaut auf meinen Armen.
Aus den Schatten des Flures tritt plötzlich der Besitzer der Stimme hervor, seine beiden Hände ruhig um den Griff einer Pistole gelegt, die er auf den Kopf des Mannes gerichtet hat. Meine Augen weiten sich, als ich die große Statur von Jay in mich aufnehme. Er sieht mit seinem weißen Hemd, das er an den Armen hochgeschoben hat, und seiner unordentlichen schwarzen Krawatte, die um seinen Hals hängt, total fehl am Platz aus. Er blickt den Mann nun mit einem stoischen Ausdruck auf dem Gesicht an. Ein so kühler Ausdruck in seinen Augen, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe.
Für einen kurzen Moment bin ich komplett sprachloch.
„Lass. Das. Messer. Fallen", sagt er erneut und betont jedes einzelne Wort dabei.
Die Öffnung der Pistole hat er immer noch auf den Mann gerichtet. Chase ist auf einmal merkwürdig still geworden.
Der Mann lässt das Messer fallen, hält meinen Arm aber immer noch mit seinem Griff fest. Ein großes Stück Angst verlässt meinen Körper, weil er nun nicht mehr das Messer an meine Kehle drückt.
„Wenn du mir die Tasche gibst...", er leckt sich mit der Zunge über die Oberlippe. „Dann gehört sie dir", sagt er zu Jay, während seine Fingernägel sich in meinen Oberarm bohren. Sein Blick ist auf Jay gerichtet, sodass ich für einen kurzen Moment unbeaufsichtigt bin. Das gibt mir Zeit, flink meinen Fuß zu heben und den Absatz meines High Heels in seinen Fuß zu bohren. Der Mann schreit laut auf und lässt von mir. Sofort renne ich los.
„Du kleines Miststück!", ruft er aus, langt nach vorne und greift nach dem Stoff meines Kleides.
Jays Arm schießt blitzschnell nach vorne, greift nach meinem Handgelenk und befördert mich in einer schnellen Bewegung zwischen seine Beine. Mein Körper zittert leicht, als ich mit dem Rücken an seiner Brust aufkomme. Seine ausgestreckten Arme halten mich an seinem Körper fest, während er immer noch ruhig die Waffe auf den Mann hält.
„Gib ihm Geld", knurrt Jay schließlich. Er spricht eindeutig mit Chase.
Mein Blick fällt zum ersten Mal seit einer Weile wieder auf ihn. Sein Gesicht ist nun weiß, fast wie das eines Geistes, als der Mann schließlich auf ihn zuläuft.
„Stell sicher, dass du ein paar Hunderter springen lässt. Crystal ist keine billige Frau", lacht der Mann wahnsinnig und hält seine Hand Chase ausgestreckt entgegen.
Auf einmal beobachte ich wie Chase sich bückt und schnell nach meiner Tasche greift, die auf dem Boden liegt.
Nein!
Mein ganzer Körper versteift sich. Jay muss es auch spüren, denn augenblicklich wandern seine Lippen zu meinem Ohr.
„Ganz ruhig, Sweetheart. Ich hab dich", sagt er in mein Ohr, meine Augen sind immer noch auf Chase gerichtet.
Mein Herz zerschellt in eine Millionen Splitter, als ich plötzlich dabei zusehe, wie Chase dem Drogenjunkie meine Tasche gibt, in der all das ist, was von meiner Mutter übrig geblieben ist. Der Mann schnappt sofort nach ihren Henkeln, hält sie fest umschlossen und rennt schließlich, mit meiner Tasche, in die entgegengesetzte Richtung des Flurs. Schließlich verschwindet er hinter der nächsten Ecke.
Ein wütender Schrei dringt plötzlich aus meinem Mund, im selben Moment reiße ich mich von Jay los und stürme auf Chase zu.
„Du ARSCHLOCH!", schreie ich ihn wutentbrannt an, während sich wilder, roher Schmerz in mein Inneres frisst.
Ich würde nie wieder meine Mutter sehen. Ich würde mir nie wieder Fotos von uns beiden anschauen können. Warum war ich auch so dumm gewesen und hatte alle meine Fotos auf meinem Handy gespeichert?
„Wie konntest du nur ?!", das letzte Wort kommt in einem Schluchzer aus meinem Mund, den ich sofort unterdrücke. Meine Lippe zittert, während ich auf Chase zugelaufen komme. Seine Augen sind weit aufgerissen, in ihnen ein Ausdruck, als ob er denkt ich sei wahnsinnig.
„Wie konnte ich nur ? Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, ich hab dir dein Leben gerettet!", sagt er nun eine Spur zu selbstgefällig.
Wut vermischt mit Schmerz überkommt mich, lässt mich meinen Schuh von einem meiner Füße ziehen und zum Wurf ausholen. Mitten in der Luft halte ich inne, als plötzlich eine Hand nach meinem Arm greift und mich ein Stück nach hinten zieht.
„Ganz ruhig, Tiger", dringt Jays Stimme sanft zu mir. Meine Haut prickelt, da wo er mich berührt hat.
Dann spricht er etwas lauter, seine Stimme nun ernst an Chase gerichtet „Hau ab."
„Bitte?", fragt ihn Chase und zieht eine Augenbraue hoch. „Du glaubst doch nicht ich lass dich einfach so davon kommen! Du hast eine Waffe auf einen anderen Menschen gerichtet!"
„Wenn du so weiter machst, bleibt es nicht nur bei einem", knurrt Jay mit tiefer Stimme.
Chase Augen weiten sich. Ein Blick auf Jay genügt, damit er sich umdreht und in Richtung des Aufzugs läuft. Kurz überlege ich noch einmal auszuholen und meinen Schuh nach ihm zu schleudern. Jay merkt jedoch sofort was ich vorhabe, denn plötzlich spüre ich, wie seine Finger sich um meine Hand mit dem Schuh legen und mich davon abhalten, mit dem Schuh zu werfen.
Als Chase von der Bildfläche verschwunden ist, spüre ich, wie sich meine Lunge zusammenschnürt und mich eine schmerzvolle Welle von Trauer erfasst. Mein Handy ist weg. Ich würde meine Mutter nie wieder anschauen können. Nie wieder würde ich ihr lachendes Gesicht sehen können. Tränen steigen in meine Augen. Ich beiße mir hart auf die Lippe und versuche an fröhliche Dinge zu denken, die mich davon abhalten würden, vor Jay in Tränen auszubrechen.
„Lass mich los!", schreie ich schließlich, weil ich nicht weiß wohin mit meinen Emotionen und stoße Jay meinen Ellenbogen in die Rippen. Dann renne ich auf meine Zimmertür zu, nur um zu merken, dass in der Tasche auch meine Schlüssel gewesen sind und ich nun nicht mehr in mein Zimmer komme.
Ich bleibe kurz mit dem Gesicht, in Richtung Tür vor meinem Zimmer stehen. Eine kleine Träne entweicht meinen Augen und läuft über mein Gesicht. Ich wische sie hastig mit meinem Handrücken weg.
„Ariel", es ist das erste Mal, dass er meinen Namen spricht.
Geruch von Sandelholz dringt in meine Nase, als ich plötzlich seinen warmen Körper an meinem Rücken spüre.
„Lass mich das machen", sagt er ruhig, bevor er mich sanft mit seinem Arm zu Seite schiebt. Ich beobachte, wie er plötzlich in der Hosentasche seiner schwarzen löchrigen Jeans kramt und schließlich zwei Büroklammern hervorholt. Dann beobachte ich ihn dabei wie er für eine Weile die Büroklammern in seiner Hand verbiegt. Es ist auf eine merkwürdige Art und Weise beruhigend ihm dabei zuzuschauen. Seine tätowierten, langen Finger fahren in flinken Bewegungen über das Metall der Büroklammern und biegen sie in alle Richtungen, bis die zwei aussehen wie zwei Werkzeuge.
„Ich kann auch eben nach unten laufen und nach einem Ersatzschlüssel fragen", sage ich schließlich mit etwas ruhigerer Stimme.
Solange ich nicht dran denke, ist alles in Ordnung.
Er schüttelt seinen Kopf, hebt ihn kurz und blickt mich an. „Glaubst du dieser Drecksschuppen hier hat einen Ersatzschlüssel, Sweetheart?"
Ich beiße mir auf die Unterlippe und schüttele meinen Kopf. „Du brauchst mich nicht mehr Sweetheart nennen. Wir haben schon miteinander geschlafen, vergessen?"
Seine Mundwinkel ziehen sich nach oben, bevor er sich dem Schloss wieder zuwendet.
„Lass das mal meine Sorge sein, Sweetheart."
Mit einer der Büroklammern hält er das Schloss unter Spannung, während er mit der anderen den Pin im Schloss runterdrückt. Keine Sekunde später springt die Tür auf.
Der Anblick meines Zimmers, bahnt erneut eine Welle von Emotionen in meinem Inneren an.
„Warte hier", sagt Jay und verschwindet plötzlich wieder auf dem Flur.
Nun, da ich alleine mit meinen Emotionen bin, spüre ich wie mich die Trauer darüber, dass mein Handy weg ist, wie eine Flutwelle mit sich reißt. Ich schlucke meine aufkommenden Emotionen runter, als ich mir die High Heels von den Füßen ziehe und barfuß durch das Zimmer des Motels laufe. Meine Brust schmerzt, während ich versuche die Emotionen einzuhalten. Mit einer Hand fahre ich in kreisenden Bewegungen über meinen Brustkorb und schließe kurz die Augen. Jay würde zurückkommen und ich wollte nicht, dass er mich so sah.
Schlagartig ist mir unendlich kalt. Meine Lippe beginnt zu zittern und plötzlich kann ich die Tränen nicht mehr einhalten. Lautlos fallen sie mein Gesicht herunter, während in meinem Inneren ein lauter Tornado voller Emotionen wütet. Für einen kurzen Moment gebe ich mir die Erlaubnis meine Emotionen rauszulassen. Ich lasse mich aufs Bett fallen, mein Kopf zwischen meinen Schultern.
Urplötzlich, fast wie aus dem Nichts, fasst plötzlich eine Hand unter mein Kinn und hebt meinen Kopf ein Stück an, sodass ich in seine eisblauen Augen blicken kann. Ein schwacher Geruch von Sandelholz und Tabak steigt in meine Nase. Ich hab nicht mal gehört, wie er wieder ins Zimmer gekommen ist.
Eine seltsame Ruhe überkommt mich auf einmal, als meine Augen in seine blicken. Vielleicht ist es die Tatsache, dass sie mich an die Farbe von Eiskristallen und an den Winter erinnern. An mein Zuhause in Colorado. An Schneeflocken, die einer der zerbrechlichsten Dinge der Natur waren und an geräuschlosen Schneefall in der Nacht, der mein Herz immer mit seltsamer Klarheit und Ruhe erfüllte.
„Du bist viel zu stark um zu weinen, Sweetheart", kommt plötzlich seine Stimme in einem Flüstern über seine Lippen, während er mit seinem Daumen unter meinen Augen entlangfährt und die Tränen trocknet. „Und zu hübsch", seine Lippen ziehen sich leicht nach oben.
Meine Mundwinkel ziehen sich kaum merklich nach oben, ich atme aus und stehe schließlich vom Bett auf. Seine Hand fällt von meinem Gesicht und er macht einen Schritt zurück.
„Warum hast du eine Waffe Jay?", frage ich ihn schließlich leise.
„Weil es draußen gefährlich ist", antwortet er knapp.
Bilder von dem Drogenjunkie und seinem Butterflymesser tauchen vor meinem inneren Auge auf. Schließlich nicke ich nur als Antwort.
„In der Tasche war mehr als nur Geld oder?", wechselt er plötzlich das Thema.
Ich nicke ein schmerzvoller Ausdruck erscheint auf meinem Gesicht. Er sagt nichts, sondern schaut mich nur in einem so undurchdringlichen Blick an, dass ich meinen Blick von ihm lösen muss, in Sorge darüber, dass er zu viel sieht, wenn er mir zu lange in die Augen schaut.
Mein Blick wandert stattdessen zum ersten Mal zu seinem Oberkörper. Inzwischen trägt er über seinem weißen Hemd, seine schwarze Lederjacke. Seine Krawatte hängt immer noch unordentlich um seinen Hals. Aus der rechten Jackentasche guckt achtlos ein Reisepass mit einem Flugticket hervor.
„Du fliegst nach Kuba?", frage ich ihn erstaunt, als mein Blick auf den schwarzen Schriftzug des Flugtickets landet.
Sofort wandert seine Hand zu dem Flugticket und stopft es tiefer in seine Jackentasche. Ein klares Zeichen dafür, dass ich es eigentlich nicht hätte sehen sollen.
„Hast du etwa Familie dort?", frage ich ihn weiterhin beharrlich.
Das, oder er arbeitete dort in einer humanitären Organisation. Jay erscheint mir allerdings nicht der Typ dafür, weshalb es ein Familienmitglied sein muss, das er dort besucht.
„So in etwa", ein seltsamer Ausdruck huscht kurz über seine Augen, verschwindet jedoch schnell wieder. Ich beobachte, wie er in seine andere Jackentasche greift und plötzlich ein paar Hundertdollarscheine rausholt.
Mein Mund klappt leicht auf, als er nach meiner Hand greift, sie umdreht und mir die Geldscheine in die Hand legt. Ich schüttele verneinend meinen Kopf, doch Jay greift nach meinen Fingern und umschließt die Geldscheine schließlich mit meiner Hand.
„Check aus und buch dich in ein Hotel", sagt er sanft, während seine Augen meinen Blick halten. Ein Kribbeln fährt über meine Haut und für einen kurzen Moment bin ich wieder sprachlos.
Wer ist dieser Mann?
Als ob er mich noch mehr aus der Fassung bringen will, greift er hinter sich und zieht schließlich die Pistole aus dem Bund seiner Jeans hervor. Er drückt sie mir in die andere freie Hand und blickt mich schließlich erwartungsvoll an.
„Weißt du wie man schießt?", fragt er mich, seine tiefe Stimme vibriert durch mich hindurch, während seine Augen mein Gesicht nach einer Antwort absuchen.
Ich nicke kaum merklich. Mum hatte mir bereits mit 14 beigebracht wie man mit einer Waffe umging. Für sie war es wichtig, dass ich wusste, wie man sich verteidigte. Aber noch nie zuvor hatte mir ein Mann eine Waffe gegeben. Noch nie zuvor hatte mir ein Mann seine Waffe gegeben. Ich blicke kurz auf die schwarze Pistole und hebe dann erneut meinen Kopf.
„Benutz sie, wenn nötig", sagt er schließlich eindringlich, bevor er sich umdreht und in Richtung Tür läuft.
„Jay!" rufe ich auf einmal laut aus. „Warte!"
Für einen Moment bleibt er stehen und dreht sich noch einmal zu mir um. Auf nackten Füßen komme ich über den Teppich auf ihn zugelaufen. Kurz vor ihm bleibe ich stehen, stelle mich auf Zehenspitzen und greife schließlich nach seiner Krawatte. In einer schnellen Bewegung binde ich ihm einen ordentlichen Krawattenknoten. Mit meinen Fingern streiche ich sie ein letztes Mal glatt, bevor ich einen Schritt zurück trete. Meine Augen liegen immer noch auf seinen. In ihnen all meine unausgesprochenen Gefühle, der letzten halben Stunde.
„Danke Jay. Für alles", flüstere ich ein letztes Mal, bevor er durch die Tür verschwindet.
♥♥♥
Die Waffe, die Jay mir gegeben hat, gibt mir genug Sicherheit, um eine letzte Nacht im Motel zu verbringen. Als ich am nächsten Morgen nach einer Nacht voller Alpträume aufwache, beginne ich meine Sachen zu packen. Ich würde zu Ximenas, Lupitas und Amaias Hotel laufen und mich anschließend dann dort einchecken.
Mit meinem pinken Koffer in der Hand laufe ich schließlich auf die Tür zu und öffne sie. Mein Atem stockt, als meine Augen auf einmal auf das orangene Objekt vor mir fallen, das vor meiner Tür liegt. Langsam gehe ich in die Hocke, greife mit zittrigen Fingern nach meiner Tasche und öffne sie.
Tränen steigen in meine Augen und mein Herz weint gleichzeitig vor Freude, als mein Blick auf mein Handy fällt.
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Frohe Ostern erstmal! :)
Ich hoffe das Kapitel war spannend...
Wünsche euch noch einen schönen Restfeiertag und bleibt gesund !:)
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