Kapitel 59
Schwarzer Nebel raubt mir die Sicht. Ich höre nur noch meinen eigenen Herzschlag und spüre, wie der Schatten immer mehr Besitz von mir ergreift. Ich will schreien, bekomme aber keinen Ton raus. Schwindel überrollt mich, verklärt alle meine Sinne.
Verzweifelt versuche ich dagegen anzukämpfen, bin orientierungslos, hilflos.
Durch die Dunkelheit hindurch bemerke ich zwei leuchtend dämonische Augen aus den Flammen auf mich herabsehen. Die Wellen der Hitze brechen über mir zusammen, lassen mich untergehen.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch kämpfen kann.
Nie habe ich mir Gedanken über meinen Tod gemacht, doch selbst in meiner grausamsten Fantasi, in den tiefsten Abgründen meiner Seele, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass es durch die Hand meines eigenen Vaters geschieht.
Ich bin verloren.
Da dringt ein Licht durch die Finsternis. Strahlen gebündelten Lichts, die wie rasend schnell wachsende Triebe um mich herum ranken. Kleine, leuchtende Zweige umhüllen mich schützend und vertreiben die allgegenwärtige Dunkelheit. Erst jetzt begreife ich, dass diese magische Kraft von meinem Amulett ausgeht. Es beschützt mich.
Wohlige Wärme streicht meinen Körper. Meine Sicht klärt sich langsam auf. Ich sehe Grün, Moos, Bäume, Wald, höre Vögel und ... Schreie ... Daytons Stimme.
Ich spüre ihn, noch bevor die Umrisse klar werden.
Mit einem Spreer stürzt er auf Jolon, doch dieser schafft es den Angriff abzuwehren. Schmerz gekrümmt lässt Dayton den Speer fallen.
Schwach versuche ich auf die Beine zu kommen, vergebens.
Unter der telekinetischen Kraft Jolons zuckt sein Körper, bis es ihm endlich gelingt, sich zu verwandeln.
Zähnefletschend nähert sich der Wolf. Bei ihm haben die besonderen Kräfte des Vampirs wenig Wirkung.
Doch gerade als der Wolf zum Sprung ansetzt, dreht sich Jolon in gebeugter Haltung, greift den Speer und wirft.
Ein dumpfer Schmerz zieht durch meine Brust.
Es fühlt sich kalt an. Kalt und dunkel.
Eine Dunkelheit steigt auf, die mir Angst macht.
Ich spüre das Blut durch meine Adern fließen, mein Herz angestrengt schlagen und das Rauschen in meinen Ohren.
Durch meinen Kopf schwirren hunderte Gedanken, aber auch nur einen einzigen davon festzuhalten, ist unmöglich.
So fühlt es sich an, wenn man die Kontrolle über sich selbst verliert ... wenn man stirbt.
Es ist beängstigend, sogar schier unerträglich schockierend, und doch habe ich das Gefühl, sicher zu sein. Sicher in der Dunkelheit.
Plötzlich wird das Rauschen leiser, die Gedanken langsamer.
Ein stehender Schmerz zieht über meinen Körper und findet seinen Höhepunkt in meiner Brust. Die Qual zwingt mich, die Augen zu öffnen.
Ich blicke in grelle, weißes Licht.
Da fährt meine Wölfin aus der menschlichen Hülle. Es ist weniger kraftvoll und stolz. Es gleicht mehr einem hilfesuchendem Versuch, ein zarghaftes gleiten.
Nun kann ich mich selbst sehen, auf dem Boden liegend, leeres Gesicht, in einer dunklen Lache, die im Moos versickert.
Daneben kniet Dayton mit blutigen Händen und roten Augen. Jolon ist fort und etwas tief in mir weiß, dass er zerfetzt wurde.
Das ganze Szenario erscheint wie ein stiller Traum, in Watte verpackt, völlig ruhig und auf seine skurrile Art harmonisch.
Zaghaft trete ich näher.
Dayton, so wunderschön und stark. Mein Herz erwärmt sich bei seinem Anblick. Nun muss er den Weg ohne mich weitergehen. Ich erinnere mich an Awans Worte:
“Dir wurde eine große Aufgabe vorbestimmt, die die Zeit mit sich bringen wird.”
Jeder hat vom Schicksal seine Aufgabe bekommen. Es ist vorbestimmt. Das hier ist meine.
Daytons Mine wird Ernst. Die Verzweiflung und Wut in seinen Augen weicht purer Entschlossenheit.
Vorsichtig fährt er unter meinen Rücken und meine Knie, um mich tragen zu können. Hektisch schaut er sich im Wald um, aber zwischen den Bäumen scheint er nicht zu finden, was er sucht.
Mit schnellen, festen Schritt läuft er los.
Ich höre Geräusche, Schreie oder Stimmen, die zügig lauter zu uns durchdringen.
Dann sehe ich ihn. Durch das Unterholz kämpft sich ein fliehender Vampir, geduckt um unbemerkt vom Kämpfen zu entkommen.
“Du, halt!“
Die kleine, zierliche Gestalt fährt um und starrt Dayton mit ihren toten, dämonischen Augen hasserfüllt an. Ihr blasses Gesicht erscheint fast schon gläsern, ihre dunklen Haare fliegen im Wind. Es ist Sophie.
Innerhalb eines Wimpernschlags verzieht sich ihr zartes Gesicht zu einer fauchenden Fratze. Doch unverhofft wird ihr Blick weicher. Fassungslos starrt sie auf den fast schon leblosen Körper in Dayton Armen.
“Nein”, keucht sie, “Tala”
“Du ... kennst sie? “
Das zierliche Mädchen nickt nur.
“Sophie? “
Wieder nickt sie, ohne den Blick von mir abzuwenden.
Ein Brennen durchfährt mich. Ich habe sie nicht retten können. Jetzt wurde auch die kleine Sophie, meine Freundin, von ihrem grausamen Schicksal eingeholt.
“Es ist nur noch ganz wenig Leben in ihr. Ich kann ihr Herz hören und ihr Blut riechen”, flüstert sie so leise, dass ihre Stimme im Wind untergeht.
Mit zitternden Händen bettet Dayton meinen Leib vor ihr auf den Waldboden.
“Hilf ihr! Bitte! “
Sein Flehen lässt mein Herz in tausend Stücke zerspringen. Es tut so unendlich weh, ihn so verletzlich und verzweifelt sehen. Seit dem Tag, als ich von dieser Prophezeiung erfahren habe, hatte ich Angst, dass Dayton etwas zustoßen könne. Ich würde diesen Schmerz nicht überwinden können. Mein Leben wäre in derselben Sekunde beendet, in der sein letzter Atemzug verklinge. Und selbst jetzt, bin ich froh, dass ich es bin, die gehen muss, nicht er. Ich werde zwar sterben, aber er wird für mich weiterleben und ein Teil von mir lebt in seinem Herzen bis in alle Ewigkeit.
Andächtig kommt Sophie näher, sinkt schließlich neben mir nieder. Ich sehe noch so viel Liebe, so viel Menschliches, in ihr, dass ich weiß, dass sie noch nicht sehr lange verwandelt wurde.
“Du musst dir klar sein, dass sie vielleicht nicht mehr dieselbe sein wird”, spricht Sophie mit gesenktem Ton, “Es kann sein, dass sie sich nicht erinnert oder dich hassen wird.”
Wortlos ballt Dayton die Fäuste.
“Alles ... Alles könnte ich ertragen, solange ich die Gewissheit habe, dass sie gerettet ist, dass ihr Leben irgendwie weitergeht ... auch wenn ihr Herz dafür aufhören muss zu schlagen.”
“Uns wurde erzählt, wer sie ist”, hauchte die zarte Stimme, “Ich habe es nicht glauben wollen, ausgerechnet Tala. Sie wird das Gleichgewicht zerstören. Dann gewinnen die Wölfe für immer die Oberhand, und alle Vampire sind dem Untergang geweiht.”
Zögernd sicht sie auf.
“Nein, Tala ist die Mondgefährtin. Von ihr geht keine Gefahr es. Diese Lügen hat euch Jolon, ihr Vater, eingebläut.”
Ungläubig legt Sophie die Stirn in Falten.
“Der Lord, ist ihr ... Vater? “
“Er war es.“
Plötzlich klingt Dayton samtige Stimme, hart und eiskalt.
Sophies kleine Hände greifen meine. In ihrem Gesicht steht pure Verzweiflung. Es ist deutlich zu erkennen, wie unschlüssig sie ist. Ich spüre ihre Angst. Ich spüre ihre Angst und Dayton aufsteigenden Zorn.
“Sophie, ich bitte dich. Sie ist alles was ich habe. Es ist kein Zufall, dass ich hier ausgerechnet auf dich treffe. Tue es ... Tue es für deine Freundin.”
Ruckartig beugt sich Sophie nach unten und versenkt ihre Zähne in meinem Hals.
In Sekundenschnelle wird mir heiß und kalt gleichzeitig. Ich kann kann fühlen, wie sich mein Körper Faser für Faser verändert, wie das Leben mit dem Tod ringt.
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