Kapitel 55
Ich höre eine Tür zufallen, will meine Augen öffnen aber es gelingt mir nicht, egal wie sehr ich es versuche. Meine Beine und Arme sind so schwach, dass ich sie nicht bewegen kann. Alles ist dunkel. Was passiert mit mir? Ich bin so orientierungslos, dass mir nicht einmal bewusst ist, ob ich sitze oder liege. Um mich herrscht beängstigende Dunkelheit und meine Gedanken sind komplett vernebelt.
Alles dreht sich. Jetzt merke ich, dass mir Tränen von den Wangen tropfen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich alleine bin.
Mit aller Macht versuche ich die Lieder offen zu halten und erkenne allmählich verschwommene Umrisse.
Eine große, kräftige Gestalt und jemand kleineres.
Stimmen fliegen durcheinander um mich herum. Ich kann ihnen nicht richtig folgen, bekomme nur Gesprächsfetzen mit.
„Sie ist nur sehr erschöpft."
„Kein Wunder."
Die tiefe, kraftvolle Stimme erkenne ich sofort. Es ist Jacob. Ich bin beim Rudel in der Siedlung.
"Dayton ... die Silberklinge ...", versuche ich schwach über die Lippen zu bringen.
Doch als ich versuche aufzustehen, wird plötzlich wieder alles um mich herum schwarz.
Angsterfüllt reiße ich die Augen auf. Panisch schaue ich mich im Zimmer um und erkenne schnell, dass ich im Bett in Daytons alter Hütte liege. Obwohl die Vorhänge zugezogen sind, erfüllt die Sonne den Raum. Es muss bereits Mittag sein. Der vertraute Duft von Holz und Daytons Aftershave, das noch an der Bettwäsche haftet, steigt mir in die Nase, doch mein Körper fühlt sich noch unglaublich schwach an.
Augenblicklich schießen mir hundert und ein Gedanke durch den Kopf und alle enden bei Dayton. Konzentriert höre ich in mich hinein, achte auf das Gefühl an seiner Bisswunde auf meinem Hals. Ich spüre nichts. Nichts. Da ist weder Wut noch Schmerz noch sonst ein Gefühl oder Impuls. Und sofort ist sie wieder da, diese Angst, die droht mich von einer auf die nächste Sekunde zu zerreißen. Ich muss zu ihm. Ich muss wissen, dass es ihm gut geht.
Es muss ihn einfach gut gehen.
Erst als ich an die Bettkante gerutscht bin und versuche aufzustehen, spüre ich, wie sehr meine Arme Schmerzen. Der weite Weg durch den Wald hat mir alles abverlangt.
"Tala, du bist auf?"
Erschrocken hebe ich den Blick von meinen noch zittrigen Beinen. Jacob steht im Türrahmen.
"Wie geht es Dayton!", sprudelt es keuchend aus mir heraus, "Es war Silber!"
'Ja, das wissen wir. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Ihr seid gerade noch rechtzeitig hier angekommen."
Erleichterung breitet sich in meiner Brust aus.
"Es war dieser Aiden ... ich dachte, er wäre ein Freund ... aber ..."
"Wir haben uns bereits um ihn gekümmert", unterbricht er mich mit rauer Stimme, "Niemand greift ungeschoren dem Sohn des Alphas an."
In seinen Augen steht ein Ausdruck von Hass und Kälte, der mich darauf schließen lässt, dass Jacob seinen Sohn blutig gerächt hat. Zu fragen, was genau mit Aiden passiert ist, wage ich jedoch nicht.
"Kann ich bitte zu ihm?", möchte ich stattdessen wissen.
"Natürlich, allerdings möchte Awan zuvor noch mit dir sprechen."
Ohne ein weiteres Wort dreht sich Jacob um und verlässt das Zimmer.
Eine halbe Minute später kommt dafür der Schamane zu mir herein. Im Gegensatz zu Jacob wirkt er sanfter und um einiges wärmer.
"Kind, wie geht es dir?"
"Gut, danke, Jacob sagte, dass du etwas mit mir reden willst."
Ich versuche keine Zeit zu verlieren. Ich will zu Dayton.
"Es ist mir ein Rätsel, wie du es durch den Wald geschafft hast. Dayton wiegt das Doppelte und die Hütte ist Kilometer entfernt."
Kurz zögere ich, entschließe mich dann doch dazu, Awan die Wahrheit zu sagen.
Also berichte ich kurzerhand von meiner Stärke, die ab und an in Extremsituationen auftaucht, seid ich von diesem Vampire gebissen und das Wolfsblut getrunken habe. Ich beschreibe, wie ich ich mit den beiden Narben gefühlt habe, vom erste Auftreten meiner Kraft, während des Einkaufs und von den Treffen mit Aiden. Meine Ausführungen sind detaillierter als geplant, doch irgendwie tut es gut, endlich alles laut auszusprechen und von der Seele zu reden. Verwunderlich ist nur, dass die Dämme ausgerechnet jetzt bei Awan brechen. Oder auch nicht, denn der alte Schamane vermittelt mir etwas väterlich Vertrautes. Zudem hat er vielleicht eine Erklärung für die verwirrenden Veränderungen.
Während ich Rede, sitzt er still vor mir, doch plötzlich zeichnet sich in seinem Gesicht ein Ausdruck von Sorge ab, der mich schnell dazu bringt meinen letzten Satz verklingen zu lassen.
Schüchtern streiche ich mir vor Unsicherheit durch die Haare, bevor ich die Stille mit einer ablenkenden Frage unterbreche.
"Wie habt ihr uns eigentlich gefunden? Und woher wusstet ihr von Aiden?"
Mein Plan geht auf.
Awans Züge werden wieder sanft, als er beginnt zu sprechen.
"Du hast es geschafft mir mit deiner letzten Kraft deinen Wolf zu schicken. So konnte ich sehen, was passiert war. Dayton und du habt es fast bis auf die Lichtung geschafft, sodass wir euch schnell finden konnten", er nimmt meine Hand und drückt sie, "Gerade noch rechtzeitig. Du bist ein tapferes Mädchen, Tala, tapfer und stark."
Seine Worte streicheln meine Seele. Sein Zuspruch tut mir gut. Jedoch möchte ich die Unterhaltung nicht noch länger ausdehnen.
"Kann ich zu ihm?", frage ich schließlich drängend und Anwan nickt zustimmend mit dem Kopf.
Schnell schiebe ich mich vom Bett, ziehe mühselig meine Weste über und schlüpfe unter der Beobachtung Awans in meine Schuhe.
"Wo ist er denn?", erkundige ich mich noch kurz, bereit gleich loszustürmen.
"Bei Jacob ..."
Mehr höre ich nicht mehr.
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