Kapitel 38

Leider beruhigt mich seine Aussage nicht.
Ein großer Kloß sitzt in meinem Hals. Ich will nicht, dass jemand für mich kämpft und ich will schon gar nicht, dass jemand dabei umkommt, erst recht nicht Dayton.
Schweigend lehne ich meinen Kopf an seinen. Selbst wenn mir nun passende Worte einfallen würden, könnte ich sie nicht aussprechen.

"Weißt du noch was ich zu dir damals in der Klinik zu dir gesagt habe?", unterbricht Dayton das Schweigen, "Als wir uns das erste mal geküsst haben, meintest du, dass du mir nur Probleme machen würdest. Ich nahm dein schönes Gesicht in beide Hände und sah dir tief in die Augen. Dann habe ich geantwortet ..."

"Ja, das wirst du wohl", vervollständigen ich seinen Satz.

Ein kleines Lächeln huscht über mein Gesicht. Damals habe ich diese Aussage auf meine Depression und die Einweisung in die Klinik bezogen. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass sich mein Leben in eine ganz andere Richtung wenden würde.
Und Dayton, der wahrscheinlich bereits ahnte, was auf uns zukommt, hat alles so bereitwillig auf sich genommen.

"Ich habe dir Klamotten besorgt", lenkt er geschickt vom Thema ab, "Sie sind noch in der Tüte. Schau sie dir mal an. Ich kümmere mich ums Abendessen. Allerdings müssen wir in den nächsten Tagen auf jeden Fall nochmal nach Fountain Spring zum Einkaufen."

Das er sich einfach ganz normal benimmt, macht es mir um einiges leichter. Gerade fühlt es sich weniger so an, als wären wir in einer Art Exil, sondern in einem Kurzurlaub in den Wäldern oder frisch irgendwo eingezogen. Da ich diese Atmosphäre nicht zerstören will, schenke ich ihm das schönste Lächeln, das ich im Augenblick zustande bringe, während ich beginne die Tüte auszuräumen.

Mit Erstaunen stelle ich fest, dass Dayton wirklich an alles Wichtige gedacht hat. Von Unterwäsche und Socken, bis hin zu Tops, zwei Hosen, Duschgel und Zahnpasta hat er nichts vergessen.
Ich bin gerade fertig, unsere Sachen in den schmalen Schrank im Schlafzimmer zu packen, als er zum Essen ruft. Stolz stellt er einen Teller mit belegten Broten und eine Kanne Tee auf den alten Esstisch. Doch obwohl die Häppchen wirklich lecker aussehen, habe ich kaum Appetit. Zu sehr beschäftigt mich der Gedanke an Sophie, die in diesem schrecklichen Ort festsitzt und höchstwahrscheinlich in Gefahr schwebt, ohne dass ich etwas daran ändern könnte.

"Hast du denn gar keinen Hunger?", holt mich Dayten mit besorgtem Blick zurück in die Realität.

"Ich muss an Sophie denken, meine Freundin aus der Klinik. Ich ... Ich war vorhin bei ihr."

"Du warst in der Klinik!", entfährt es Dayton mit einer Mischung aus Überraschung und Wut.

"Sei bitte nicht böse. Ich musste wissen, ob es ihr gut geht."

"Tala, weißt du wie gefährlich das war?"

"Es kann mich doch aber niemand sehen", murmle ich ein wenig schuldbewusst, "Ich musste sie einfach sehen."

Obwohl er noch immer etwas wütend scheint, zeigt sich Dayton verständnisvoll.

"Wie geht es deiner Freundin denn?"

"Offensichtlich schlecht. Sie ist ganz mager und sieht so unglaublich traurig aus. Aber sie ist wenigstens noch ... sie", berichte ich niedergeschlagen, "Du hättest sie sehen sollen. Am liebsten hätte ich sie aus dieser fürchterlichen Anstalt entführt."

"Ich kann mir vorstellen, wie wichtig sie dir ist, aber das können wir nicht."

"Warum nicht?", frage ich mit Nachdruck, "Du hast mich doch auch einfach mitgenommen."

Daytons Züge werden wieder ernster, während er sich durch sein Haar fährt.

"Ja, aber das war auch eine ganz andere Situation. Jetzt wissen sie, dass du hier draußen bist und werden natürlich auch viel wachsamer sein."

Traurig weiche ich seinen Blick aus. Natürlich war mir klar, dass Dayton nicht mit wehenden Fahnen zur Rettung von Sophie eilen würde, doch frustriert es mich nun schon, dass er sofort abblockt.

"Du weißt, dass ich nur das Beste für dich will, Tala, aber es wäre zu waghalsig", erklärt er sich, "Und du solltest dich von diesem Ort auch fern halten."

Statt weiter zu diskutieren, spiele ich trotzig mit der Brotkruste auf meinem Teller. Die Stimmung ist am Tiefpunkt, so dass ich einfach nur froh bin, wenn dieser grauenhafte Tag einfach vorüber ist. Ich fühle mich ausgelaugt und leer, viel zu kraftlos um jetzt auch noch zu streiten. Also sitzen wir einfach schweigend am Tisch. Die Ereignisse von heute stecken uns beiden in den Knochen und auch, wenn wir noch so sehr versucht haben, sie zu verdrängen, holen sie uns dennoch in jeder stillen Sekunde ein.
Doch dann nimmt Dayton meine Hand, streicht zärtlich mit seinem Daumen über meinen Handrücken.

"Es ist zwar schon dunkel aber nicht weit von hier ist ein kleiner See. Vielleicht hast du ja Lust spazieren zu gehen. Das macht den Kopf frei."

Eigentlich ist mir nicht danach, jedoch weiß ich seinen Versuch die Situation zu retten zu schätzen und stimme dennoch zu.

Die Nacht ist warm und wolkenlos und der Sternenhimmel über uns ist so klar wie man ihn selten sieht. Eine ganze Weile spazieren wir Hand in Hand durch den Wald, bis wir an einem kleinen Hügel kommen, von dem man bereits den See betrachten kann.
Er liegt völlig friedlich in einer kleinen Lichtung. Es riecht nach Laub und Tannennadeln.
Dayton lässt sich ins Gras fallen und verschränkt die Hände hinter dem Kopf.

„Ich wollte immer ans Meer ziehen." sagt er, nachdem ich mich neben ihn gelegt habe. Automatisch denke ich darüber nach, wie es wohl wäre mit ihm irgendwo weit weg von hier zu leben. Fort von Ohio und fort von Pennsylvania. Neu anzufangen, ohne dass jemand weiß, wer du bist, diesen Wunsch hatte ich in den letzten Jahren oft. In diesen Gedanken vertieft, schaue ich ins Mondlicht, das sich im Wasser spiegelt.
Dayton dreht den Kopf zu mir.

„Aber als Sohn des Alphas ist das nur leider nicht so einfach."

Fragend schaue ich zu Dayton hinüber.

"Wieso?"

"Naja, ich bin Jakobs einziger Sohn und somit sein Nachfolger. Irgendwann werde ich zum Rudelführer."

Das war mir bis jetzt noch nicht richtig bewusst. Dayton wird eines Tages der Alpha sein und das Rudel im Dorf führen. Nun wird mir schlagartig klar, wie wenig wir eigentlich voneinander wissen.

"Erzähl mir von früher", fordere ich ihn auf, "von deiner Kindheit im Rudel."

Den Blick in den Sternenhimmel gerichtet beginnt er zu erzählen.

"Wir haben schon immer hier in den Wäldern gelebt, ziemlich abgeschnitten vom Rest, aber ich bin ganz normal in Ashtown zur Schule gegangen. Im Rudel wurden wir dann zusätzlich unterrichtet und ausgebildet. Als sich alle außer mir zu ihrem 14 Geburtstag schließlich verwandeln konnten, glaubte ich schon, dass ich sie nicht geerbt habe, weil ich ein Halbblut bin. Das war die Zeit, in der ich begann andere Pläne zu schmieden. Dann starb meine Mutter, was etwas in mir erweckt hatte."

Seine Ausführungen bleiben knapp, bis er mir dieselbe Frage stellt.

"Bei mir war alles recht normal. Ich bin wohlbehütet in Ohio auf eine Privatschule gegangen. Mein Vater war selten zu Hause, meine Mutter Hausfrau. Viel gibt es da nicht."

Völlig unverhofft rollt er sich auf mich, sieht mir tief in die Augen und küsst mich leidenschaftlich. Seine Lippen umspielt ein kaum merkliches Grinsen, als er mein Gesicht mustert und sagt:
„Was machst du nur mit mir?"

Seine Stimme klingt heißer.

„Ich kann dich nie wieder gehen lassen."

„Das sollst du auch nicht", flüstere ich.

In diesem Moment habe ich wieder das innige Gefühl in seinen Augen komplett zu versinken. Ich nehme nichts anderes mehr war, als seinen Körper auf meinem und die Wärme, die von ihm ausgeht. In diesem Moment könnte mir gerade nichts Schöneres vorstellen.

Wir liegen noch eine gefühlte Ewigkeit im Gras. Dayton hat sich an meinen Rücken geschmiegt, während seine Fingerspitzen immer wieder meinen Arm entlang fahren. Verträumt spiele ich mit dem Lederarmband an seinem Handgelenk.
Doch plötzlich überkommt mich ein seltsames Gefühl. Verunsichert schaue ich mich um, fühle mich beobachtet.

"Was hast du denn? Ist dir kalt?", erkundigt sich Dayton.

Langsam schüttle ich den Kopf.

"Lass uns zurückgehen, bitte."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top