Kapitel 6

Der Norden vergisst nicht. Ein Flüstern, nicht mehr. Der leichte Wind trug es durch das offene Fenster, ließ die Gardine aus feinster Seide tanzen, und kroch herüber zum Bett, wo er meine Haut küsste und mir durch die Haare strich.
Verzweifelte Schreie erklangen in meinem Kopf. Unruhig drehte ich mich, meine Lider zuckten.
Bitte nicht mein Sohn. Lasst ihn gehen, nehmt mich, aber lasst ihn gehen, sagte eine klare Frauenstimme. Die Angst war deutlich zu hören. Voller Panik flehte sie um das Leben ihres Sohnes.
Ich presste die Lippen aufeinander. Meine Fingernägel krallten sich ins Larken, zogen an dem sauberen Stoff, zitterten.
Der Winter naht, Sienna, und mit ihm kommen die Toten, sagte die Stimme eines Jungen. Ich kannte sie, ich wusste, wer dies war, doch war derjenige, der sprach, zu weit entfernt, an einem Ort, zu welchem ich ihm nicht folgen konnte. Blasse Haut, vergilbte Knochen, Banner, die in Fetzen im Winde flattern. Die Toten kommen, und sie werden alles Lebende auf der Welt zerstören. Blaue Augen, klarer als der Himmel, werden dich von innen zerfressen. Du wirst die eisige Kälte spüren, die unter deine Kleidung dringt, unter deine Haut, unter deine Knochen. Der Winter naht - und die Toten folgen ihm.
»Jojen«, flüsterte ich, während mein Kopf unruhig umherzuckte.
Die Umrisse eines Jungen wurden sichtbar. Ich versuchte ihn zu erfassen, doch war das Einzige, was ich sah, eine verschwommene Silhouette. Er kam näher, und je näher er kam, desto kälter wurde es. Du wirst die eisige Kälte spüren ... Wenige Meter trennten mich von ihm. Sie dringt unter deine Kleidung, unter deine Haut und Knochen ... Näher, immer näher kam er. Blaue Augen, klarer als der Himmel, werden dich von innen zerfressen ... Blaue Augen. Sie blitzten in der Ferne auf. Blasse Haut ... Seine Haut, bleich wie die eines Toten. Ich erkannte ihn. Ich erkannte sein Gesicht - zumindest das, was davon übrig war. Sein Körper war zerfetzt. Das Gerippe hielt die Gedärme notdürftig zurück.
Ich starrte ihn nur an. Angst durchzog meinen Körper. Die blauen Augen ließen jede Bewegung zu Eis gefrieren, so dass ich nur dastand. Ich kannte ihn. Ich wusste, wer dies war, doch sträubte sich jede Pore meines Körpers dies wahrhaben zu wollen.
»Ich bin's. Jojen«, flüsterte er, und schreiend erwachte ich. Mit klopfendem Herzen und schwer atmend hatte ich mich aufgesetzt. Mein Körper zitterte, Schweiß perlte auf meiner Stirn. Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht und durch die feuchten Haare, dann seufzte ich und schwang meine Beine über den Rand des Bettes.

Mit einer Kerze in der Hand lief ich auf nackten Füßen den Korridor entlang. Das Licht tanzte umher, spendete ein wenig Wärme und Mut. Ich war mir sicher, so überzeugt von meinem Plan. Ich wusste, wo sich die Gemächer befanden, und ich wusste auch, dass die Goldröcke nicht immer ihren Befehlen und Anordnungen nachgingen, so dass es ein Leichtes war, das Zimmer zu betreten.
Die Tür quietschte leise, und ich sah, wie die Gestalt im Bett aufschrak. Langsam trat ich näher, stellte den Kerzenständer auf einer Kommode ab und musterte den Jungen.
»Was tut Ihr hier?«, fragte er mich überrascht und verwirrt zugleich.
»Ich muss mit Euch sprechen, Euer Gnaden«, meinte ich und ließ mich auf der Bettkante neben ihm nieder.
Tommen richtete sich auf und sah mich abwartend an.
»Ich habe Euch nicht erzählt, was vorgefallen ist ...«, begann ich vorsichtig. Meine Lippen bebten. »Diese Männer ... sie kamen spät in der Nacht ...« Ich ließ meine Hand unter mein Kleid zu der Schnalle am Oberschenkel wandern. Ich spürte die Kälte und fuhr mit den Fingerspitzen über den Stahl.
Aufgrund des Schweigens dachte der Junge, dass es mir schwer fiel, darüber zu sprechen. Er zwang sich ein mitleidiges Lächeln auf die Lippen und ergriff meine freie Hand.
»Ihr müsst nicht darüber sprechen, M'lady«, sagte er.
Du naiver, kleiner Narr, dachte ich. Ich bin nicht hier, um mit einem Jungen darüber zu sprechen.
»Ich muss Euch die Wahrheit erzählen, Euer Gnaden«, entgegnete ich jedoch und sah den König eindringlich an. »Ihr müsst die Wahrheit erfahren.«
Ich bemerkte, dass Tommen unsicher wurde, und langsam ließ er meine Hand los.
»Diese Männer taten Dinge, deren Gedanke daran bereits eine Schandtat ist«, sprach ich weiter. »Ich wage nicht, es laut auszusprechen. Ich denke, Ihr wisst es unlängst. Diese Männer taten dies nicht aus freiem Himmel. Sie hatten den Befehl, dies zu tun. Es gibt nur eine Person, die dazu fähig ist, die mir so etwas wünschen würde - und wenn Ihr tief in Euch hineinblickt, dann wisst Ihr, wer es war.«
Tommen starrte mich an. Angst spiegelten sich in seinen Augen wieder, Angst vor der Wahrheit.
Ich beugte mich zu ihm vor, wenige Zentimeter trennten unsere Gesichter. »Es war Eure Mutter«, hauchte ich, ohne den Blick von seinen klaren blauen Augen abzuwenden. »Sie hat mir das angetan. Sie hat mir Leid zugefügt, meiner Familie Leid zugefügt. Ich will, dass sie leidet. Ich will sehen, wie sie zerbricht, wenn ich ihrer Familie Leid zufüge.«
Bevor Tommen etwas erwidern konnte, zog ich das Rasiermesser aus der Halterung an meibem Oberschenkel. Ich hielt es über meinem Kopf und wollte zustechen, doch der Junge reagierte schnell und packte mich am Handgelenk. Mit aller Kraft versuchte er gegen mich anzukommen, drückte meinen Arm von sich weg. Meine Hand zitterten, ich spürte, wie sie zu schwitzen begann, und kraftlos ließ ich das Messer fallen.
Obwohl der Junge sonst so schwach schien, schaffte er es mich auf die Decke zu drücken. Er sprang aus dem Bett, ergriff aus einer Halterung ein Schwert und richtete die Spitze auf meine Kehle, bevor ich mich erheben konnte.
»Ich dachte, ich könnte Euch vertrauen«, sagte Tommen mit bebenden Lippen. Er wirkte enttäuscht. »Doch Ihr habt mich verraten. Ihr habt Euren König verraten.«
»Dann tötet mich. Tötet mich, wenn Ihr mutig genug seid«, zischte ich und richtete mich ein wenig auf.
Die Klinge zitterte, als der Junge mich mit der Spitze hinunterdrückte. »Ich bin der König.«
»Dann zeigt es auch. Versteckt Euch nicht hinter dem Rockzipfel Eurer Mutter.«
Tommen verstärkte den Druck und ich spürte, wie die Klinge meine Haut durchschnitt. »Ich verstecke mich nicht hinter dem Rockzipfel meiner Mutter.«
»Ach, nein?«, krächzte ich. Allmählich bekam auch ich ein mulmiges Gefühl. »Wann habt Ihr schon mal Eure Meinung durchgesetzt, ohne dass Ihr beeinflusst wurdet?«
Tommen schwieg nachdenklich. Schließlich ließ er das Schwert sinken. »Ich habe Euch vor dem Tod gerettet«, meinte er, während er sich abwandte und das Schwert zurück in die Halterung steckte.
Langsam erhob ich mich, eine Hand an der Kehle, um die leichte Blutung zu stoppen.
»Ich könnte Euch des Mordversuchs an den König bezichtigen.« Der Junge nahm etwas vom Tisch. »Man würde Euch hinrichten, ohne mit der Wimper zu zucken.« Er wandte sich mir zu. »Doch ich brauche Euch. Ihr brauche Euch an meiner Seite.« Tommen streckte die Hand aus und öffnete sich - und finster blickte mir jene Brosche entgegen, welche bereits mein Vater vor vielen Jahren getragen hatte.

1151 Wörter

Frohes Neues! Auch wenn etwas spät ...

Tut mir leid, dass solange nichts kam, doch hatte ich viel mit der Schule zu tun. Meine Klausurphase ist glücklicherweise vorbei und bald sind Ferien. Ich hoffe, dass da dann wieder mehr Kapis kommen :)

Was sagt ihr zu dem Kapitel? Was, denkt ihr, wird nun passieren?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top