Kapitel 16
"Hören Sie, es stimmt, ich habe Wut, Trauer und Angst in mir. Wut auf so viele Menschen und auf mich selbst. Angst, noch einmal jemanden Geliebtes verlieren zu müssen, mich selbst zu verlieren oder zu bemerken, dass ich irgendwann wirklich alleine bin”, schwer atmete ich ein, “Aber ich habe keine Wahrnehmungsstörungen. Bitte lassen Sie uns an meinen wirklichen Problemen arbeiten, als mich für verrückter zu erklären, als ich eigentlich bin.”
Schweigend sitzt Doktor Miller vor mir. Seine Hände ruhen auf seinem Notizblock, seine Augen stur auf mich gerichtet.
“Da Sie es nun selbst angesprochen haben, sollten wir über Ihre Ängste sprechen.”
Obwohl ich den Druck, der auf meiner Brust lastet, kaum ertrage, bemühe ich mich die richtigen Worte zu finden.
“Ich habe Angst meine Trauer zu überwinden. Was ist, wenn dadurch etwas ... etwas verloren geht? Ich möchte mich an alles erinnern ... für immer. Wissen Sie, ich habe in ihr, also meiner Mom, den wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren und dort, wo ihr Platz ist, ist gerade nur ein dunkles Loch ... und Schmerz. Das macht mir Angst. Ich möchte ja aber auch gesund werden ...”
Ich ringe um Fassung. Mit ihm so über meine innigsten und geheimsten Emotionen zu reden, raubt mir die Kraft. Doch zu meiner eigenen Überraschung, reagiert Doktor Miller äußerst positiv und einfühlsam. Seine Fragen bleiben feinfühlig, sodass ich mich weniger unter Druck gesetzt fühle als sonst in unseren Sitzungen.
Am Ende der Stunde, legt er seinen Block zur Seite.
“Tala, wir haben heute fantastische Fortschritte gemacht. Ich danke Ihnen für ihr Vertrauen.”
Mit einem Händedruck verabschiedet er mich aus dem Gespräch und ich muss mir selbst eingestehen, dass ich mich besser fühle.
Mit einem Anflug von Zuversicht mache ich mich auf den Weg ins Erdgeschoss, wo Sophie bereits auf mich wartet. Da heute die Sonne zum Vorschein gekommen ist, möchten wir uns zum Erzählen in den Garten setzen. Es riecht nach feuchtem Laub und Tannennadeln. Der morgendliche Nebel hat sich inzwischen verzogen und es ist kaum eine Wolke am Himmel zu sehen.
Leider ist die Wiese allerdings vom Tau noch viel zu feucht, um sich in den Rasen zu setzen. Also gesellen wir uns kurzerhand zu Amy und Miguel.
Die Beiden sitzen stillschweigend nebeneinander. Sie wirken bedrückt.
“Ist alles in Ordnung?”, frage ich vorsichtig.
Da hebt Amy den Kopf. Ihr Blick ist von Tränen getrübt.
“Nein. Es geht um ... Selma”, antworte sie mit brüchiger Stimme, “Sie hat versucht sich selbst etwas anzutun. Jetzt würde sie in eine geschlossene Anstalt verlegt. Ich ... Ich hatte keine Ahnung.”
Der Schock lässt meine Beine weich werden.
Es gab keine Anzeichen dafür, dass sie so in ihren Problemen versank. Seit ich sie kenne, war Selma immer recht gut gelaunt, taff und aufgeschlossen.
Im Augenwinkel kann ich sehen, wie auch aus Sophies blassem Gesicht die letzte Farbe schwindet.
Eine ganze Weile stehen wir regungslos neben der Bank. Niemand spricht auch nur ein Wort.
Doch plötzlich fühle ich mich beobachtet. Ein seltsames Gefühl flutet meinen Körper.
Ohne mich umzusehen, kann ich diesen Blick regelrecht auf mir brennen fühlen. Als ich mich wage meinen Kopf zu drehen, stockt mir der Atem.
Dayton steht an der großen Glastür nur wenige Meter entfernt. Die Arme verschränkt mustert er mich.
Unsicher gehe ich auf ihn zu.
“Hallo”, hauche ich.
Meine Stimme klingt leise beschämt und überrascht zugleich. Ein nervöses Kribbeln breitet sich in mir aus.
“Hallo Tala", begrüßt er mich mit samtweicher Stimme, die ein Gefühl in mir auslöst, das ich nicht definieren kann.
Als ich ihn hier jetzt so vor mir sehe, muss ich mich zwingen nicht zu viel in diese Situation hinein zu interpretieren.
“Du bist also Patientin hier.”
Fassungslos schaue ich ihn an.
“Woher ...?”
“Ich wollte dich überraschen und habe an Anmeldung nach der Praktikantin gefragt”, unterbricht er mich, “Und jetzt rate mal, was ich dann erfahren habe.”
Unwillkürlich schießt mir die Hitze in die Wangen. Habe ich denn ernsthaft geglaubt, ihn einfach weiterhin anlügen zu können? Er ist fast täglich in dieser Klinik, da war es vorprogrammiert, dass meine Lüge früher oder später auffliegen wird.
“Es tut mir leid”, stammle ich kleinlaut, ohne Dayton dabei anzusehen, “Ich könnte es dir irgendwie nicht sagen.”
Für einen Moment treffen sich unsere Blicke.
“Weißt du Tala, hier zu sein, um seine Probleme zu lösen, finde ich weniger schändlich, als zu lügen. Schade.”
Statt mir die Gelegenheit zu geben noch etwas dazu zu sagen, schiebt er sich durch die Tür und geht.
Ich fühle mich kläglich. Der Stolz auf mich selbst von heute früh ist schlagartig verpufft.
Der Schreck wegen Selma war ein Schlag in meine Magengrube. Sie tut mir unwahrscheinlich leid.
Die Wucht, mit der mich Daytons Worte trafen, bereitet mir eine Gänsehaut. Mit der Wahrheit zerbrach jede Chance ihn kennenlernen zu können. Mit der Tatsache eben keine Praktikantin zu sein zerfließt jede meiner Träumereien. Die Träumereien, die mich vielleicht insgeheim motiviert haben, an einer schnellen Verbesserung zu arbeiten, um hier entlassen zu werden.
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