Kapitel 9: Flurbegegnungen
Als Clint die Wohnung der Zwillinge verließ, war es bereits kurz vor acht. Der Flur war dunkel, als die Tür seiner Nachbarn hinter ihm ins Schloss fiel. Müsste es hier nicht einen Bewegungsmelder geben?
Er hob seinen Arm und schwenkte ihn durch den Flur, und tatsächlich sprang das nächstgelegene Licht mit einem leichten Klimpern an.
Die Lampe brummte.
Erleichtert über die Helligkeit wollte Clint sich zu seiner eigenen Wohnung aufmachen, verharrte aber in der Bewegung.
Wenn er schon einmal hier draußen war . . .
Er drehte sich auf dem Absatz um und folgte dem Gang in die entgegengesetzte Richtung.
Was hatte Steve doch gleich gesagt?
Er wohne am Ende des Flurs?
Clint hatte nicht vor, bei Steve zu klingeln und ihn zu besuchen, dafür war es seiner Meinung nach doch schon etwas zu spät.
Außerdem wollte er nicht unbedingt unangekündigt bei ihm hereinschneien. Er wollte einfach nur mal schauen.
Er hatte das komische Gefühl, das tun zu müssen, als würden sich damit ein paar seiner Fragen beantworten lassen. Und Antworten auf eben diese Fragen benötigte er.
Während seines Besuches bei den Maximoffs war kein einziges Wort über das Geschehene am Tag zuvor gefallen. Wieso hatten sie so getan, als hätten sie Steves Schatten nicht gesehen?
Und wieso hatte Steve am Tag seiner Ankunft das Gleiche getan?
Clint schüttelte leicht den Kopf, etwas verärgert darüber, dass er die Gedanken darüber nicht loswerden konnte.
Es ging ihn nichts an, selbst wenn er sich mit der gesamten Freundesgruppe gut verstand.
Das hieß aber noch lange nichts.
Letzten Endes war er immer noch ein Außenstehender, der wohl unbeabsichtigt über ein Tabuthema gestolpert war.
Nur warum wollte – oder durfte – keiner darüber sprechen?
Das verstand er nicht.
Clint bezweifelte zwar auch, dass sich sein Horizont erweitern würde, wenn er sich Steves Tür besah, aber er ging seinem Gefühl, das wirklich machen zu müssen, trotzdem nach.
Für einen kleinen Umweg hatte er schließlich trotzdem Zeit.
Passieren würde ja sicherlich nichts. Ungefähr nach fünf Schritten ging in einem anderen Flurabschnitt das durch Bewegungsmelder gesteuerte Licht an, sodass er nicht im Dunkeln lief.
Er hätte selbstverständlich auch einfach den Lichtschalter neben der Treppe benutzen können, dann würde es nicht jedes Mal so laut knacken und knistern, wenn eine neue Lampe aufflackerte, aber daran hatte er natürlich nicht gedacht.
Am Ende des Flurs angekommen besah sich Clint die Klingelschilder neben den Türen.
Weil er sich dabei relativ viel Zeit ließ, und sich somit etwas langsam bewegte, musste er ab und zu wieder den Arm heben und hin und her schwenken, um eine Bewegung zu stimulieren, damit das Licht an blieb.
Er wollte schließlich nicht im Dunkeln stehen.
In der Wand, in welcher der Flur endete, war ein Fenster eingelassen, durch welches noch schwach das gelbliche Licht der Straßenlaternen fiel, die weiter unten an der Straße standen und die Parkplätze am Straßenrand beleuchteten.
Ob er wohl sein Auto von hier oben sehen konnte?
Clints Neugier war geweckt.
Er ließ die Klingelschilder für einen Moment Klingelschilder sein und lief zum Fenster.
Die Scheibe war nicht unbedingt sauber. Fettflecken, Staub und gut sichtbare Fingerabdrücke zierten das Glas, was bewies, dass dieses Fenster nicht oft sauber gemacht wurde.
Interessiert sah er nach draußen.
Man hatte von hier nicht die gleiche Sicht wie von seinem Balkon aus, so viel stand fest.
Aber wenn er sich richtig anstrengte, konnte er sein Auto tatsächlich sehen. Und was brachte ihm das?
Eigentlich nichts.
Clint wandte sich wieder den Klingelschildern zu.
Die Tür, die links neben dem Fenster lag, war die letzte ihm Gang.
Das musste dann ja die von Steve sein. Das Schild gab ihm die Bestätigung.
S. Rogers/J. Barnes
Rogers, das war der richtige Nachname von Steve, daran erinnerte er sich.
Er hatte sich Clint mit vollem Namen vorgestellt und er hatte das erwidert. Aber wer um alles in der Welt war ‚J. Barnes'?
Steves Schatten womöglich?
Obwohl, Steve könnte auch eine weibliche Mitbewohnerin haben.
Er sollte auf keinen Fall voreilige Schlüsse ziehen, denn das konnte zu Missverständnissen führen, auf die er verzichten konnte.
Clint kratze sich nachdenklich an der Nase.
Jetzt stand er hier und was hatte es ihm gebracht?
Nichts, genau wie angenommen.
Mit der Ausnahme, dass seine Füße langsam kalt wurden.
Das Licht ging wieder aus.
Da er nun neben dem Fenster stand und in den Flur blicken konnte, erschien ihm dieser auf einmal unendlich lang und dunkel.
Das wurde langsam gruselig.
Clint setzte sich in Richtung seiner eigenen Wohnung in Bewegung.
Es war an der Zeit für ihn, sich in seine vier Wände zurückzuziehen.
Auf seinem Weg zurück flackerten die von Bewegungsmeldern in Gang gesetzten Lichter wieder auf, während die Lampen leise brummten.
Die Stille, abgesehen vom Klang seiner Schritte und seines Atems, war unheimlich.
Clint schauderte es leicht.
Er verharrte auch mitten in der Bewegung, als unten die Tür aufging und Schritte die Treppe nach oben kamen.
Er fühlte sich an den Tag seiner Ankunft zurückversetzt, nur dass er heute keine Kartons dabei hatte.
Und es schien sich außerdem auch nur eine Person auf der Treppe zu befinden. Das konnte eigentlich jeder sein.
Jemand aus den Etagen unter ihm oder jemand aus seinem Stockwerk, den er nur noch nicht kannte.
Clint ging die letzten Meter zu seiner Wohnung langsamer, als wie er zuvor durch den Flur gegangen war.
Er ließ sich mit Absicht Zeit, weil er wissen wollte, ob er die Person auf der Treppe ganz, ganz zufällig kannte. Während er nach seinen Haustürschlüsseln kramte, war der Treppensteiger irgendwo auf den letzten Stufen angekommen und es war unverkennbar, dass dieser jemand auf gleicher Höhe mit ihm wohnte – oder zumindest hier entlang wollte.
Clint hörte es leise klicken, als der Lichtschalter betätigt wurde, damit die Beleuchtung im Flur dauerhaft an blieb. Fast gleichzeitig hatte er seine Wohnung aufgeschlossen.
Um nicht zu neugierig zu wirken, wartete er einen Moment, ehe er sich umdrehte und einen Blick auf die Person im Flur warf.
Er wäre fast umgefallen, so überrascht war.
Steves Schatten, er war es ganz sicher! Jetzt, wo niemand da war, der ihm weiß machen wollte, er würde nicht existieren, hatte Clint Zeit, ihn in Ruhe zu mustern.
So wie er das einschätzte, konnten sie etwa gleich groß sein.
Der Andere trug dunkle Kleidung und hatte die Hände tief in den Jackentaschen vergraben.
Seine Haare waren braun, so wie er das nach dem Licht beurteilen konnte, und ziemlich lang.
Clint wollte sich von seinem Anblick losreißen, weil es unhöflich war zu starren, aber er konnte sich dazu nicht aufbringen.
Erst, als Steves Schatten tatsächlich in der letzten Wohnung im Flur verschwand, konnte er den Blick abwenden.
Er schien ihn nicht bemerkt zu haben, was vielleicht ganz gut so war.
Hiermit sah er seine Vermutung bestätigt, dass Steves Schatten nun endlich einen Namen hatte.
J. Barnes.
Eine neue Information, die zur Lösung des Rätsels beitragen könnte – aber erst einmal nur noch mehr Fragen aufwarf.
(Sonntag)
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