ZWÖLF

L A N D O N

Inzwischen sind wir in einer der wohlhabendsten Gegenden der Stadt angekommen und das Navi zeigt an, dass wir gleich da sind. Ich hätte nicht überrascht sein sollen, als ich das riesige Haus der Knights erblicke, aber es ist einfach so beeindruckend, dass es mich einfach einen Augenblick sprachlos macht. Ich wusste nicht, dass sie so viel Geld haben. Wobei, sie besitzen ein internationales Unternehmen und wieso sonst wird so ein Wirbel um den Prozess gemacht? Sie müssen einfach jede Menge Kohle haben.

Ich fahre vor das hohe Eisentor und weiß nicht, was ich jetzt tun soll, um da durch zu kommen. Aber ich muss gar nicht so viel tun. Sobald ich erst einmal die Fernbedienung in der Mittelkonsole entdeckt habe, bin ich nur noch einen Knopfdruck vom öffnen des Tores entfernt. Grinsend passiere ich das Eisentor und fahre die lange Auffahrt hinauf. So etwas will ich auch einmal haben.

Ich parke den Wagen direkt vor der Haustür und öffne diese mit dem Schlüssel aus Haileys Tasche. Ich denke, dass sie mir den Blick dort hinein verzeihen wird. Dann hebe ich Hailey in meine Arme und trage sie wie in einem dieser Mädchenfilme ins Haus.

Leider wird in diesen Filmen nie die kleine Türleiste erwähnt, über die der Kerl fast stolpert, oder dass es schwierig ist mit einem Mädchen in den Armen durch eine Tür zu gehen. Aber hey, das schaffe ich schon irgendwie ohne dass etwas passiert. Allerdings bringt mir das nichts, wenn ich nicht weiß, wohin ich Hailey bringen kann.

Hinter der Haustür stehen zwei Möglichkeiten zur Auswahl. Entweder eine riesige Marmortreppe in den ersten Stock, wo sich vermutlich die Schlafzimmer befinden, oder ein gewaltiger Türbogen, der höchstwahrscheinlich in ein Wohnzimmer und einer Küche führt.

Ich entscheide mich für das Wohnzimmer, weil ich mir sicher bin, dass Evan nicht begeistert davon sein wird, wenn er erfährt, dass ich alleine mit seiner bewusstlosen Schwester in deren Zimmer war, wenn ich ihn gleich anrufe.

Ich komme tatsächlich in ein geräumiges Wohnzimmer mit einer gemütlichen Couch und einem neiderregenden Fernseher. An der Decke hängt natürlich ein Kronleuchter von der Größe eines Wirlpools und sämtliche Möbel sind aus edlem dunklen Holz. Ich wette jedes einzelne Möbelstück hier hat mehr gekostet als mein Motorrad, selbst die einzelne Vase auf dem niedrigen Couchtischchen.

Ich lege Hailey auf die Couch und streiche ihr das Haar von der Wange, als ihr Kopf zur Seite fällt. Ich sollte Evan anrufen. Ich sollte ihn anrufen und ihm sagen was passiert ist und nicht auf seine Schwester herabschauen und mir denken, wie schön sie ist, wie samtig ihre Haut ist oder wie weich ihre Lippen aussehen. Oh Mann, ich muss mich zusammenreißen.

Also drehe ich mich von ihr weg und gehe ein paar Schritte. Und mit jedem Schritt, den ich gehe, scheint der Nebel, der vor meinem Hirn wabert, lichter zu werden. Und sobald ich die Terassentür aufgeschoben und vor das Glas getreten bin, denke ich, dass Hailey gar nicht so hübsch ist, wie ich eben noch dachte.

Sie hat ein Muttermal am Hals, das aussieht wie ein Halbkreis - ich finde Muttermale nicht besonders sexy. Sie hat zu langes braunes Haar, das ihr bis zur Taille reicht - ich stehe eher auf mittellanges Haar, und auf blondes. Sie ist klein, wenn sie steht sieht sie, wenn sie geradeaus sieht, direkt auf meine Schulter - ich mag es lieber, wenn ein Mädchen nur wenige Zentimeter kleiner ist, weil sie dann schöne lange Beine haben muss.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf fällt es mir leicht das Handy aus meiner Hosentasche zu ziehen und Evans Nummer zu wählen. Ich muss ihm nur sagen, dass seine Schwester mit den Beruhigungspillen übertrieben hat und dass er nach Hause kommen soll.

Mein Finger schwebt schon über dem grünen Feld, als mir einfällt von wo er hier her fahren wird - und das wird er auf jeden Fall. Er wird den Gerichtssaal verlassen, von dem er gestern zwar nur kurz gesprochen hat, aber man hat zweifelsfrei herausgehört, wie wichtig ihm dieser Abschluss der Ereignisse ist.

Ich lasse die Hand mit dem Telefon sinken. Wenn ich Evan anrufe, werden er und seine Brüder sofort ins Auto steigen und in einer halben Stunde hier sein. Und dann? Dann sitzen sie vor einer schlafenden Hailey, machen sich unnötige Sorgen und verpassen den Prozessauftrakt.

Ich seufze, weil ich schon genau weiß, was ich machen werde. Als erstes werde ich dafür sorgen, dass weder Hailey noch ich im Unterricht vermisst werden. Wenn ich meine Mom anrufe und ihr kurz erkläre was passiert ist, wird ihr bestimmt lieber sein, dass ich Hailey nicht alleine lasse und sie wird mich in der Schule krank melden. Und ich kann mich als Daniel Knight ausgeben und für Hailey anrufen. Ganz einfach. Und niemand wird einen Zusammenhang sehen, weil jeder vom Prozess weiß und es bei mir nicht selten ist, dass ich mal einen Tag fehle.

Sobald das erledigt ist, werde ich mich neben Hailey setzten und aufpassen, dass sie normal weiteratmet bis ihre Brüder nach Hause kommen. Aber davor werde ich erst einmal die Haustür schließen. Und so stecke ich das Handy weg und kehre zurück ins Haus.

Ein paar Minuten später lasse ich mich mit einem großen Teller Müsli auf die Couch fallen und mache es mir bequem. Das hier wird noch eine Weile dauern und ich schätze nicht, dass die reichen Knights etwas dagegen haben, wenn ich ihren Kühlschrank durchwühle.

Mein Blick fällt auf Hailey, die immer noch genauso da liegt, wie vor wenigen Minuten, als ich sie auf die Couch gelegt habe und besorgt rücke ich etwas näher. Ihre Brust hebt und senkt sich zwar regelmäßig, aber was ist, wenn sie, wie Bettie gesagt hat, anders als der Großteils der Menschen, die dieses Madikament schon genommen haben, reagiert, wenn sie plötzlich aufhört zu atmen?

Ich schiebe mir den letzten Löffel Müsli in den Mund, rutsche näher zu Hailey und lege ihr zögernd meine Hand auf den flachen Bauch. Jetzt kann ich spüren, wie sich ihr Lunge mit Sauerstoff füllt. Beruhigt lasse ich mich zurücksinken und sehe eine Weile auf Haileys schlafendes Gesicht.

Auf ihren Wangen befinden sich nur ein paar wenige Sommersprossen, die aber auf der olivfarbenen Haut nur zu erkennen sind, wenn man genau hinsieht. Ihre Wangenknochen sind markant, der Kiefer dagegen sanft geschwungen. Und ich weiß, dass wenn sie jetzt die Augen öffnen würde, ein strahlendes Smaragdgrün zum Vorschein kommen würde. Okay, stopp. Ich muss mich ablenken. Irgendwie.

Kurzentschlossen greife ich nach dem Fernsehschalter und stelle den Flachbildfernseher von der Größe einer Schultafel an. Außer der Hand auf ihren Bauch, die sich in den nächsten Stunden mit ihrem Atem auf und ab bewegt, lasse ich nicht zu, dass gewisse Gedanken an Hailey Knight von mir Besitz nehmen.

Ich schaue ein Fußballspiel, schalte den Fernseher aus und spiele eine Weile auf meinem Smartphone, schalte den Fernseher wieder an und schaue ein paar Folgen einer Krankenhausserie und bin schließlich mit hochgelegten Füßen und einer Cola in der Hand dabei einen Krimi anzusehen, als sich der Schlüssel im Haustürschloss dreht.

Schnell nehme ich die Füße von Couchtisch und meine Hand von Haileys Bauch. Das könnte eventuell komisch rüberkommen, vor allem für ältere, beschützerische Brüder, die einen stressigen Tag hinter sich hatten. Denen ich im übrigen gleich erklären darf, wieso ich hier bin. Das wird ein Spaß.

»Hails, bist du Zuhause?«, die Stimme habe ich noch nie gehört, aber sie ist zu erwachsen, um einem von den Zwillingen oder Kyle zu gehören. Ich tippe auf Daniel. Hastig stehe ich auf und trete dem ältesten der Knight-Geschwister entgegen, der den Autoschlüssel um einen seiner Finger wirbelnd, im Türrahmen zum Wohnzimmer stehen bleibt, als er mich sieht. »Wer sind Sie?«

Ich räuspere mich und halte ihm die Hand hin, während ich sehe, wie seine Brüder hinter ihn treten. Evan sieht überrascht und verwirrt aus, aber er grinst mich freundlich an. »Ich bin Landon Clark. Ein Schulfreund von Evan.« Daniel kneift die Augen zusammen. »Und was machst du hier? Wo ist Hailey?«, Misstrauen und die Sorge um seine Schwester ist deutlich in seiner Stimme zu hören.

»Hailey schläft im Wohnzimmer. Ich habe sie nach Hause gefahren, nachdem ich sie mit ein paar Beruhigungspillen intus in der Schule angetroffen habe.« Daniel ist an mir vorbei, noch ehe ich ausgeredet habe. Als ich - als Letzter wohlgemerkt - vor der Couch stehenbleibe, beugt er sich gerade über sie und tätschelt ihr leicht die Wange.

Indessen blicke ich auf die Uhr. Es müsste bald so weit sein, es schon später Nachmittag. Als ich wieder zur Couch schaue schlägt Hailey gerade die Augen auf. Und wie erwartet, smaragdgrün. Diese Farbe haut mich immer wieder um.

Während Daniel fragt wie sie sich fühlt, sehe ich dabei zu, wie Evan die Medikamentendose in die Hand nimmt, die am Ende der U-Förmigen Couch neben Haileys Schultasche gestanden hat. Er wird blass, als er die Dose in der Hand wiegt. Dann wirft er mir einen dankbaren Blick zu. Ich nicke ihm zu. Ich habe gerne auf Hailey aufgepasst, auch wenn mir dabei ein paar verwirrende Gedanken gekommen sind.

Haileys schuldbewusster Gesichtsausdruck ist wirklich süß, als sie ihren Brüdern alles in Gebärdensprache erklärt. Inzwischen kann ich sogar schon ein paar Zeichen verstehen. Dank Chase, er ist ein wirklich guter Lehrer. Tut mir leid. Schule. Morgen. Und dann: Landon. Einen Augenblick sehen mich alle an, doch dann wenden sie dich wieder Hailey zu, die anscheinend gerade erzählt, wie sie mir über den Weg gelaufen ist.

Plötzlich drehen sich wieder alle zu mir und hilfesuchend sehe ich zu Evan, als sie keine Anstalt machen Haileys Erzählung weiter zu folgen. Er grinst kurz, bevor er sagt:»Hails hat uns gerade erzählt, wie sie dir über den Weg gelaufen ist und wie du sie gefragt hast, ob sie Koks oder Heroin genommen hat. Was ist dann passiert?«

Ich zucke mit den Schultern. »Nachdem sie mir die Beruhigungspillen in die Hand gedrückt hat, habe ich gefragt, ob ich sie nach Hause fahren soll, weil...naja, ich weiß ja was heute war und ich habe mir gedacht, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, um high in der Schule erwischt zu werden. Also habe ich sie hierher gefahren und eine Freundin angerufen, die einmal Krankenschwester war. Sie meinte, dass die Menge ungefährlich wäre und dass ich einfach darauf warten soll, dass Hailey wieder aufwacht. Und das habe ich getan.« Dass ich auch auf ihre Atmung achten sollte, muss ich ja nicht auch noch erwähnen. Die Jungs haben sich für heute genug Sorgen gemacht.

Ich bemerke im Augenwinkel, wie Haileys Wangen sich rot verfärben, aber ich sehe sie nicht an. Ich habe zu große Bedenken, dass man mir etwas in Gesicht ablesen kann, wenn ich sie direkt anblicke. Und dabei bin ich mir nicht einmal sicher, was man mir ansehen könnte.

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