Kapitel 8:

Zwar war das Gespräch zwischen Newt und Kate ganz anders, aber wenn sie mal wütend ist, redet sie immer das treffende Gespräch sarkastisch nach. Das wird ihr erst klar, als sie bereits den Wald betreten hat.

Die Sonne scheint grell zwischen den Blättern der Bäume herunter, aber dennoch ist es in der Lichtung viel heller, als im Wald. Kate geht einen Hügel hoch und, als sie ihn herunter stolpert, erblickt sie etwas Eigenartiges. Sie lässt augenblicklich den Korb fallen und schlendert ohne ihn weiter. Als sie vor langen Ästen steht, die aus dem Boden herausragen und mit einem Holzbrett zusammen gemacht worden sind, sieht sie sich das genauer an und kniet davor hin. Sie erkennt ein Kreuz und erblickt einen Namen. George.

Sie hört das Summen von Fliegen und riecht augenblicklich den Geruch nach Verwesung, als sie bemerkt, dass die Knochen dieses früheren George hier überall verteilt liegen. Ein sehr sehr altes Grab, vielleicht einer der ersten, das je hier aufgebaut wurde. Kate wird bewusst, dass sie gerade auf den Friedhof der Lichter befindet.

Sie geht etwas weiter und beugt sich zu einem anderen Kreuz vor. Es wirkt frisch, der Name Stephen steht darauf – das n ist zu klein geraten und an den Rand gequetscht worden, da der Holzschnitzer nicht richtig berechnet hatte, wie viel Platz er brauchen würde.

Sie erhebt sich und geht zu einem anderen Kreuz, das fast völlig zugewuchert ist, der Boden darunter fest. Dieser Junge musste einer der ersten gewesen sein, die gestorben sind, weil sein Grab am ältesten wirkt. Er hieß Roman.

Als sie wieder aufsteht und sich umdreht, um den Korb aufzuheben, erblickt sie einen Jungen vor ihr. Kate zuckt erschrocken zusammen, denn sie hat ihn nicht kommen gehört. Der Junge scheint außer Puste zu sein, als wäre er Stunden lang ohne Stopp gelaufen.

„Ben, richtig?", fragt Kate und kommt ihm etwas näher. „Ich weiß nicht, ob wir uns schon mal..."

Kate stoppt im Satz, als sie bemerkt, dass Ben ganz anders aussieht, als sie ihn in Erinnerung hatte. Seine Augen sind tiefschwarz, seine Haare sind platschnass vom Schweiß und dicke, schwarze Adern sind auf seinen muskulösen Armen zu sehen, die bestimmt über seinen gesamten Körper verteilt sind.

„Ist alles in Ordnung?"

Ben knurrt so laut, dass es wie ein widerlicher Ton aus seinem Mund kommt, als wäre er von Kate angewidert. Und dann stürzt er sich auf sie, packt sie mit erstaunlich kräftigen Händen und reißt sie zu Boden. Kate schlägt nach Ben, versucht ihn abzuschütteln, doch er ist nicht zu greifen, eine ständige Bewegung von Haut und Knochen, die auf ihr sitzt. Er ist wie ein Gnom aus einem Nachtmahr, aber Kate weiß ja, dass es einer der Lichter sein muss, irgendjemand, der seinen Verstand verloren hat. Sie hört, wie seine Zähne aufeinander klappern und sie hat solche Angst vor ihm, obwohl er ja den ersten Tag noch so gut ausgesehen hat. Was ist ihm bloß vorgefallen? Kate brüllt laut los, der Schmerz wirkt wie eine Adrenalin-stoß auf sie.

„Es war deine schuld!", schreit Ben laut in ihr Gesicht.

Kate zappelt unter seinem Körper herum, versucht sich irgendwie von ihm zu befreien, aber es klappt nicht.

„Ich hab' dich gesehen'! Du hast das getan!"

Ben knirscht mit den Zähnen und Kate kann noch gerade mithören, was er ihr an den Kopf wirft, aber sie versteht kurz und klein nur Bahnhof.

„ICH HAB' DICH GESEHEN!"

Er hält den Oberarm von Kate in der Hand und zerdrückt ihn, sodass es ganz kurz ein Knacken zu hören gibt und Kate vor Schmerz aufschreit. Dann hält er mit der anderen Hand Kate die Kehle zu, sodass sie nicht um Hilfe schreien kann. Niemand ist im Wald, außer sie beide. Kate versucht vergeblich mit ihren Händen gegen die von Ben zu drücken und ihn wegzustoßen, aber der Schmerz auf ihrem Hals wird mit jeder Sekunde stärker. Als sie ihm eine Ohrfeige verpasst, die nichts genutzt hat, schnappt sie sich einen Schädel eines Tieres (Kate ist es egal, von wem es ist, Hauptsache Ben ist von ihr runter) und schlägt ihn gegen Bens Kopf, welcher auf die Seite kippt und Kate tief nach Luft schnappt. Sofort nimmt sie die Gelegenheit und steht auf, stolpert gegen einen Baum und drückt sich an diesem ab, um so schnell wie nur möglich von Ben zu kommen. Kate rennt den Hügel wieder hoch und dann wieder runter, genau dahin, von wo sie gekommen ist.

„EY!", schreit sie so laut sie kann, damit die anderen Lichter sie vielleicht hören, aber sie ist noch zu weit weg. „HILFE!" Kate rennt mit einer hohen Geschwindigkeit und Ben genau hinter ihr auf den Fersen in Richtung Lichtung. „HILFE!"

Als sie aus dem Wald huscht, Ben genau hinter ihr, wedelt sie mit den Händen wie verrückt in der Höhe herum, damit sie sich aufmerksam auf die anderen macht. Sofort rennen einige aus der Ferne und nicht so ferner Nähe auf sie zu. Aber dann springt Ben von hinten wieder auf sie: Kate fällt mit dem gesamten Körper zu Boden, der Kopf schlägt auf und sie verspürt Schmerz auf der Seite ihrer Stirn.

Ben hält sie an ihrem Fuß fest und krabbelt wieder auf sie. „ICH TÖTE DICH!"

Er hält ihr wieder die Kehle zu, sodass Kate nicht mehr um Hilfe schreien kann, aber da kommt Newt auch schon. Er hält das Schaft einer Schaufel bereit und schlägt damit Ben gegen die Stirn, wobei er von Kate hinunterfällt und eine Wunde an seine Schläfe zu finden ist.

„Haltet ihn fest!", schreit Newt und Gally kommt mit Alby und anderen Jungen zu Ben und sie halten seine Beine und Arme fest, sodass er nicht mal aufstehen kann.

„Was machst du denn da?", schreit Newt ihn an.

„Reg dich ab, Ben!" Gally versucht Ben zu beruhigen.

„Was ist denn passiert?", fragt Bratpfanne.

„E-er hat mich angegriffen...", hustet Kate und schnappt nervös nach Luft.

„Alles Okay?", fragt Chuck.

Ann kommt angelaufen und klopft Kate den Dreck vom Rücken weg. „Alles in Ordnung?"

„Ja, es geht schon wieder."

„Beruhige dich, Ben.", sagt Gally wieder normal, da sich Ben nicht mehr wehrt sich von ihnen zu befreien.

Noch können sie nicht erkennen, was Ben hat, da er seine Augen vor der brennenden Sonne verschlossen hat, aber als Alby zum Vorschein kommt und Ben ihn erschrocken anstarrt, fleht er nur noch.

„Nein, nein! Bitte, Alby! Nein!"

„Okay, zieht mal das Hemd hoch!", befehlt Alby Gally.

„Nein, nein, ich hab's nicht so gemeint!"

Als Gally dies tut, erblicken alle eine Wunde, so groß wie der Abdruck eines Daumen auf Bens Bauch. Um diese Wunde haben sich Adern gebildet, die schwarz-marineblau sind und sich über seinen ganzen Bauch ausgebreitet haben. Sie machen den Anblick kaum noch erträglich.

„Nein, nein, nein, nein! Bitte, bitte!", wimmert Ben.

„Er wurde gestochen." Man weiß durch Gallys Ton nicht genau, ob es eine Frage oder eine Feststellung ist.

„Mitten am Tag?", fragt Zart verwirrt.

„Helft mir, bitte!" Ben beginnt zu weinen, kneift die Augen fest zusammen, weil die Sonne ihn immer noch blendet. „Bitte, helft mir!"

Alby sieht sich in einer Sekunde um. „Bringt ihn ins Loch, Männer!"

„Leute, packt mit an, bringt ihm zum Loch!", schreit Gally die anderen Jungen an.

Ben zappelt wieder in ihren Händen wild herum, damit schon mehrere anpacken müssen, dass sie einen großen, gutgebauten Jungen dahin bringen müssen.

„Reg dich ab, Ben!", knurrt Gally und hebt ihn mit den anderen hoch.

„NEIN, NEIN, NEIN! HILFE! IHR VERSTEHT DAS NICHT! BITTE!"

Kate steht unter Schock und Ann legt einen Arm um sie und streichelt sanft ihren Rücken. Alby schüttelt verwirrt den Kopf und geht davon. Die anderen Jungen, die nicht denen helfen, die Ben wegbringen, schütteln verwirrt den Kopf und gehen wieder zu ihrer Arbeit zurück. Jeff, einer der Sanis kommt auf Kate zu und erblickt, dass sie etwas aus dem Unterarm blutet.

„Komm, mit.", murmelt er und Chuck und Ann folgen Kate zu den Sanis.

Kate setzt sich hin und lässt sich von Jeff verarzten. Als er die Wunde geputzt hat, erblickt Kate, dass es die spitzen Fingernägel von Ben waren, die ihre Haut durchbohrt haben. Hier haben sie ja keine Pfeile oder so was. Entweder beißen sie sich die Fingernägel ab oder lassen sie wachsen, bis sie gefährlich werden.

„Das sieht übel aus.", brummt Chuck.

Clint, der andere Sani, setzt sich neben Kate. „Muss vielleicht amputiert werden."

Chuck ist der Einzige, der auflacht, doch Kate findet das überhaupt nicht mehr witzig. Sie findet nichts hier mehr witzig. Ebenso findet dies Ann und Jeff so, welche sehr ernst bleiben.

„Reich mir mal den Verband.", murmelt dieser bloß, was Clint dann auch tut. Jeff nimmt den Verband auseinander und schaut kurz zu Kate. „Keine Sorge. Er will immer gleich amputieren."

Dann kommt Alby noch dazu. „Wie geht es ihr?"

„Ihr geht's gut.", antwortet Jeff und klopft Kate auf die Schulter. „Das wird schon wieder. Infizier dich einfach nicht."

„Danke.", lächelt Kate ihn an, als er die Wunde fertig verbindet hat.

Die Sanis verschwinden in ihrer Hütte und Alby setzt sich neben Kate. „Alles in Ordnung?"

„Ja."

„Ja, es ist nur viel auf einmal." Wie Recht du doch hast, denkt sich Kate dabei. „Und das in deiner ersten Woche."

Währenddem Chuck etwas aus Holz schnitzt, setzt sich Ann auf einen Stuhl. Alby ist die ersten zwanzig Sekunden ruhig und die beiden Mädchen und Chuck halten den Mund, wobei Chuck total in seiner Schnitzerei vertieft ist und die Mädchen Alby nicht noch mehr nerven wollen.

Aber, als Alby immer noch nichts rausbekommt, unterbricht Ann die Stille. „Was ist denn mit ihm passiert?"

„Das ist die Verwandlung. Das passiert, wenn jemand gestochen wird." Alby seufzt. „Hört zu... Wir können aus Ben kein einziges klares Wort herausbringen, es ist zwecklos. Versteht ihr, er redet nur wirres Zeug und es wird sicher noch schlimmer. Diese Infektion ist ansteckend. Er ist gefährlich."

Während er den beiden Mädchen dies erklärt, wird ihnen so einiges klar. Dann dreht sich Alby zu Kate um.

„Was hat er zu dir gesagt?"

Kate schaut ihn an, dann starrt sie wieder zu Boden und nimmt Luft, doch es kommt kein Wort raus. Sie versucht sich genau daran zu erinnern, was Ben zu ihr im Wald gesagt hat, als sie es auch wieder weiß. Sie will Alby auf keinen Fall anlügen, denn sie hat das Gefühl, dass es besser sei hier und jetzt die Wahrheit zu sagen, wenn sie schon etwas Klarheit in diese Welt schaffen will.

„Er sagte, dass er mich gesehen hätte. Dass das alles meine Schuld wäre..." Sie schaut zu Alby, den Tränen nahe. „Wie kann das alles meine Schuld sein?"

Man hört in ihrer Stimme einen Hauch von Schluchzen. Alby runzelt die Stirn, schaut nachdenklich zu Boden und dann wieder zu ihr. Dann steht er auf, beißt sich auf die Lippe und klopft Kate auf die Schulter.

„Ruh dich ein bisschen aus."

„W-w-warte, Alby?", stottert Kate.

„Ja?"

„Was wird jetzt aus ihm?"

Alby wirft Chuck einen Blick zu, als hätten sie ihre Gedanken telepathisch gesendet. Von Chuck bekommt er bloß ein Nicken zurück. Dann verschwindet Alby wortlos und geht auf die Lichtung zu, wo er in eine Holzhütte geht und die Tür fest hinter sich zuknallt. Irgendetwas macht ihn zu schaffen, das wissen sie genau. Dann hören sie die Jungen mit langen hölzernen Stäben mit seltsamen Enden zu einer Öffnung des Labyrinthes gehen. Kate und Ann stehen auf und gehen zum Ausgang der Hütte, wo sie zur Öffnung des Labyrinthes schauen und das Ganze mit sehen.

„Kommt.", sagt Chuck leise, als will er nicht, dass sie das mit sehen.

Alle Jungen stehen dort und umkreisen die Öffnung – andere halten Holzspeere in der Hand und, als die beiden Mädchen immer näher gehen, ist Chuck gezwungen ihnen zu folgen. Hinter ihnen kommt Alby gerannt. Und von weitem erblicken alle Minho, der den gefesselten Ben zu ihnen zerrt. Bens Hände sind hinter seinem Nacken gefesselt, wobei der Knoten um seinen Bauch gemacht wurde. Er wimmert von weitem schon, das kann jeder hören.

„Hör mir zu! Hör mich doch einfach nur zu... Bitte Minho!"

Minho drückt ihn vor die Öffnung des Labyrinthes, schneidet ihm die Seile durch, sodass Ben auf die Knie fällt und Blut spuckt. Kate ist wie gelähmt vor Entsetzen – sie kann einfach nichts gegen das Gefühl tun, dass sie irgendwie verantwortlich dafür ist, auch wenn sie nichts getan hat, um Ben zu provozieren. Aber wie kann es ihre Schuld sein? Ihr fällt kein Grund ein, aber schuldig fühlt sie sich trotzdem. Es ist ein schreckliches Gefühl.

„Bitte, Alby!", fleht Ben mit einem so jämmerlichen Stimmchen.

Alby verzerrt das Gesicht und versucht seine Gefühle zu unterdrücken. Ben weint, doch es kommen keine Tränen aus seinen dunkel-schwarzen Augen.

„Nein, nein... Bitte, nicht."

Jedes Wort des Jungen ist für Kate wie ein Faustschlag in die Magengrube, bei dem sie sich immer schuldiger und verwirrter fühlt. Alby gibt keine Antwort und Minho stellt sich neben ihn. Als ein lautes Grollen vom Labyrinth kommt und die Luft jedem ins Gesicht zieht, zucken Kate und Ann zusammen. Ein schrilles Kreischen wird von den Rumpeln des Tors übertönt, das sich zu schließen beginnt. Funken sprühen, als sich das Gestein der gigantischen Mauern nach innen schieben. Der Boden unter ihren Füßen bebt, als die Lichtung für die Nacht verschlossen wird.

„Rücken!", schreit Alby und die Jungen richten ihre Speere auf Ben, welcher versucht aufzustehen und auf seinen zwei Beinen hin und her schwankt.

Chuck kann das Ganze nicht mehr mitansehen und geht als Einziger zurück. Kate kann nicht einfach gehen, dazu hat sie zu schwere Schuldgefühle und bleibt da, um es als eine Bestrafung zu sehen.

„Vorwärts!", schreit Alby.

Ben ist umzingelt und der einzige Weg, um von den Speeren zu entkommen, ist das Labyrinth, das beginnt sich langsam zu schließen.

„Nein, nein, nein, nein, nein!", sagt Ben immer wieder. „Bitte, nicht! BITTE!"

Ein erstickter Schrei kommt aus Bens Kehle, der lauter als das Donnern des sich schließenden Tors ist.

„Neeeeeiiiiiinnnnn!", schreit er weiter und will die Speere abwenden, doch die Jungen rücken ihn immer enger zusammen.

Die Mauern sind schon fast zu und Ben versucht mit den Füßen sich an der Schwelle abzustammen, was ihm nur den Bruchteil einer Sekunde hilft, dann wird er von der Stange mit einem Ruck in den kleinen Spalt gedrückt. Er läuft ins Labyrinth hinein, da er sonst von den Mauern zerquetscht wird und schreit jetzt, pausenlos, ein Klang, der so in den Ohren hallt, dass Kate und Ann sich fast die Ohren zuhalten, aber es nicht tun. Es ist ein tierischer, irrer Schrei, der dem Jungen garantiert die Stimmbänder verreißen würde. Seine letzten Schreie sind nicht mehr zu hören, als die Wände sich mit dem fürchterlichen Knall schließen. Dann wird es abrupt still, als hätte es niemals einen Ben gegeben. Kate macht die Augen ganz fest zu und merkt erstaunt, dass ihr Tränen die Wangen herunter kullern. Dass das alles passiert, ist ihre Schuld.

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