Graffiti.
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Kᴀᴘɪᴛᴇʟ ₂₆ ﹕ Gʀᴀғғɪᴛɪ
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„T-taehyung", mir stockte der Atem, während mir mein Herz bis zum Hals schlug. Immer noch lagen die dunklen Iriden Taehyungs auf mir und immer noch waren seine Lippen nur wenige Zentimeter von den meinen entfernt. Er würde doch nicht-
Doch in genau dem Moment, wo mir ein weiterer kalter Schauer in die Glieder kroch, stieß sich der Junge schwungvoll von der Wand ab. „Dieser Ort ist perfekt", kam es ihm da schon beinahe überschwänglich über die Lippen, gefolgt von einem kehligen Lachen. Daraufhin begann er mit einer Hand in seinem durchnässten Jutebeutel zu kramen. Vollkommen eingenommen, lagen meine Augen baff auf dem Schwarzhaarigen, wobei mein Herz sich noch immer nicht beruhigen wollte. Meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, während mir die Hitze in die Wangen schoss, wenn ich an die Situation von eben zurückdachte.
Mit einem Mal zog Taehyung eine metallene Flasche aus dem Beutel hervor und drehte sich mitsamt dieser zu der grauen Backsteinwand herum. Für einen kurzen Moment schien es fast so, als würde der Junge mit den Schatten der trostlosen und so tristen Wand verschmelzen. Doch plötzlich blitzte es in seinen Augen aufgeregt auf, bevor er auch schon seinen Arm hob und mit der Dose weiße Farbe an die kalten Steine sprühte. Langsam wurde jeder Backstein in ein strahlendes Weiß getaucht, bevor Taehyung wenig später zu einer anderen Dose griff, sich hinhockte und das weiß mit einem stechenden Rot überdeckte.
Mit offenem Mund und großen Augen beobachtete ich fasziniert jede einzelne Bewegung des Dunkelhaarigen. Ich sah, wie er schwungvoll seinen Arm bewegte, sein Handgelenk gezielt knickte, um einzelne Punkte zu sprühen und immer wieder mit seinem Zeigefinger auf die Dose drückte. Dass seine Augen dabei schon fast einen wilden, völlig in den Bann seines Werkes gezogenen Ausdruck annahmen, brachte mich dazu einige Schritte auf ihn zuzugehen.
Immer mehr Farben fanden ihren Platz auf dem Brückenpfeiler, formierten sich zu einem einzigartigen Kunstwerk und brachten auch mich dazu für ein paar Minuten alles um mich herum zu vergessen. Die Blitze, das Grollen, das laute Prasseln des Regens. In diesem Moment gab es nichts anderes als Taehyung und das Farbschauspiel, das er mit seinen Künsten an die Wand warf.
Erst als sich der Junge in dem schwarzen Hoodie mit einem zufriedenen Seufzen von der Wand löste und einige Schritte zurücktrat, um sein Kunstwerk zu betrachteten, gelangte auch ich langsam wieder zurück in die Realität. Blinzelnd versuchte ich mich wieder mehr zu konzentrieren und war sogar kurz davor mir einige Male mit der flachen Hand gegen die Wangen zu schlagen. Allerdings fiel mein Blick augenblicklich wieder auf das Graffiti und damit sackte auch mein Verstand wieder ins Unterbewusste. Viel zu sehr wurde ich von den Formen und Farben eingenommen.
Jeder einzelne Strich löste mit einem Mal ein Gefühl in mir aus, was ich noch nie so erlebt hatte. Das grelle Weiß wirkte schon fast zerstörerisch zwischen dem tiefen Rot und dem Pechschwarz. Der Schatten des Brückenbogens warf das Graffiti in ein dämmriges Licht, gab diesem einen traurigen Beigeschmack. Alles, wirklich alles an diesem Bild ließ mein Herz schwer werden. Qualvoll zog es sich in meiner Brust zusammen, wo es zuvor noch so aufgeregt geschlagen hatte. Ohne es kontrollieren zu können füllten sich meine Augen mit Tränen und erst da wachte ich gänzlich aus meiner Starre auf. Hastig wischte ich mir mit dem Handrücken über die feuchten Augenhöhlen, bevor ich meinen Blick von den Farben losriss und zu Taehyung herübersah.
„T-taehyung", kam es mir flüsternd über die Lippen, während mein Blick auf dem Jungen lag, der voller Stolz das Bild vor sich betrachtete. „Taehyung", versuchte ich es ein weiteres Mal, als er überhaupt nicht zu reagieren schien und meine dünne Stimme wohlmöglich überhört hatte. „Hm?", gab er knapp von sich, ohne seine Augen auch nur eine Sekunde von dem Sturm an Farben zu nehmen. „D-darf ich dich... darf ich dich e-etwas fragen?", stotterte ich und verzog meine Lippen danach zu einer schmalen Linie. Gleich nachdem Taehyung den letzten Strich unter das Graffiti gesetzt hatte, brannte mir diese eine Frage auf der Zunge. Ich wollte es unbedingt wissen. Ich wollte wissen, was es bedeutete. Warum er ausgerechnet diese Farben gewählt hatte, so stark und gegensätzlich. Ich wollte wissen, warum es keine Ordnung in dem Bild gab und warum es wie ein Strudel wirkte, in den man tief hineingezogen wurde. Ich wollte wissen, warum es auf eine skurrile Art so bedrückend aussah.
„Was...", für einen Moment musste ich mich sammeln, „was bedeutet es?"
Gebannt lagen meine Augen auf Taehyung, studierten jede seiner Bewegungen, sodass mir sofort auffiel, wie seine Mundwinkel für einen winzigen Moment herabfielen, bevor er sich jedoch räusperte und seinen Blick schließlich von der Wand nahm. Mit einem Kichern bückte er sich zu dem Jutebeutel herab und verstaute seine Spraydosen darin. „Das ist das Erste, was du fragst? Nach der Bedeutung?", sprach er dann ruhig, jedoch konnte ich den Spott aus seiner Stimme heraushören. „Ganz einfach", mit Schwung erhob er sich vom Boden und trat einen Schritt auf mich zu, „es hat keine Bedeutung."
Von der plötzlichen Nähe völlig überrascht, stolperte ich ein paar Meter zurück, spürte aber mit einem Mal wie mein Fuß ins Nichts trat und ich mein Gleichgewicht verlor. Entsetzt riss ich meine Augen auf und begann wild mit den Armen zu rudern. Panik kroch in mir hoch, als ich rückwärtsfiel und mich schon darauf gefasst machte, in dem eiskalten Wasser des Kanals zu versinken.
Mit einem Mal spürte ich jedoch einen Arm um meiner Hüfte und wie ich schwungvoll wieder auf beide Beine gezogen wurde. Meine Knie fühlten sich an wie Pudding, sodass ich unbeholfen gegen eine kräftige Brust stolperte. Meine Augen hatte ich vor Angst noch immer festzugekniffen, wobei mir mein Herz bis in die Hose gerutscht war. „Ich... i-ich dachte ich muss... sterben", wimmerte ich und griff mich, ohne zu überlegen fest in dem nassen Stoff fest, der sich unter meinen Fingerkuppen befand. Meine Stirn ließ ich ebenfalls darauf sinken, bevor sich die Welle an Panik langsam wieder legte und das grausame Kribbeln in meinem Bauch sich beruhigte.
„Hey...", hörte ich da mit einem Mal eine dunkle Stimme direkt neben meinem Ohr, die mir einen warmen Schauer über den Nacken jagte und mich erzittern ließ, „alles gut?" Für einen kurzen Moment ließ ich meine Stirn noch auf dem Körper liegen, der trotz der nassen Klamotten unglaublich viel Wärme ausstrahlte. Als mir aber mit einem Mal bewusstwurde, wo ich mich befand und mit wem, fügten sich die Puzzleteile in meinem Kopf zu einer erschreckenden Realität zusammen.
„Scheiße!", verließ es plötzlich meine Lippen, bevor ich mich ruckartig von dem warmen Körper löste und Taehyung vollkommen entsetzt anstarrte. „Kann ich das als dein „Danke" dafür verstehen, dass ich dich vor dem Ertrinken bewahrt habe?", zog der Großgewachsene mich auf und verzog seine Lippen zu einem schiefen Grinsen. Wie angewurzelt stand ich auf meinem Fleck, konnte mich keinen Millimeter rühren und versuchte verzweifelt das Kribbeln in meinen Fingern zu ignorieren, die sich soeben noch in den Stoff seines Hoodies gekrallt hatten. „I-ich... ich meine", stammelte ich überfordert, während mir allmählich bewusstwurde, dass ich soeben wirklich ziemlich unhöflich gewesen war. Beschämt wandte ich meinen Kopf ab. „Danke", kam es mir kaum hörbar über die Lippen.
„Kein Ding, Jungkook", kicherte Taehyung jedoch unbeeindruckt. Langsam nahm ich meinen Kopf wieder hoch, blieb dabei erneut an dem frischen Graffiti hängen und sah schließlich zu meinem Gegenüber. „Danke", sagte ich da ein weiteres Mal, diesmal deutlich gefasster und legte sogar ein schmales Lächeln auf meine Lippen. „Du musst dich nicht bedanken, wirklich nicht", winkte der Dunkelhaarige allerdings nur ab. „Nicht nur dafür, dass du mich aufgefangen hast", ergänzte ich dann hastig und konnte nicht verhindern, dass sich ein ganz eigenartiges Gefühl in meine Brust legte, „auch für das Bild."
Augenblicklich riss der Junge vor mir seine Augen auf. Starrte mich beinahe so an, als könnte er überhaupt nicht glauben, was ich soeben gesagt hatte. Für einige Sekunden hatte es ihm sogar die Sprache verschlagen, bevor er sich aber schließlich fahrig durch die nassen Strähnen fuhr und seinen Kopf fallen ließ. „Es hat nichts mit dir zu tun", presste er da angespannt hervor und schloss seine Hände zu Fäusten. Was war denn nur los mit ihm? Habe ich etwas Falsches gesagt?
Einen Moment später entspannte sich Taehyung aber wieder und sah mit seinen dunklen Iriden zu mir herüber. „Ich mache das für mich", sprach er, brach den Blickkontakt zu mir dabei keine Sekunde. Er machte das für sich? Was meinte er denn damit? In diesem Augenblick wirkte er wieder so unnahbar für mich, so weit weg und nicht greifbar. Und doch gleichsam faszinierend.
„Aber warum denn illegal?", warf ich die Frage in den Raum, die mir auf der Zunge lag. „Kannst du denn nicht Zuhause auf einer Leinwand sprühen?" Sofort konnte ich sehen, wie sich in dem Aufleuchten eines hellen Lichtblitztes, ein grauer Schleier über Taehyungs Iriden legte und seine Mundwinkel ein weiteres Mal an diesem Abend herabsanken. Schnell trat ich einen Schritt vor und war schon drauf und dran mich für meine Rücksichtslosigkeit zu entschuldigen, doch da drehte er seinen Kopf zu dem Gemälde herüber und nahm einen tiefen Atemzug.
„Ich kann dort nicht malen", seufzte er bedrückt auf, wobei seine Augen jeden Winkel des Graffitis zu studieren schienen. Bei diesen Worten zog sich meine Stirn kraus und ich blinzelte einige Male nachdenklich. Ich wusste genau, dass ich schon genug Grenzen überschritten hatte und es mir eigentlich verbieten sollte, noch weiter nachzuhaken. Aber ich wollte unbedingt mehr über Taehyung erfahren. „Warum denn nicht?", sprach ich also meinen wirren Gedanken aus und hoffte einfach nur darauf, dass der Schwarzhaarige jetzt nicht wütend werden würde.
Erneut zuckte ein weißer Blitz vom Himmel, warf das farbige Bild in ein gleißendes Licht und jagte mir eine Gänsehaut auf die Haut. „Mein Bruder macht meine Bilder sofort kaputt", presste Taehyung kalt und unglaublich leer hervor. Nicht ein Funken eines Gefühls lag in seinen Worten und stellte meine Haare damit nur noch mehr zu Berge. „Wieso denn das?", hakte ich sogleich nach und trat mit ein paar Schritten neben den Dunkelhaarigen. Ein Seufzen verließ seine Lippen, wobei sein Blick immer noch auf dem Graffiti haftete. „Er ist einfach ein übler Zeitgenosse", die dunkle Stimme des Jungen neben mir triefte plötzlich vor Kummer. Leise echote sie an den kalten Steinen wieder, was ihr noch mehr Leid beimischte.
Traurig verzog auch ich meinen Mund, da ich merken konnte, wie sehr dieses Thema Taehyung zu bedrücken schien. Wie grausam musste es sein, Zuhause nicht dem Hobby nachgehen zu können, dass man so sehr liebte. Wie schlimm musste es sein, zu wissen, dass man seine Kunst versteckt halten musste.
„Ich weiß genau was du denkst...", unterbrach Taehyung mich mit einem Mal in meinen Gedankengängen, „wie gemein es doch ist und wie traurig, dass ich dort nicht ich selbst sein kann." Überrascht riss ich meinen Kopf zu dem Schwarzhaarigen herum, traf dabei auf seine durchdringenden Augen, mit denen er mich nun beinahe genauso wie sein Gemälde musterte. Sofort breitete sich ein mulmiges Gefühl in mir aus – doch ob ich es als gut oder schlecht deuten sollte, war mir nicht ganz klar. Eine Antwort kam mir nicht über die Lippen, nur ein knappes Nicken. Zu schockiert war ich von der Tatsache, dass Taehyung mich so gut lesen konnte.
„Aber das ist es nicht", stellte er klar und richtete sich dabei ein Stück mehr auf. „Hier draußen bin ich frei. Und nur hier habe ich die Möglichkeit meine Kunst frei zu präsentieren, sie in die Welt herauszutragen. Hier ist sie Zuhause."
Atemlos starrte ich in Taehyungs Augen. Mit bebendem Herzen ließ ich seine Worte auf mich wirken, versuchte deren Bedeutung zu verstehen. Doch je länger ich in seine braunen Iriden schaute, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich die Bedeutung niemals begreifen können würde. Nicht, wenn seine Augen im Gegensatz zu seinen Worten nicht einen einzigen Funken Glücklichkeit beinhalten würden.
„Komm, Jungkook", war es da aber wieder Taehyung, der das Wort ergriff und mich aus meiner Starre holte, „lass uns zurückgehen." Und damit drehte er sich bereits zum Gehen um, kehrte mir seinen Rücken zu und verbarg mir damit den Blick auf seine Seelenspiegel.
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