Kapitel 9:

Eine lange Zeit stehen alle Lichter vor dem geschlossenen Tor, halten ihre Köpfe gesenkt und die Augen geschlossen, als würden sie für Ben ein Trauergebet im Kopf sprechen. Kate fängt leise an zu schluchzen und Ann reibt ihr wieder sanft den Rücken, denn das ist das Einzige, was sie eigentlich nur tun kann. Sie will gerne wissen, wieso Kate weint, weil sie kannte Ben ja überhaupt nicht, aber jetzt ist der schlimmste Zeitpunkt, um danach zu fragen. Aber sie weiß, dass sich Kate schlecht deswegen fühlt und das vielleicht auch der Grund ist, wieso sie weint. Ob alles ganz anders gelaufen wäre, wenn dieser eine Junge nicht wäre? Doch nun war er weg, verbannt ins Reich der Griewer, dahin geschleppt, wohin sie ihre Beute brachten, dem ausgeliefert, was dort mit ihm passieren würde. Obwohl Kate genügend Gründe hätte, Ben zu hassen, verspürte sie einfach nur Mitleid mit ihm.

„Ich weiß, was ihr alle denkt. Ihr denkt, dass das, was wir gerade getan haben, falsch war.", sagt Alby und schaut als Erster von ihnen auf. „Ich dachte, Ben war euer Freund. Das war er auch. Er war auch mein Freund. Aber das war nicht Ben! Versteht ihr? Wir konnten nichts mehr für ihn tun! Er gehört jetzt dem Labyrinth. Ich will kein Wort mehr darüber hören."

Nach diesen Worten geht Alby geht an Kate vorbei, was schließlich auch die anderen machen, welche Kate keinen Blick schenken. Sie fühlt sich so schrecklich, dass es kaum zu beschreiben ist. Sie stellt sich vor, wie sich Ben nun fühlen muss: alleine im Labyrinth, dem Tode geweiht. Ein schrecklicher Gedanke, den sie am liebsten lieber loswerden will, aber er nun fest in ihren Kopf ist. „Der arme Kerl.", denkt sie. „Der arme, arme Kerl."

Ann bleibt bei Kate stehen und beide erblicken Minho, der mit Ben sehr eng befreundet sein musste. Er steht als Letzter der Lichter an der Mauer, versucht regelmäßig zu atmen, doch in seinem Herzen tretet eine zu große Trauer auf, was sehr für ihn schmerzt. Er berührt mit einer Hand die Mauer. Dann geht er an den beiden Mädchen vorbei, die ihn beobachten und ohne ihnen einen Blick zu würdigen.

***

In dieser Nacht sehen Kate und Ann dabei zu, wie Gally mit Zart und Winston zu der Mauer schreiten, wo alle Namen eingeritzt sind und sie den von Ben durchstreichen. Es tut Kate im Herzen so schrecklich weh, sodass sie versucht es irgendwie zu vergessen, aber so einfach geht das nicht. Sie starrt zu dem klaren Sternenhimmel hoch und fragt sich, ob sie je wieder Schlaf finden würde. Sobald sie die Augen schließt, sieht sie wieder das grausame Bild von Ben vor sich, wie er sich auf sie stürzte, und das wahnsinnige Gesicht des Jungen. Augen offen oder geschlossen, sie hätte schwören können, dass sie immer noch seine Schreie hört. Während Kate in diesen Gedanken versunken auf ihrer Hängematte liegt, die Augen weit geöffnet hat und nichts von sich herausbekommt, sitzen Ann und Chuck direkt neben ihr; Chuck auf seiner Hängematte beschäftigt sich mit seiner Holzfigur, die langsam Gestalt annimmt und Ann mit dem Schneidersitz auf den Boden zu Chuck gerichtet.

„Meinst du er kann es schaffen?", fragt Ann.

„Ben?" Chuck sieht kurz auf zum geschlossenem Tor des Labyrinths. „Nein." Dann widmet er sich wieder seines Schnitzens. „Niemand überlebt eine Nacht im Labyrinth... wir müssen ihn einfach vergessen."

Er steckt seine unfertige Figur in seine Tasche, dreht sich Ann weg und versucht zu schlafen, doch Ann bringt es wirklich zum Nachdenken, was dort draußen wohl die Griewer genau mit ihm anstellen, obwohl sie weiß, dass dieses Thema für sie tabu ist. Plötzlich erblickt Ann Alby, welcher mehrere Meter auf seinem Bett sitzt und ebenfalls nachdenklich zum geschlossenen Tor des Labyrinths starrt. Dennoch begibt sie sich in ihre Hängematte und entdeckt, dass Kate immer noch wach ist, aber die Augen geschlossen hat. Mit der Zeit schlafen beide schließlich ein, erst um Mitternacht und wieder haben beide denselben Traum, in dem sie voneinander träumen, ohne es jeweils vom anderen zu wissen.

Kate sieht, wie ihr Blick im Aufzug nach oben gerichtet ist. Sie befindet sich dort, wo alles begonnen hat. Wie schnell der Aufzug nach oben rückt und stehen bleibt. Dann verwischt das Bild; sie erblickt den Jungen, von dem sie einst geträumt hat. Nun erkennt sie ihn viel besser: dunkelbraune Augen, und auch dunkles Haar. Er müsse in ihrem Alter sein, oder auch etwas älter. Aber dennoch ist er noch völlig fremd für sie.

„Kate, alles wird sich verändern."

Die alte Frau, mit weißen oder blondem Haar kommt zum Vorschein.

„WCKED ist gut. Mach es ihnen nicht zu leicht, Kate."

Sie erblickt Bratpfanne in einem Glasbehälter, welcher ertrinkt, Ärzte, die ihm nur dabei zuschauen. Dann hören sie den Jungen reden, er schaut sie an.

„WCKED ist gut..."

Dann sehen sie wieder Köpfe von Ärzten um sich herum, die auf sie herunterschauen. Ihr Kopf dreht sich auf die linke Seite um, wo der Junge ebenfalls auf einer Liege liegt und er sie ängstlich anstarrt.

„Das wird jetzt ein bisschen wehtun.", sagt ein älterer Mann.

„WCKED ist gut, Kate. Ihr müsst euch entscheiden."

***

Ann hingegen erblickt Kate und den fremden Jungen, die auf Gally und Newt schauen, wie sie zu ertrinken drohen. Sie schreien ihre Luft aus den Lungen, währenddem sie dort festsitzen und nichts tun können. Anns Behälter ist leer und sie steht ganz nass in diesem und sieht Kate mit der Frau vor sich.

„Gut gemacht, Kate.", sagt die Frau.

Beide betrachten Ann, wie ihr Behälter sich wieder mit Wasser füllt. Sie versteht nicht, wieso Kate nichts dagegen tut. Beide schauen sie bloß an, doch an Kates Blick ist etwas anders, als dieser von der Frau. Sie schaut ängstlich, wütend und auch mitfühlend zu Ann, als hätte sie keine andere Wahl. Ann verspürt das schreckliche Gefühl, dass Wasser in ihre Lungen gepumpt wird und sie zu ersticken droht.

„Sie wird die Nächste sein."

Kate wacht als erste auf und hört den schrillen Schrei von Ben bei seiner Verbannung. Dann hört sie das Grollen des Labyrinthes, als die vier Tore geöffnet werden. Und sie sieht drei Gestalten: Minho, Alby und Newt vor diesem. Minho und Alby rennen in das Labyrinth rein, währenddessen Newt noch dasteht und sich dann wieder auf den Weg zurück macht. Plötzlich zuckt Ann zusammen, als sie von ihrem Traum erwacht. Sie rutscht von der Hängematte, knallt mit dem Bauch auf den Boden und schreit kurz auf.

„Oh, man. W-was ist denn los?", brummt Chuck müde und genervt.

„T-tut mir leid. Ich habe mich nur erschreckt...", antwortet Ann und schaut seltsam zu Kate hoch, bei dem Gedanken ihres Traumes.

Doch sie will kein einziges Wort darüber verlieren, nichts. Chuck seufzt und dreht sich wieder von den beiden Mädchen weg, welche sich jetzt anschauen. Die Sonne ist noch nicht über die Lichtung aufgegangen, doch es ist bereits hell und frisch.

„Na, alles in Ordnung?", fragt Ann, welche aufsteht und sich auf ihre Hängematte legt.

Sie versucht ihre Miene vor Kate zu verstecken. Kate nickt und Ann bemerkt, dass es gelogen ist.

„Ich habe gerade Minho und Alby ins Labyrinth rennen sehen.", brummt Kate verwirrt.

„Was?" Ann steht rasch auf und setzt sich auf ihre Hängematte. „Alby?"

Kate nickt ausdruckslos, immer noch benommen von ihrem Traum. Ann lässt sich dann wieder in ihre Hängematte fallen und seufzt bei dem Gedanken, dass sie heute den Handwerkern helfen muss, währenddessen Kate wieder bei den Feldern arbeitet. Die beiden Mädchen können jetzt nicht mehr einschlafen, obwohl es noch genug Zeit ist. Also setzen sie sich hin und flüstern gemeinsam weiter.

„Du, Ann... Ich weiß nicht, wem ich es sonst verraten soll, aber ich habe in den letzten zwei Nächten seltsame Träume gehabt."

Ann sieht sie erstaunt an, weil Kate so viel Vertrauen in ihr hat, dass sie von ihren Träumen erzählen will.

„Ja?"

„Ja und das mit Ben kann ich mir einfach nicht erklären. Ich habe ihn noch nie zuvor in meinem Leben gesehen."

„Vielleicht schon, aber du kannst dich ja nicht mehr daran erinnern."

Kate senkt ihren Blick und ihr kullert eine Träne die Wange herunter.

„Hey, das ist ganz bestimmt nicht deine Schuld.", flüstert Ann mitfühlend. „Glaub mir, das geht hier schon seit fast vier Jahren so. Da warst du gerade Mal dreizehn oder so. Ich denke nicht, dass eine dreizehnjähriges so ist und Jungen in ein lebensgefährliches Labyrinth steckt."

Das leuchtet Kate ein. Sie hat Recht.

„Du bist doch siebzehn Jahre, oder? Siehst zumindest mal so aus.",

Kate zuckt mit den Achseln. Über ihr alter fehlt jegliche Information. Das fehlt jedem hier auf der Lichtung.

„Ich finde, du siehst auch aus wie siebzehn oder höchstens achtzehn. Aber nicht älter.", meint Ann.

Dann lässt sich die Sonne zeigen und nach wenigen Minuten kommt Newt Kate abholen und Winston Ann. Und wieder trennen sich ihre Wege, aber zum Abschied lächeln sich die beiden an, als wären sie beste Freunde. Und aus einem bestimmten Grund sind sie das auch.

„Also, Frischling. Hier ist ein alter Baum, den wir abholzen müssen.", sagt Newt, doch Kate ist nicht ganz bei der Sache.

Sie hat wieder Ben im Kopf, obwohl sie ihn während dem Gespräch mit Ann vergessen hat. Er findet irgendwie immer wieder einen Weg zurück in ihren Kopf. Chuck gesellt sich zu ihnen, setzt sich auf einem Baumstamm und schnitzt wieder weiter an seiner Figur. Kate setzt sich neben ihn, um kurz Nachdenken zu können. Sie will wissen, wieso Alby mit Minho ins Labyrinth gegangen ist. Newt beachtet es gar nicht, dass sie nicht mithilft; er holzt bereits mit Zart an den Wurzeln des Baumstamms.

„Wieso ist Alby ins Labyrinth gegangen?"

Newt sieht sie an und runzelt die Stirn. „Woher weißt du das?"

„Ich hab's heute Morgen gesehen."

Newt wendet sich von ihr ab und arbeitet weiter. Er beantwortet ihre Frage nicht und das macht Kate mürrisch.

„Wieso ist der denn ins Labyrinth gegangen?", wiederholt sie ihre Frage. „Ich meine... er ist kein Läufer."

„Die Lage hat sich geändert. Alby ist reingegangen, um Bens Weg zurück zu verfolgen, bevor es dunkel wird." Er wechselt ohne Luft zu holen das Thema. „Und hilfst du jetzt mal?"

„Ja, ja und du meinst er geht dahin zurück, wo Ben gestochen worden ist?"

Newt antwortet ihr sofort. „Alby weiß, was er tut, in Ordnung? Er weiß es besser als jeder von uns."

Ein zweites Mal dreht er sich wieder zur Arbeit zurück, doch Kate fällt wieder eine Frage ein.

„Was willst du damit sagen?"

Sie steckt ihre Axt in den Baumstamm und starrt Newt wartend an, welcher wieder mit der Arbeit aufhört und zu ihr sieht. Er kratz sich hinter dem Ohr, seufzt wieder und will ihr am liebsten sagen, dass sie ruhig sein und helfen soll, aber er versteht Kate auf einer anderen Seite, denn er war genauso in seinen ersten Tagen im Labyrinth.

„Also, es ist genauso, wie ich's gesagt habe: jeden Monat schickt die Box einen Neuankömmling rauf. Aber einer musste der Erste sein, klar? Irgendjemand musste einen ganzen Monat auf der Lichtung verbringen, allein. Und das war Alby." Newt macht sich wieder an die Arbeit und redet währenddem weiter. „Ich meine, das war sicher nicht einfach, aber als dann die anderen Jungen heraufkamen, einer nach dem anderen. Dann erkannte er die Wahrheit und er verstand, dass es das Wichtigste ist, dass wir hier alle zusammengehören. Weil wir alle hier drin festsitzen."

Kate wirft Chuck einen Blick zu, welcher ihn kurz erwidert und sich dann wieder auf das Schnitzen konzentriert. Doch sie bleibt stumm. Vielleicht auch für den Rest des Tages, aber immer noch hat sie Schuldgefühle wegen Ben – sie hat das Gefühl, dass jeder sie jetzt dafür hasst. Dann reißt sie die Axt aus dem Baumstamm, gesellt sich zu Newt und Zart, wobei Newt nach hinten geht und zusieht, wie Kate sich so bei ihrer Arbeit anstellt. Mit voller Wucht rammt sie die Axt in die Wurzeln des Baumstammes.

„Ja, gut so, Frischling." Ich heiße nicht Frischling, denkt sie sich.

Plötzlich hört sie ein Grollen aus dem Labyrinth, wobei ihr Blick sofort in die Richtung fällt, was Newt sofort bemerkt.

„Schon gut, Katy. Vor dem Abendessen sind sie zurück. Ist schon gut."

Kate findet es nett von Newt, dass er sie wenigstens aufmunternd und versucht sie darüber zu vergessen, aber vielleicht tut er das gerade, weil er sich genauso viele Sorgen macht, wie sie. Vielleicht ja sogar noch mehr Sorgen.

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