Yourself.
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Kᴀᴘɪᴛᴇʟ ₁₈ ﹕ Yᴏᴜʀsᴇʟғ
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Ich wusste selbst nicht so genau, wann Schule schwänzen zu meinem Alltag geworden war. Doch nachdem ich am gestrigen Nachmittag in unserem Badezimmer zusammengebrochen war und ich verzweifelt versucht hatte meinen verbundenen Arm vor meinen Eltern zu verstecken, hatte ich einfach beschlossen mich krank zu stellen. Dies vorzutäuschen war sowieso schon lange kein Problem mehr und es war mir auch egal, was ich alles an Unterrichtsstoff verpasste.
Inzwischen war es schon spät am Nachmittag und ich hatte mich Zuhause rausgeschlichen, da ich es dort einfach nicht mehr aushielt. Meine Eltern stritten sich mal wieder und das in einer Lautstärke, bei der ich sogar im Obergeschoss jedes einzelne Wort verstand – und wie konnte es auch anders sein, ging es natürlich dabei um mich. Unruhig hatte ich an dem Verband an meinem Arm genestelt, war kurz davor ihn abzureißen und erneut an den noch frischen Wunden zu kratzen, doch das hätte meine Eltern nicht zum Schweigen gebracht, weshalb ich in dem Moment, als unten ein lautes Klirren ertönte, aus dem Fenster geklettert war.
Jetzt lief ich durch die vom Herbstregen nassen Straßen der Innenstadt, die schwarze Kapuze meines Hoodies bis tief in mein Gesicht gezogen, sodass mir nur ein paar vereinzelte Strähnen von den feinen Tropfen, die aus dem grauen Wolkenschleier auf mich herabfielen, feucht an der Stirn klebten. Langsam zog sich die Nässe auch durch meine Kleider, tränkte den notdürftigen Verband unter dem Ärmel meines Hoodies und ließ ihn an den Wunden kleben. Mit jeder Bewegung, jedem Schritt brannte es unangenehm auf meinem Unterarm und kurz verließ ein Zischen meine zusammengepressten Lippen.
Trotz, dass ich aus meinem Haus geflohen war, hörte mein Kopf nicht auf zu dröhnen. Viel mehr hämmerte es dumpf gegen meine Schläfen – die Schuld und der Schmerz übermannten mich zeitgleich, wie ein riesiger Tsunami. Ich hatte das nicht gewollt. Ich hatte mir geschworen es nie wieder zu tun... und dennoch konnte ich gar nicht anders.
Für einen kurzen Moment riss ich meinen Kopf hektisch nach oben, als das empörte Klingeln und Schimpfen eines Radfahrers ertönte, mit dem ich in meiner Trance beinahe zusammengestoßen wäre. Überrumpelt stolperte ich einige Schritte zur Seite, versuchte verzweifelt einen Punkt zu fixieren, damit ich mein Gleichgewicht nicht gänzlich verlieren würde und blieb schließlich an der Glasfront eines Ladens gleich neben mir hängen.
Binnen einer Sekunde weiteten sich meine Augen und in sie wanderte ein längst verloren geglaubtes Funkeln. Doch so schnell wie es gekommen war, so schnell verschwand es auch schon wieder und ließ einen noch viel dunkleren Schimmer als zuvor auf meinen Seelenspiegeln zurück. Ein eiskalter Schauer wanderte über meinen Rücken und als ich meinen Blick ein Stück von links nach rechts wandern ließ, all die Ausstellungsobjekte hinter der Glasscheibe betrachtete, drängte sich mir die erste Träne in den Augenwinkel.
Mein Herz schlug in einem irren Tempo, raste wie wild in meiner Brust und schmerzte trotzdem mit jedem Schlag so unglaublich doll. Meine Atmung verschnellerte sich und als schließlich die Bilder meine Gedanken fluteten, auf die ich nur gewartet hatte, entwich mir ein ersticktes Keuchen. Wie in einem Fiebertraum vermischte sich die Gegenwart mit der Vergangenheit – die Regentropfen an dem Schaufenster wurden durch goldgelbe Sonnenstrahlen ersetzt, die Tränen, die sich auf meinem nassen bereits durchnässten Hoodie sammelten mischten sich mit einem glücklichen Lachen und die Umrisse der braunen Gitarre direkt vor mir verschmolzen immer mehr zu einem metallenen Saxophon.
Vollkommen überfordert und von Schmerzen übermannt, sackte ich auf meine Knie, biss mir fest auf die Unterlippe und stieß unkontrollierte Schluchzer in die kalte Herbstluft aus. Plötzlich kribbelte es wieder so einladend unter meiner Haut, als ob sie sich danach sehnen würde endlich von etwas scharfem berührt zu werden. Hastig ließ ich meine Finger an meinen Unterarm wandern, vergrub die Nägel tief in dem schwarzen Stoff, drückte die Nässe fest auf die Wunden darunter und keuchte augenblicklich angestrengt auf. Allerdings konnte ich hier nichts weiter machen und früher oder später würde mich einer der Passanten noch ansprechen oder mir einen Krankenwagen rufen.
Unter größter Anstrengung rappelte ich mich also wieder auf, sah mich kurz um und versuchte das Musikgeschäft neben mir zu ignorieren. Plötzlich blinkten die Straßenlaternen auf und hüllten die kaum befahrene Straße in ein schummriges Licht. Gleichzeitig stach mir auch die Beleuchtung der anderen Geschäfte mehr ins Auge, sodass der kleine Kiosk auf der Ecke nicht unentdeckt blieb. Eilig, aber immer noch nicht ganz Herr meiner Sinne, stolperte ich herüber auf die andere Straßenseite und gleich in das winzige Lädchen herein.
Keine Minute später hatte ich eine Flasche mit klarer Flüssigkeit in der Hand und stand wieder in dem Herbstregen, der nun um einiges kräftiger auf den grauen Asphalt fiel. Mit zittrigen Fingern und beinahe fanatisch schraubte ich den Deckel von dem Kopf, warf ihn achtlos auf den Boden und hatte die Öffnung der Flasche im nächsten Moment schon an meine Lippen gesetzt. Gierig warf ich meinen Kopf in den Nacken, die Regentropfen fielen auf meine blasse Haut, brachten mich dazu die Augen für einen Moment zu schließen. Und schließlich kippte ich die brennende Flüssigkeit meinen Rachen hinab, spürte wie sie sich langsam meinen Hals herunterschlängelte und die Wärme sich in jeden Winkel meines Körpers schob.
Immer schneller schluckte ich den Alkohol herunter, setzte die Flasche erst wieder ab, als ich mich fast übergeben musste und hustete sogleich mehrmals auf. Doch in dem Moment, wo ich einen tiefen Atemzug nahm und meine Augen wieder öffnete, bereute ich dies sogleich. Denn in dem Moment fielen diese auf den blauen Haarschopf eines Jungen, der dort in dem Regen auf dem Bürgersteig stand - einige Meter vor mir und mit einem Gefühl in seinen einnehmenden Augen, das mir mein rissiges Herz in tausende Trümmer zerschlug.
Für einen Augenblick starrte ich durch die grauen Schlieren des Regens hindurch zu ihm herüber, spürte erneut den Schmerz in meinem Körper, der sich zu einem gewaltigen Berg auftürmte und mich zu verschlingen drohte. Dann wandte ich mich jedoch all meine restliche Kraft zusammennehmend ab, drehte mich in die entgegengesetzte Richtung herum und setzte die Spirituose erneut an meine Lippen.
„Jungkook, jetzt warte doch!", hörte ich da sogleich die tiefe Stimme Taehyungs, die mich kurz aufzucken ließ. Doch dies verleitete mich nur noch mehr dazu, ein paar große Schlucke aus der Flasche zu trinken. „Was denkst du, was du da tust?", mischte er sich aber sofort wieder ein, wobei seine Stimme ein ganzes Stück lauter wurde und ich seine schnellen Schritte durch die Pfützen platschen hören konnte.
Komplett verzweifelt versuchte ich mich zu beruhigen, mich nicht von ihm in die Enge drücken zu lassen und mein inneres Chaos zu kontrollieren. Doch mit jedem Platschen, was ich gleich hinter mir vernahm, schwoll der Schmerz weiter an, bahnten sich mehr Tränen in meine Augen und gesellte sich schließlich auch Wut dazu. Schnell nahm ich noch einen Schluck, spürte das Brennen nun schon kaum mehr und hoffte, dass sich so auch das alles zerberstende Feuer in meinem Inneren löschen lassen würde. Ich hoffte, dass der Schmerz endlich betäubt werden würde.
„Was ist dein Problem, Jungkook?" Doch in genau dem Moment, wo diese Worte die Lippen des Jungen hinter mir verlassen hatten, ballte ich meine freie Hand zu einer Faust und blieb abrupt stehen. Meine Atmung ging rasselnd und ich malte wütend mit meinen Kiefern aufeinander.
Da ertönte ein weiterer Schritt – und brachte damit endgültig das Fass zum Überlaufen.
Mit einem Mal drehte ich mich voller Wut und Verzweiflung zu dem Blauhaarigen herum. Hitzig funkelte ich ihn an, versuchte mit all meiner Kraft irgendetwas über meine Lippen kommen zu lassen - irgendein Wort oder gar eine Antwort auf seine Fragen. Mein ganzer Körper begann zu zittern, die Tränen fielen wie ein Rinnsal aus meinen Augenwinkeln und das Einzige, was ich schaffte, war ihm die fast leere Flasche billigen Alkohols vor die Füße zu werfen.
„Das wird dir nicht helfen, Kookie", flüsterte Taehyung daraufhin, gleich nachdem er den hunderten von Glasscherben nur einen flüchtigen Moment seiner Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Ganz langsam öffnete ich meine zitternden Lippen. „A-aber du wirst e-es auch n-nicht." Meine Stimme war so hauchdünn, dass sie sofort in der nassen Regenluft verflog und nicht viel mehr als ein weit entferntes Echo in meinen Gedanken zurückließ. Doch Taehyung schien mich verstanden zu haben, denn auf seine Lippen legte sich ein sanftes Lächeln. „Nein, das kannst du nur selbst", sprach er voller Zuversicht und Hoffnung.
Und genau in dem Moment wurde mir bewusst, dass es dafür schon viel zu spät war.
„Lass mich endlich in Ruhe!", schrie ich ihm deshalb mit schmerzverzerrtem Gesicht entgegen, drehte mich anschließend, ohne ihm noch einen Blick zu schenken, herum und stolperte geradewegs in eine ältere Dame hinein. „Junge, pass doch auf!", beschwerte sie sich sofort, wobei sich keine Sekunde später jedoch Sorge in ihre Augen legte. „Geht es dir gut?"
Diese Frage – wann hatte ich sie das letzte Mal überhaupt ehrlich beantwortet?
Ein bitterliches Wimmern verließ meine Lippen und dann rannte ich – wohin? Das wusste ich selbst nicht.
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