Kapitel 4:
Sie klettern wieder nach unten zu Chuck, welcher sich als dieser junge, pummelige Junge von zwölf oder dreizehn Jahren entpuppt. Er ist mitten im Stimmbruch, weshalb seine Stimme sich so seltsam anhört.
„Frischlinge, das ist Chuck.", lächelt Alby. „Er kam als Letzter an, also darf er sich um euch kümmern."
Chuck lächelt die beiden Mädchen an und hat jede Menge Zeug in seinen Händen. Außerdem hält er Decken für den Schlafplatz der Mädchen bereit.
„Freut mich euch kennenzulernen.", lächelt er und wechselt den Blick zwischen den zwei Mädchen. „Das ist euer Zeug. Ich hab' euch ein tolles Fleckchen neben meinem ausgesucht."
Na toll, denkt sich Ann. Chuck schmeißt den beiden Mädchen die Decken entgegen, wobei die zwei Jungen kurz auflachen.
„Habt ihr schon einen Namen?", fragt Chuck.
„Ich heiße Ann."
Chuck schaut zur Brünette und wartet auf eine Antwort, bekommt aber bloß ein Achselzucken zurück.
„Keine Sorge, das dauerte bei mir auch eine Weile. Das ist bei jedem anders. Oder, Alby?"
„Ja, das stimmt, Chuck."
Plötzlich kommt ein Knallen in der Ferne zu hören, als hätte jemand zwei Pfannen aneinander geschlagen.
„Essenzeit.", murmelt Alby und legt dann seinen Arm um den kleinen Jungen. „Chuck, du kümmerst dich um die Neulinge, ok? Du weißt, was zu tun ist."
„Ja, Sir Alby.", lächelt Chuck fröhlich.
Den beiden Mädchen fällt auf, wie optimistisch er damit umgeht sich um zwei junge Frauen zu kümmern. Alby verabschiedet sich von den beiden und überlässt sie dann Chuck.
„Ihr seht total erledigt aus.", sagt Chuck, als er sie mustert und vor geht. „Kommt!"
Er führt sie an den Rand des Waldes, wo gleich mehrere Hängematten – Ann zählt sie und es sind insgesamt zwölf – nebeneinander hängen. Chuck macht das Seil seiner Hängematte strammer und redet ununterbrochen, währenddem die Brünette ihm genau zuhört und Ann immer noch ziemlich neugierig auf die Öffnung der Mauer blickt.
„Im Prinzip haben wir alle das Gleiche erlebt. Wir wachen auf in der Box, Alby führt uns herum und da wären wir nun."
Er dreht den beiden den Rücken zu und die Brünette sieht ihm genau dabei zu, wie er sich so anstellt und er gefällt ihr. Sie findet ihn mit seinen wuscheligen Haaren, der gereizten Stimme und seinem Übergewicht irgendwie niedlich.
„Keine Sorge, ihr stellt euch besser an, als ich. Im Loch habe ich mir dreimal die Hosen voll geklonkt bevor ich rauskam."
„Was ist denn Klonk?", fragt die Brünette neugierig.
„Ach, ein anderes Wort für ‚Scheiße'. Du weißt doch vielleicht, das Geräusch auf dem Klo, wenn du mal musst. Das macht auch Klonk."
Sie versteht ihn allmählich. Plötzlich zuckt Chuck zusammen. „Oh nein!", brummt er wütend und läuft an ihr vorbei.
Die Brünette folgt Chucks Blick und sieht Ann, die schon gute zwanzig Meter entfernt ist und die beiden es nicht mal bemerkt haben, dass sie weg gegangen ist. Sie folgt Chuck, welcher versucht Ann zu erreichen.
„Hey, wo willst du hin?", fragt Chuck Ann außer Puste, als er sie einholt.
„Ich will's mir nur mal sehen."
„Du kannst dich hier so viel umsehen, wie du willst, aber geh nicht da raus."
„Warum nicht? Was ist da draußen?" Ann wird auf das Thema, was da draußen ist, immer neugieriger.
„Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, was man mir erzählt und wir dürfen hier nicht rausgehen."
Ann seufzt und platzt fast vor Neugier. Gerade in diesem Moment kommen von der Öffnung zwei Jungen herausgelaufen, ein Asiate und ein blonder Junge. Beide sind ziemlich groß und Ann fällt ein, dass sie die beiden bereits gesehen hat: den Asiaten bei der Box und der andere ist der Junge, der sie zu fassen bekam, als sie weglaufen wollte. Als sie an ihnen vorbeilaufen will, bleiben die beiden abrupt stehen.
„Hey Chuck, wie schlagen sie sich?", fragt der Asiate.
„Besser, als bei mir. Aber es ist seltsam, dass es Mädchen sind."
„Was ist daran so schlimm?", fragt die Brünette jetzt, denn ihr wird so langsam die Haare grau vor der Verwirrung, dass die Jungen keine Mädchen erwarten.
„Wir sind keine Mädchen hier gewohnt.", brummt der Blonde und läuft dann an ihnen vorbei, doch der Asiate bleibt bei ihnen stehen.
„Willkommen auf der Lichtung."
Er hält ein ausdrucksloses Gesicht vor den beiden Mädchen und rennt dem blonden dann hinterher. Als sie etwas weiter weg sind, platzt Ann fast der Kragen und ihre Fragen drücken ihr gegen den Schädel.
„Ich dachte, niemand darf hier raus.", meint Ann verwirrend.
„Ich habe gesagt wir dürfen hier nicht raus. Die sind anders, das sind Läufer. Die wissen mehr über das Labyrinth, als wir alle."
Die beiden Mädchen werfen sich schockierte Blicke zu, als hätten sie etwas falsch verstanden.
„Warte, was?", flüstert Ann.
„Was?", brummt Chuck.
„Was? Du hast gesagt Labyrinth...", murmelt die Brünette dazwischen und will die Antwort jetzt aus Chucks Mundwerk hören.
„Was echt?"
„Ja."
Ann wird das zu viel. Entweder entpuppt sich Chuck als ein Blödmann oder er hat nur ein Kurzzeitgedächtnis. Sie geht weiter zu der Öffnung, das zu dem angeblichen Labyrinth führt und Chuck versucht sie wieder davon abzuhalten.
„Wo gehst du hin? Was soll das?"
„Ich will's mir nur mal ansehen."
„Ich sagte doch, das darfst du nicht. Keiner geht da raus. Schon gar nicht jetzt... es ist zu gefährlich."
„Okay, in Ordnung. Ich werde nicht rausgehen.", murmelt Ann, als hätte sie ihm überhaupt nicht zugehört.
Chuck schubst sie gegen die Schulter, doch das hält Anns Neugier nicht davon ab. Die Brünette wird mit jedem Schritt zum Ausgang der Lichtung ebenfalls neugieriger, bleibt aber regungslos bei Chuck stehen, währenddem Ann sich mit kleinen Schritten immer der Öffnung nähert. Die Gänge sehen düster aus, die Wände sind voll mit Efeu geschmückt und am Ende des Ganges erblickt sie eine Kreuzung, wo es zu allen Seiten hinführt. Tatsächlich, ein Labyrinth. Chuck hat Recht, denkt sich Ann dabei.
Die Brünette zuckt erschrocken zusammen, als sie jemanden erblickt, der mit voller Wucht auf Ann zugeht und sie mehrere Meter auf den Boden schubst oder besser gesagt schleudert.
„HEY!"
Ann liegt auf dem Boden und entdeckt den Jungen, den sie aus der Box schmiss. Dieser nicht gut aussehende Junge, mit seinen blonden kurz geschorenen Haaren und einem dünnen Augenbrauen. Und vor allem mit diesem seltsamen Gesicht. Es ist der Junge, der sie aus der Box schubste.
„Wir müssen uns fürs nächste Mal was Neues ausdenken.", murmelt er genervt.
„Lass mich in Ruhe.", schreit Ann ihn an und steht sofort auf.
„Ganz ruhig, bleib ruhig, man!"
Die Brünette dreht sich um und sieht, dass Ann und der Junge nur die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, denn jeder bemerkt sie und lässt augenblicklich ihre Sachen fallen, um zu ihnen zu rennen.
„Reg dich ab, reg dich ab! Ganz ruhig!"
„He...", schnappt Ann nach Luft. „Was zum Teufel ist los mit euch?!"
„Beruhige dich wieder, in Ordnung?", sagt Newt, als er vor ihr steht. Er hebt die Hände in die Höhe, um zu zeigen, dass er ihr nichts tun will.
„Nein! Warum sagt ihr mir nicht, was da draußen ist?!", schreit Ann immer noch laut, währenddem die anderen mit einem normalen Ton auf sie eingehen.
„Wir wollen dich nur beschützen.", sagt Alby.
„Ist nur zu deinem Besten.", fügt Newt hinzu.
„Ihr könnt mich nicht einfach hier festhalten!"
„Wir können dich nicht gehen lassen!"
„WARUM NICHT?"
Plötzlich hallt durch die Luft ein lauter Knall, der die Mädchen zusammenfahren lässt. Dann folgt ein grässlich knirschendes, malmendes Geräusch. Ann taumelt zurück und fällt fast zu Boden. Die ganze Erde bebt; voller Panik sehen sie mit den anderen sich um. Die Wände schließen sich – und schließen sie auf der Lichtung ein. Eine fürchterliche Platzangst lähmt ihnen und drückt ihre Lungen zusammen, als wären sie unter Wasser.
„Was zur Hölle?", murmelt Ann ohne Verstand.
Sie konzentrieren sich ganz und gar auf das Schließen der Tore. Zitternd tretet Ann jetzt ein paar Schritte zurück, damit sie besser sehen kann, was ihre Augen zu glauben weigern. Die gigantische Steinmauer zu ihrer Rechten scheint jedes physikalische Gesetz außer Kraft zu setzen, gleitet über den Boden und wirbelt Funken und Staub auf, als Stein an Stein reibt. Das mahlende Geräusch geht ihnen durch und durch. Wie die beiden Mädchen sehen, bewegen sich beide Mauern aufeinander zu, wo sie sich mit ihren herausragenden Zapfen in die Löcher auf der anderen Seite bohren. Sie sehen sich nach den anderen Toren um. Es ist ein Gefühl, als würden ihre Köpfe sich schneller als ihre Körper bewegen, und der Magen dreht sich ihnen vor lauter Schwindel um. Auf allen vier Seiten der Lichtung bewegen sich beide Seiten der Mauern aufeinander zu und verschließen die Öffnung. Unmöglich, denkt die Brünette. Wie kann so etwas nur funktionieren? Ann kämpft den Drang nieder, hinaus zu rennen, sich an den zu rumpelnden Mauerungetümen vorbei zu schlängeln, bevor sie geschlossen sind, und aus der Lichtung fliehen. Die Vernunft siegt – im Labyrinth kennt sie sich noch weniger aus, als mit der Situation hier. Beide Mädchen versuchen zu begreifen, wie es funktioniert. Ungeheuer dicke Steinmauern, über mehrere Meter hoch, die sich wie gläserne Schiebetüren bewegen. Sie sehen zu, wie die Wände ihr Ziel erreichen, die Bolzen ihre Öffnung finden und ohne jeden Widerstand hinein gleiten. Ein lauter Knall hallt über die Lichtung, als alle vier Tore verschlossen sind.
Die Brünette spürt einen letzten Augenblick der Erschütterung, dann ist die Furcht wie weggeblasen.
„Nächstes Mal, da lass ich dich gehen.", brummt der Junge wütend, der Ann weggeschleudert hat und geht an ihr vorbei wieder zurück zur Lichtung, wobei ihm alle Jungen folgen. Alle, außer die Brünette, die es, wie Ann, immer noch nicht fassen kann, was sie gerade gesehen hat.
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