Kapitel 36

Als ich wieder zu mir komme, liege ich gestützt in Daytons Armen.  Langsam blinzelnd schlage ich meine schweren Lieder auf und blicke in das klare Grau seiner Augen. Das Grau, in dem ich mich jedes Mal verlieren und neu finden kann. Bei ihm fühle ich mich sicher. Er ist mein Anker, mein Halt, mein Mann.

 “Geht es dir besser?”, fragt er mit leiser Stimme.

 “Ja, ich mache mir nur so große Sorgen ... und ich fühle mich ... schuldig.”

Vorsichtig hilft mir Dayton auf.

 “Dafür gibt es keinen Grund. Dem Rudel geht es gut und wir sind hier absolut sicher.”

Wieder füllen sich meine Augen mit Tränen.

 “Aber Kanti!”, wimmere ich, “Sie ist tot. Wegen mir.”

Einen Moment sieht er mir tief in die Augen.

 “Wir Wölfe sehen das nicht so. Jeder hat vom Schicksal seine Aufgabe bekommen. Es ist vorbestimmt. Kantis Aufgabe war es im Kampf zu sterben ... für eine höhere Sache. Es ist nicht deine Schuld.”

Seine Worte nehmen mir zwar etwas die tonnenschwere Last der Schuldgefühle, doch wirklich besser fühle ich mich nicht.

 “Ruhe dich jetzt aus, ich schaffe hier Ordnung und besorge uns dann etwas zu Essen und ein paar Klamotten.”

Nach Ausruhen ist mir allerdings gerade überhaupt nicht zumute. Ich muss mich ablenken, auch wenn ich mich noch etwas wackelig auf den Beinen fühle.

 “Nein, ich putze und du kannst dich um Essen kümmern”, widerspreche ich schließlich.

Argwöhnisch mustert Dayton mein Gesicht.

 “Es geht mir gut", versichere ich schnell.

 “Na okay. Es gibt eine kleine Stadt, nicht allzu weit. Dort besorge ich uns alles. Bitte bleib im Haus.”

Mit einem erzwungenen Lächeln und einem keuschen Kuss verabschiede ich mich.
Nun bin ich alleine in dem düsteren Haus.
Es riecht nach alten Holz und etwas muffig, so dass ich zuallererst die Fenster öffne, bevor ich mich auf die Suche nach einem Besen mache, um die Deckenbalken von Spinnweben zu befreien und später kehren zu können. Glücklicherweise finde ich auch einen Putzlappen zum Staubwischen und beginne sofort mich in die Arbeit zu vertiefen. Ablenkung wird nun einfach das Beste sein.
Meine schlechten Gefühle muss ich nun herunterschlucken und versuchen, mich auf diese neue Situation einzustellen. Niemand weiß wie lange Dayton und ich nun hier in diesem Häuschen bleiben werden.
Es ist schwer mit den ständigen Veränderungen klar zu kommen.
Von einem Tag auf den anderen wurde ich von der depressiven Klinikpatientin zur Gefährtin eines Wolfs. Und plötzlich bin ich nicht nur das, sondern das Mädchen aus einer uralten Prophezeiung.
Von einer Stunde auf die Nächste wandelte ich mich von der frisch getrauten Braut zu einer Gejagten, die sich im Wald verstecken muss.
Das Alles in wenigen Wochen.

Ein ungläubiges Lächeln huscht mir über die Lippen, bei dem Gedanken daran, dass ich Dayton, den Mann, von dem ich mir erhoffe mein ganzes Leben mit ihm zu verbringen, tatsächlich erst seit einigen Wochen kenne. Andere würden mich wahrscheinlich für völlig verrückt erklären aber das spielt keine Rolle mehr. Andere hätten mich wohl auch für unzurechnungsfähig erklärt, wenn ich Ihnen von der Existenz von Werwölfen und Vampiren berichtet hätte ... wahrscheinlich hätte ich es selbst niemals für möglich gehalten. Doch genau das ist mein Leben und war mir allen Anschein nach schon immer so bestimmt.
Der Tod meiner Mutter, der Aufenthalt in der Klinik, waren Stationen auf meinem Weg zu Dayton und meiner wahren Bestimmung, über die ich schnellst möglich mehr erfahren muss. Bislange ist mir die Bedeutung dieser Profezeiung immer noch nicht ganz klar geworden. Es wäre um Einiges leichter, wenn mir meine Rolle voll und ganz bewusst wäre.

Völlig erschöpft setze ich mich auf das alte Ledersofa in der Nische. Relativ zufrieden lasse ich den Blick durchs Zimmer gleiten, während ich mich müde an die Rückenlehne schmiege. Draußen ist es bereits dunkel geworden und Dayton müsste langsam auch zurück sein.
Die Anstrengung und Aufregung des Tages sitzt mir so in den Knochen, dass mir kurz die Augen zufallen.
Doch mein Inneres kommt nicht zur Ruhe. Ich habe das Gefühl als würde in mir etwas geschehen, als wolle sich ein Teil meines Ichs absplittern. Und plötzlich finde ich mich selbst im Wald wieder. Durch die Augen des Wolfs blicke ich auf die Siedlung des Rudels. Leise trete ich aus dem Gestrüpp und überquere die Wiese in Richtung Feuerstelle. Alles ist ruhig. Nur der zerstörte Blumenbogen lässt auf den grausamen Kampf schließen. Die Fenster der kleinen Hütten sind dunkel, außer die des alten, morschen Häuschen von Awan. Erst als ich mich der Veranda nähere, bemerke ich, dass die Tür nur angelehnt ist. Vorsichtig schiebe ich sie auf und trete ein.

 “Tala?”, höre ich seine Stimme.
Erschrocken verharre ich inmitten meiner Bewegung.

 “Du kannst mich sehen?”

Ich spreche nicht wirklich. Es ist mehr wie eine Art Gedankenübertragung, Telepathie.

 “Das ist eine meiner schamanischen Fähigkeiten”, antwortet er.

 “Wie geht es dem Rudel?”

 “Wir haben einige Verletzte aber wir konnten sie gut abwehren und das Schlimmste vermeiden.”

Mein Herz zieht sich zusammen, wenn ich an das viele Leid denke, dass durch mich ausgelöst wurde.  Jedoch ist mir bewusst, dass mein Wolf mich nicht ohne Grund hier her geführt hat. Ich habe mir Klarheit gewünscht und Awan kann sie mir verschaffen.
Als könne er auch diesen Gedanken hören, geht er direkt auf meine nicht ausgesprochene Frage ein.

 “Ich werde dir nicht viel zu deiner Zukunft sagen, Kind. Nur soviel, dass du und Dayton etwas Besonderes erschaffen werdet. Doch wenn der Tag gekommen ist und der große Krieg tobt, wird er alles verlieren und eine Entscheidung treffen müssen, die euer beider Leben und die Ordnung zwischen Wolf und Vampire völlig neu bestimmen wird.”

 “Ich werde sterben.”

Awan spricht es nicht aus, doch empfinde ich seine Aussage als klar.

 “Du wirst sterben und du wirst leben, Tala. Du bist die Mondgefährtin. Habe keine Furcht vor dem, was die Zukunft bringen wird. Am Ende wird alles sein, wie es vorherbestimmt ist.”

 “Sag’ mir, Awan, wie ist meine Mutter wirklich gestorben?”

Seine Augen verengen sich. Sein Gesicht wird erst.

 “Das ist auch mir unklar.”

Wortlos nicke ich. Ich weiß, dass er lügt.

Es ist Zeit das Dorf zu verlassen.
Aber bevor ich zu mir selbst zurückkehre, muss ich noch eine weitere Sache erledigen.

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