Kapitel 57

Der Mond scheint durch einen Schlitz der Gardinen. Sein Licht fällt genau auf das Bett. Es scheint, als erneute er den kompletten Raum, doch lässt er mich selbst in Dunkelheit zurück. Ich bin noch immer sehr müde und auch mein Körper hat sich von der Anstrengung noch lange nicht völlig regeneriert.
 Nachdem ich mich aufgesetzt habe, schiebe ich die Bettdecke von meinen Beinen. Irgendwie fühlt es sich so an, als könnten meine Arme das Gewicht der Bettwäsche kaum stemmen. Und plötzlich spüre ich die Schmerzen in den Muskeln, die mich der Schlaf wenigstens kurz vergessen gelassen hat.
 Mit langsamen Schritten gehe ich ans Fenster, um die Gardinen ein wenig weiter zu öffnen. Sofort hüllt sich da Zimmer in den Glanz der Nacht. Nur genießen kann ich diese harmonische Stille nicht. Mein Kopf ist voll mit Fragen. Fragen, die ich selbst nicht in Worte fassen könnte, da deren Antworten dann unantastbar wären. Sie sind zu umfangreich, zu unglaublich, zu beängstigend und lassen kaum Spielraum für Fantasy.
 Bald werden die Vampire das Rudel angreifen. Die Prophezeiung, die ich immer noch nicht richtig verstehe, wird sich erfüllen.
 Was wird passieren?
 Werde ich sterben?
 Wird mein Tod das Rudel retten können? Aber wie?
Es macht mir Angst.

Allerdings sorge ich mich weniger um mich, als um Dayton und das Rudel.
 Ich wünschte nur, dass ich mehr Klarheit über die Bedeutung meines Schicksals hätte.
 Zu wissen, was auf mich zukommen wird, würde es einfacher machen.
 Plötzlich ist da Jemand. Ich erschrecke nicht.
Eine warme Berührung auf meiner Schulter entführt mich in ein Licht. Die Strahlen sind so hell, dass sich meine Augen schwer daran gewöhnen. Nur nach und nach schwindet meine Blindheit bis ich schließlich in zwei braune Augen sehe. Meine Mutter, strahlend schön wie eh und je.
 Sämtliche Luft weicht süß meinen Lungen, meine Knie drohen mich nicht länger halten zu können. Kann es denn sein?
 Mein Herz droht in Stücke zu reißen. All meine Sehnsucht droht dich von einer Sekunde auf die andere zu entladen.
 Ich frage nicht nach dem Grund ihres Besuches, oder warum sie hier ist, sondern lasse mich von den aufkommenden Glücksgefühl einfach überrennen. Ich bin so gerührt, emotional aufgewühlt, dass ich am liebsten weinen möchte, aber irgendwie ergreift etwas anderes die Kontrolle über meine Gedanken und mein Tun. Ich sehe uns gemeinsam Sonntags in der großen Küche backen, sehe sie im Garten malen. Ein Gefühl von Geborgenheit durchfährt mich und ich sehne mich nach dieser Zeit, wage es jedoch nicht, auch nur ein einziges Wort zu sagen, aus Furcht, dieser wundervolle Zauber könne dann verfliegen.
 Kurz atme ich tief ein, rieche das Parfüm, dass meine Mom so oft aufgetragen hatte.

 “Tala, meine schöne und kluge Tala”, ertönt ihre leise Stimme, “Ich bin so stolz, dass du deinen Weg gefunden hast.”

 Tränen füllen ihre dunklen Mandelaugen.

“Nun wird sich der Kreis schließen, mein Engel. Ich weiß, dass du stark genug bist. Du und Dayton, ihr werde die Zukunft für alle Wölfe verändern.”

 “Aber ... wie?”

Meine zittrige Stimme ist kaum hörbar.
In diesem Moment gibt es unzählige Dinge, die ich ihr sagen will, tausende Frage. Ich will ihr sagen, wie sehr sie mir fehlt, dass ich sie liebe und unendlich vermisse. Ich möchte von ihr wissen, wer mein wirklicher Dad ist, will wissen, wie sie als Lunatochter wirklich war und was an dem schrecklichen Abend tatsächlich passierte.
 Doch ich stehe einfach nur zitternd vor ihr.
So oft habe ich mir gewünscht, sie nur noch einmal sehen zu können.
So oft habe ich mir Klarheit gewünscht.
Und in diesem Augenblick erfüllen sich beide.

  “Ich darf dir nicht viel zu deiner Zukunft sagen, mein Schatz. Nur soviel, dass du und Dayton etwas Besonderes erschaffen werdet. Doch wenn der Tag gekommen ist und der große Kampf tobt, wird Dayton alles verlieren und eine Entscheidung treffen müssen, die euer beider Leben und die Ordnung zwischen Wolf und Vampire völlig neu bestimmen wird.”

  “Ich werde sterben aber wird es Dayton gut gehen?”

Genau wie Awan damals, spricht sie es nicht aus.

  “Du wirst sterben und du wirst leben, Tala. Und Dayton wird alles aufgeben müssen, um alles zu bekommen. Du bist die Mondgefährtin. Habe keine Furcht vor dem, was die Zukunft bringen wird. Am Ende wird alles sein, wie es vorherbestimmt ist.”

Auch diese Aussage ähnelt dem Wortlaut des Schamanen. Leere Worthülsen, die nicht wirklich Licht in meine Dunkelheit bringen.

 “Mama, ich weiß jetzt, dass du deine Lunatochter warst und ich weiß, dass Jeffrey ... nicht mein leiblicher Dad ist. Aber ...”, ich zögere kurz, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich diese Frage jetzt wirklich stellen.

Doch wenn ich es jetzt nicht ausspreche, werde ich die Antwort wohl niemals erfahren, und da ich wissen will, woher ich stamme, kann ich nicht anders.

 “Wer ist denn mein Vater.”

Das warme Strahlen im Gesicht meiner Mutter weicht von einer Sekunde auf die andere.

 “Mein Kind, ich wäre froh, wenn du ihm niemals begegnen müsstest.”

 “Bitte, ich muss es einfach wissen. Vielleicht verstehe ich dann mehr.”

 “Ich war noch jung und naiv, als ich Jolon getroffen habe. Er war stattlich, klug und hatte diese einnehmenden, wasserblauen Augen, in die ich mich sofort verliebte. Aber wir waren nicht füreinander bestimmt. Ich wollte Liebe, Jolon wollte Macht.”

 Ihre Stimme klingt so traurig, dass es mir einen Stich mitten ins Herz versetzt. Mein Vater war ihre erste Liebe und hat sie wohl sehr verletzt.

 “Bei Jeffrey war das anders. Ich wusste, dass er gut für uns sorgen könne. Und ich wusste auch, dass er für dich sorgen könne, wenn mir etwas wieder fahren würde.”

Da beginnt ihre Gestellt zu verblassen.

 “Mom? ... Nein, bitte bleib bei mir!”

 “Wenn wir sterben, verschwinden wir nicht einfach, Tala. Ich bin immer an deiner Seite ... jeden einzelnen Tag. Obwohl du mich nicht hörst oder merkst, bin ich dennoch ganz nah bei dir. Ich werde dich immer lieben und wenn irgendwann dein Tag kommen wird, werde ich dich ins Mondlicht holen.”

 Nebel umhüllt ihr kaum mehr sichtbares Bild.

“Mom! Mom!”

Doch sie sagt nichts mehr. Ihre Gestalt löst sich im Nebel auf.

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