Kapitel 2
"Miss Brown?"
Schreckhaft zucke ich zusammen, als es an meiner Tür klopft.
"Miss Brown? Haben Sie ihren Termin vergessen? Doktor Miller erwartet Sie bereits."
Mühselig rappele ich mich auf, wobei ich froh bin, dass der Betreuer vor meiner Tür mein genervtes Augenrollen nicht sehen kann. Kurz ziehe ich den Gürtel meiner Wollweste etwas enger zusammen, bevor ich die Tür öffne.
"Da sind Sie ja", schnaubte Paul, der große, schlaksige Pfleger, abwertig. Allerdings kann ich das erleichterte Atmen in seiner Stimme deutlich erkennen.
"Tut mir leid. Ich bin eingeschlafen", murmele ich wortkarg.
Es ist natürlich gelogen aber ich möchte ihm nicht sagen, dass ich den Termin mal wieder vergessen habe. Die Tage hier ziehen sich unendlich, da man außer den Gruppentherapien und Einzelgesprächen kaum etwas zu tun hat. Also sitze ich in meinem Zimmer, lese, höre Musik oder denke nach, während die Zeit völlig an mir vorbeizieht.
Das leise Geräusch unsere Schritte erfüllt den grell beleuchteten Flur. Die Neonröhren in Kombination mit den leeren, weißen Wänden lassen die Gänge sogar noch steriler und lebloser erscheinen. Dagegen wirkt das warme Mahagoniholz in Doktor Millers Büro in meinen Augen geradezu entspannend, obwohl mir die Gespräche mit ihm jedes Mal ein Grauen sind.
"Miss Brown, Sie sollten unsere Termine etwas ernster nehmen", tadelt mich der Doktor, statt mich zuerst zu begrüßen, "Bitte nehmen Sie Platz."
Mit einer einladenden Handbewegung deutet er auf den gepolsterten Stuhl ihm gegenüber.
"Wie geht es Ihnen heute? Haben Sie inzwischen etwas Anschluss gefunden, Miss Brown?"
"Bitte nennen Sie mich Tala", fordere ich ihn zum bestimmt fünften mal seit meiner Einweisung auf.
Ich mag es nicht bei meinem Nachnamen angesprochen zu werden. Es erinnert mich zu sehr an meine Mom.
Erwartungsvoll lehnt sich Doktor Miller über den Schreibtisch und blickt mich über die Ränder seiner dicken Brille hinweg an, während er auf eine Antwort wartet.
"Nein, bislang hatte ich eher wenig Kontakt mit den anderen", nuschle ich leise, "Ich bin ganz gerne ... für mich."
In seinen Augen blitzt etwas auf, dass ich als Enttäuschung deute, vielleicht auch ein wenig Wut.
"Tala, dieses Institut ist seit Jahren renommiert Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die auf Grund von sozialen oder emotionalen Schwierigkeiten hier her kommen, zurück in den Alltag zu helfen. Dafür setzen wir allerdings auch Kooperationsbereitschaft voraus. Sie müssen Sich schon für die psychologische Betreuung und Förderprogramme unserer Klinik öffnen."
Verlegen wende ich den Blick ab.
Da schiebt er mir einen Becher mit zwei Tabletten und ein kleines Glas Wasser über den Schreibtisch.
Schweigend treffen sich Blicke erneut.
Da ich keine Anzeichen mache, diese Medikamente zu nehmen, setzt Doktor Miller erneut an:
"Was meinen Sie, warum man Sie hierher gebracht hat?"
Stur halte ich seinen bohrenden Augen stand.
"Weil es meinen Vater zu anstrengend war. Er möchte wohl lieber seine Ruhe", fauche ich lauter, als ich eigentlich wollte.
"Das ist Ihre Chance auf ein normales Leben", mit einem kurzen Nicken, zeigt er auf die Tabletten, "Wir könnten Ihre Depressionen recht schnell in den Griff bekommen und Sie könnten zeitnah wieder nach Hause."
Angestrengt versuche ich mir ein Verächtliches Schnauben zu unterdrücken.
Was soll ich denn zu Hause, bei meinem Dad, dem es lieber ist, wenn ich fort bin, bei falschen Freunden und zu vielen schlimmen Erinnerungen?
"Ich komme auch ohne Pharmazeutika zurecht", hauche ich nun kleinlaut.
Doktor Miller reibt sich die Stirn. Einen Moment scheint er zu überlegen, bevor er mich auf das nächste Thema anspricht.
"Tala, Professor Green sagte mir, dass Sie auch in den Gruppengesprächen nicht einbringen", holt er schwerfällig aus, "Sie müssen daran arbeiten Sich zu öffnen, wenn wir Ihnen helfen sollen."
Es stimmt, ich bringe mich nicht in die Gespräche ein, weil ich nicht gerne vor völlig Fremden über meine Gefühle spreche.
Verlegen schaue ich auf meine verflochtenen Finger, die ich aus Nervosität in meinen Schoß gebettet habe. Als nächstes höre ich den Doktor tief Luft einziehen.
"Erzählen Sie mir, wie es Ihnen geht, wenn sie alleine sind?"
"Ich habe das Gefühl, dass es mir dann ein wenig besser geht", meine Stimme ist kaum mehr ein Flüstern, es fällt mir schwer meine Emotionen in Worte zu packen, "Ich glaube, ich brauche die Ruhe."
"Warum denken Sie, dass ihnen das Alleinsein gut tut, Tala?", hakt er vorsichtig nach.
"Weil ich dann ... Ich sein kann."
Nachdenklich mustert er mein Gesicht.
"Was hindert Sie daran in Gesellschaft Sie selbst zu sein?"
Diese Frage ist für mich kaum zu beantworten. Eine ganze Weile muss ich meine nächsten Worte überlegen und genau das ist wohl der springende Punkt.
"Ich glaube, weil ich mir Gedanken darüber machen muss, für sonderbar oder verrückt gehalten zu werden."
"Niemand hält Sie für verrückt", dringt die Stimme Doktor Millers zu mir durch.
Ich bezweifle seine Aussage, gehe jedoch nicht weiter darauf ein.
Wir reden die ganze Stunde weiter und wie jedes Mal in unseren Sitzungen habe ich das Gefühl, dass wir uns nur im Kreis drehen. Daher bin ich ziemlich erleichtert, als die Zeit um ist.
Zurück in meinem Zimmer setze ich mich auf die Bettkante und starre an die leere Wand, während ich mit den Tränen kämpfe. Leider ohne Erfolg. Das Gespräch mit Doktor Miller hat mich wieder so aufgewühlt, dass ich mein Weinen nicht mehr zurückhalten kann. In Ohio habe ich zwar keinen, nur hier kann ich es auch nicht aushalten. Am liebsten würde ich einfach abhauen.
Die Tränen rollen über meine Wangen und Tropfen von meinem Kinn, egal wie oft ich sie mir aus dem Gesicht wische.
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