Kapitel 37

Lautlos verharre ich im dichten Busch am Parkplatz. Meine Atmung ist ruhig, meine Sinne geschärfter denn je. Eine ganze Weile beobachte ich die in der Dämmerung immer dunkel werdendere Klinik aus sicherer Distanz. Obwohl mir klar ist, dass ich weder für menschliche noch dämonische Augen sichtbar bin, möchte ich kein Risiko eingehen.
Von hier aus erscheint alles an diesem Gebäude absolut unauffällig, trotzdem wage ich es erst nach Minuten, mein sicheres Versteck zu verlassen.
Vorsichtig bahne ich mir den Weg über den freien Parkplatz bis zum Eingang, schlüpfe unbemerkt durch die gläserne Doppeltür und hechte die Stufen nach oben.
Ich muss es einfach wissen. Ich muss sehen, ob es Sophie gut geht, oder ob sie bereits diesen abscheulichen Monstern zum Opfer gefallen ist. Erst wenn ich Gewissheit habe, wird das Brennen in meiner Brust nachlassen. Also gebe ich dem Drang nach und vergewissere mich nun endlich selbst.
 Die Neonröhren in Kombination mit den leeren, weißen Wänden lassen die verlassenen Gänge steril und leblos erscheinen. Es herrscht Totenstille.
Um diese Uhrzeit finden weder Therapien noch sonstige Aktivitäten statt, also ist es eine Leichtigkeit absolut unsichtbar zu bleiben. Die Patienten sind derzeit fast ausnahmslos auf ihren Zimmern und die Doktoren entweder bereits zu Hause oder im Büro.
Dann sehe ich Sophies Tür. Natürlich ist diese geschlossen.

Zögerlich nähere ich mich dem Raum, versuche nur meinen Gedanken zu fokussieren und mich auf mein Hindernis zu konzentrieren.
Ich bin körperlos, wie ein Schatten, Luft ohne jegliche greifbare Form.
Mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen lehne ich mich langsam gegen das Holz, bevor es mir tatsächlich gelingt es zu durchdringen.
Ein leichtes Gefühl von Schwindel breitet sich in mir aus, dass ich glücklicherweise allerdings schnell abschütteln kann. Dann sehe ich sie.
Das kleine, zierliche Mädchen, dass inzwischen noch schlanker, fast schon hager erscheint, sitzt aufrecht auf ihrem Bett und schaut starr aus dem Fenster in den nebligen Wald. Ihr Gesicht ist blass, die Haare glanzlos und ihre großen Augen  erscheinen in ihrem schmalen Gesicht unnatürlich riesig. Der Anblick dieser von Traurigkeit zerfressen Frau ist schier unerträglich, doch wenigstens steckt noch Leben in ihrem ausgemergelten Körper. Sophie ist immer noch Sophie. Das lässt mich aufatmen.
Wie gerne würde ich meine Freundin nun einfach in den Arm nehmen, sie trösten und mit zu uns nehmen. Jedoch ist mir auch bewusst, dass es unmöglich ist. Es wäre viel zu gefährlich.
Bedächtig komme ich ein Stück näher, musste besorgt ihre schmalen Finger, die ineinander verflochten auf ihren Schenkeln ruhen. Vielleicht gibt es eine Chance sie von hier zu retten, bevor es für sie zu spät ist.
Ich hoffe es.

Plötzlich  fahre ich zusammen. Kurz darauf hört auch Sophie auf.  Lauterwerdene Schritte hallen von draußen durch den Flur und stoppen schließlich direkt vor der Zimmertür. Wenige Sekunden darauf klopft es.

 “Wer ist da, bitte?”, ertönt Sophies leise Stimme.

 “Ich bin’s, Miguel.”

Sofort spannt sich mein Muskulatur an, während sich Sophie schwerfällig zur Tür zwingt. Erst als ich einen genauen Blick in sein Gesicht, die braunen, aufgeweckten Augen, werfen kann, lockern sich meine Muskeln allmählich wieder.

 “Ich wollte nur kurz nach dir sehen”, erklärt er schüchtern, “Jetzt wo Tala und auch noch Amy fort sind, ziehst du dich immer mehr zurück. Da mache ich mir etwas Sorgen.”

Amy? Sie ist also auch nicht mehr hier?

 “Danke, es geht mir ganz gut", antwortet ihm Sophie kaum hörbar, “Ich verstehe nur einfach nicht, warum mir Tala nichts von ihrem Plan erzählt hat. Ich dachte, dass wir Freunde geworden waren, und dann ist sie einfach abgehauen ... Ich will nur nicht, dass ihr etwas passiert ist. Der Wald ist so ... unheimlich.”

Es tut mir weh zu hören, wie sehr sie sich im Stich gelassen fühlt. Gerade Jemand mit Sophies Problemen, kann es dann noch weiter runter ziehen und dafür muss ich mir die Schuld geben.

 “Tala ist clever. Ihr geht es bestimmt richtig gut, wo auch immer sie jetzt ist.”

Beiläufig berührt er ihren Arm, als er sich verabschiedet. Diese Gelegenheit nutze ich, um mit ihm das Zimmer zu verlassen. Sophie tut mir schrecklich leid, so dass ich sie nur schweren Herzens zurücklasse, doch ich spüre auch, dass es Zeit ist zurückzukehren.
Meine Umgebung beginnt zu verschwimmen, bis ich nur noch helle Umrisse erahnen kann. Dann tauche ich in ein helles Licht.

Als ich meine Augen aufschlage, finde ich mich selbst auf dem Sofa der Waldhütte kauernd wieder. Mein Körper schmerzt, als hätte man mich durch einen Fleischwolf gedreht. Meine Knie zittern. Es dauert einen Moment, bis ich meine Orientierung wiedergefunden habe.
Dayton sitzt neben mir. Mit ernsten Blick schaut er mich an.

 “Wie lange war ich fort?”, frage ich verhalten.

 “Lange. Ich hatte schon Angst. Du warst schon weggetreten, als ich zurückgekommen bin.”

 “Tut mir leid", murmele ich, “Ich konnte ins Dorf, zu Awan. Dem Rudel geht es gut. Es gab zwar Verletzte aber Awan meinte, dass wir uns nicht sorgen müssten.”

 “Du konntest mit ihm sprechen?”

Ich nicke heftig.

 “Und er konnte mich sehen. Das ist eine schamanische Fähigkeit von ihm. Ich wollte mehr über die Prophezeiung erfahren.”

Daytons Miene wird ernster.

 “Hast du?”

 “Leider kaum”, antworte ich niedergeschlagen, “ Ich glaube, dass Awan genau weiß, was passieren wird, aber er  spricht es nicht aus. Kennst du die Prophezeiung denn genauer?”

 “Nein. Die Alten haben uns davon erzählt, als wir noch Kinder waren. Damals hatte ich alles für ein Märchen gehalten.”

Obwohl er ehrlich ist, kann ich sein aufsteigendes Unbehagen deutlich spüren.
Langsam rapple ich mich auf, um mich auf seinen Schoß zu kuscheln.

 “Es ist nur ... irgendwie habe ich das Gefühl, das diese Sache für uns nicht gut enden wird.”

Meine Stimme ist gefasster, als ich selbst zu glauben wagte.
Fest schlingt Dayton seine Arme um mich.

 “Tala, bitte. Ich bin bereit für dich zu töten und ich bin bereit selbst für dich zu sterben.”

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