Kapitel 11
Obwohl ich wieder einmal sehr schlecht geschlafen habe, zwinge ich mich schon früh am Morgen ins Bad zu gehen, um zu duschen und mir die Zähne zu putzen. Im Spiegel betrachte ich mein Gesicht. Meine Augen sind vom Weinen so verquollen, dass ich sie kaum mehr auf bekomme. Schnell spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, stütze mich auf dem Rand des Waschbeckens ab und starre mich selbst im Spiegel an. Meine Haare fallen wild um meinen Kopf. Meine Haut ist unnatürlich und ungesund weiß und meine Augen haben dunkle Schatten. Schnell drehe ich mir selbst den Rücken zu, bevor ich mich überwinde und mit warmem Wasser wasche.
Blind greife ich nach meinem Handtuch und vergrabe für mehrere Minuten mein Gesicht darin. Ich fühle mich erbärmlich. Ausgerechnet heute.
Selbst beim Essen lenkt mich der bevorstehende Besuch meines Dads und was auf mich zukommen wird viel zu sehr ab.
Kurz vor 14 Uhr sitze ich mit geföhnten Haaren, in meiner dunklen Jeans und der schwarzen Bluse auf meinem Bett und fühle mich wie ein naives, kleines Mädchen.
Ich habe mir sogar die Mühe gemacht mit etwas Make up die Schatten unter meinen Augen zu kaschieren und mir mit Rouge ein wenig mehr Leben ins Gesicht zu zaubern. Wenn man Vater mich sieht, möchte ich einen möglichst guten und stabilen Eindruck machen. Auch wenn wir uns höchstwahrscheinlich lediglich zwei Stunden mit unangenehmen Smalltalk und aufgesetzt guter Laune gegenüber sitzen werden.
Wenn es mir aber gelingen soll hier schnellst möglich wieder raus zu kommen, muss der Besuch gut laufen.
Also sitze ich wie Sophie und zahlreiche andere im Foyer am Eingang und warte. Nervös beobachte ich wie Eltern und Freunde hereinkommen und ihre Lieben mit Umarmungen und Küsschen begrüßen.
Da springt Sophie auf. Ihre Augen beginnen zu strahlen.
"Mom! Dad!", ruft sie erleichtert und eilt auf ein älteres, sehr gepflegt wirkendes Paar zu.
In den Augen von Misses Baker bilden sich Tränen, als sie das Gesicht ihrer Tochter in beide Hände nimmt.
"Sophie, Schatz, wie geht es dir denn?"
"Ganz gut", antwortet sie, "Mom, Dad, das ist Tala Brown. Wir haben uns hier angefreundet."
Höflich stehe ich auf und reiche Misses und Mister Baker die Hand.
"Freut mich Sie kennenzulernen."
"Es freut uns, dass Sophie direkt eine Freundin gefunden hat", gibt ihr Vater zurück, wobei er stolz den Arm um Sophies Schultern legt.
"Sollen wir noch warten, bis dein Dad kommt?", bietet Sophie an aber ich lehne ab.
"Nein, er wird bestimmt gleich hier sein."
Ich sitze noch eine gute viertel Stunde. Allmählich werde ich ungeduldig und auch zunehmend genervt.
Natürlich kommt mein Vater nicht pünktlich. Er hielt es auch in der Vergangenheit nie für nötig Termin, die mich betrafen, ernst zu nehmen.
Kurz überlege ich einfach zurück auf mein Zimmer zu gehen, da tritt er durch die Tür.
Jerome Brown, elegant im grauen Jackett, mit gestylter Frisur und dem typischen Zahnpastalächeln eines Businessman.
Mit wenigen, schnellen Schritten durchquert er das Foyer.
"Tala, entschuldige die Verspätung. Der Verkehr war die Hölle."
"Kein Problem, Dad", schlucke ich meinen Zorn herunter und schenke ihm mein mädchenhaftestes Lächeln.
"Und? Wie ist es hier so?"
Schon beginnt der Smalltalk.
Da ich mein Ziel natürlich nicht aus den Augen verliere, berichtet ich fröhlich von den erfolgreichen Sitzungen und darüber, dass ich in der Klinik auch schon Anschluss gefunden habe. Natürlich erkundige ich mich auch darüber, was es in Ohio so Neues gibt, auch unterbrochen werde.
Sophie und ihre Eltern kommen durchs Foyer.
"Wir sehen uns beim Essen. Meine Eltern und ich machen einen Spaziergang", ruft sie fröhlich winkend.
"Geht das?"
Meine Überraschung muss mir förmlich ins Gesicht geschrieben stehen, denn die Bakers können sich nur schwer ein amüsierte Schmunzeln verkneifen.
"Ja", antwortet Sophie, "Dein Vater muss nur ein Formular unterschreiben."
Mir wird ganz warm. Das ist die Gelegenheit noch einmal ins Dorf zu kommen.
Freudig klatsche ich in die Hände.
"Dad! Können wir auch raus?", quieke ich, "Wir haben diese Woche einen Ausflug nach Centralia gemacht. Das musst du gesehen haben. Es brennt unter den Straßen. Bitte!"
Und tatsächlich bildet sich auf den Lippen meines Vaters ein zustimmendes Lächeln, bevor er aufsteht und zur Anmeldung schlendert, um den Zettel ebenfalls zu unterschreiben.
Triumphierend folge ich ihm zum Parkplatz. Ich kann mein Glück gerade selbst nicht fassen. Wir fahren wirklich ins Dorf.
Die ganze Fahrt über Berichte ich meinem Vater von allen verrückten Fakten, die ich über den Ort bereits weiß. Doch von meiner seltsamen Begegnung im Wald sage ich ihm nichts.
Kaum angekommen, springe ich aus dem Wagen, noch bevor mein Vater richtig parkt.
"Schau' dir das an. Fasziniert, oder?", rufe ich meinem Dad zu, der wie versteinert auf den 'Welcome to hell'- Schriftzug starrt, den irgendjemand auf die Straße gesprüht hat.
Weiter beachte ich ihn nicht. Mein Blick durchforscht den Waldrand. Ich suche nach Anzeichen für Laternen, Leuchten oder Fackeln ab.
Leider erkenne ich nichts Dergleichen. Während aus manchen Rissen im Asphalt zischend Dampf austritt, liegt der Wald friedlich und ruhig vor mir. Absolut gar nichts deutet auf Menschen oder Tiere hin, die dort unterwegs sein könnten.
Außer einer Gruppe sogenannter Katastrophentouristen ist außer uns kaum einer im Dorf unterwegs.
Aber ich bleibe konzentriert und aufmerksam, während ich gemeinsam mit meiner Dad umherlaufe.
Doch dann stoppe ich inmitten meiner Bewegung. Ich traue kaum meinen Augen.
Da ist ER.
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