Kapitel 22: Ameisenfanatiker

Am anderen Ende der Leitung vernahm Clint wieder die Stimme eines kleinen Mädchens. Er vermutete, dass es sich dabei um Scotts Tochter handeln musste, welche er den einen Abend im Auto hatte sitzen sehen. 

„Mein Papa ist beschäftigt.", erklärte die Kleine und bestätigte damit seine Vermutung, Scotts Kind zu sein. 

„Was genau macht er denn?", fragte er interessiert. Vielleicht konnte er so ein bisschen Wartezeit überbrücken. 

„Oh er füttert die Ameisen!", rief das Mädchen begeistert aus. Dass der geschiedene Vater eine ernsthafte Beschäftigung in den kleinen, fleißigen Arbeitertierchen gefunden hatte, war Clint ja bereits bekannt. Trotzdem tat er überrascht. Er mochte Kinder sehr gern, und sie ihn aufgrund seiner zerstreuten Art auch, und bis Scott zur Verfügung stand würde es sicher noch ein bisschen dauern. 

„Ameisen?", fragte er darum. 

„Ja!", antwortete Cassie mit aufgeregter Stimme. 

„Wie verrückt! Ich habe noch nie gehört, dass jemand Ameisen bei sich zu Hause hat. Sie krabbeln doch sicher überall herum!" 

„Und wie. Aber nur in ihren Glaskästchen. Warte, Papa hat mir gesagt, wie die heißen.", sie hielt kurz inne und überlegte sich das Wort, „Terrarien! So heißen die. Da sind unsere Ameisen drin." 

Clint musste unweigerlich ein bisschen lächeln. „So ein wahnsinnig schwieriges Wort hast du dir gemerkt, das ist toll. Hast du auch eigene Ameisen?" 

Cassie kicherte erfreut über sein Kompliment. „Ich habe sogar schon zwei Glaskästen voll! Soll ich dir etwas über sie erzählen?", wollte sie anschließend wissen. 

Natürlich sagte Clint nicht nein. Und so kam es, dass er sich von einem kleinen Mädchen erklären ließ, wie es auf einer Ameisenfarm so ablief. Was genau Scott mit den Ameisen eigentlich bezweckte, wollte Cassie ihm aber nicht verraten, denn es sei ein „Ganz, ganz wichtiges Geheimnis" und sie hätte mit heiligem Indianerehrenwort darauf geschworen, niemandem es zu sagen. 

Eins musste Clint Scott auf jeden Fall lassen, er hatte seine Tochter sehr gut erzogen. Sie war höflich, zuvorkommend und wirkte sehr liebenswert. Wenn er selbst ein Kind gehabt hatte, wäre ihm das sicher nicht so gut gelungen. 

Er hatte keine Ahnung, wie viele Minuten sie über die Ameisen gequatscht hatten, bis im Hintergrund eine dumpfe Stimme wahrzunehmen war, die Cassie dazu aufforderte, doch endlich das Telefon wegzulegen. Das hieß dann wohl, dass die Dinge jetzt ernst wurden. 

„Aber Papa, der Mann hat doch extra für dich angerufen! Und er hat nach den Ameisen gefragt.", sagte das Mädchen empört, als wäre einfach aufzulegen nicht die feine Art. Womit sie natürlich Recht hatte. 

„Dann verabschiede dich und gibt mir den Hörer, ja Peanut?" 

Die Kleine gab bei und brüllte Clint ein lautes „Tschüssi!" ins Ohr, während sie das Telefon der Langs weiterreichte. Dem Hobbybogenschützen blieb wenig Zeit, um die Verabschiedung zu erwidern, als sich der eigentlich für den Anruf angesehene Mann am anderen Ende der Leitung meldete. 

„Ja bitte?" Scott klang entsetzlich müde und abgekämpft. Clint fühlte sich ein wenig schlecht, weil er seine Zeit nicht sinnlos in Anspruch nehmen wollte. Allerdings mussten bald mal einige Dinge geklärt werden, sonst würde er in einer Spirale von Grübeleien und ermüdenden leeren Ausreden gefangen werden. 

„Clint Barton hier. Du weißt schon, ich wohn bei den Zwillingen und Steve im Haus.", begann er. „Hättest du vielleicht kurz Zeit, um mit mir über etwas Wichtiges zu reden?" 

Für einen Moment herrschte Stille. 

„Clint?", fragte Scott dann, wobei er plötzlich merkbar angespannt klang, „bist du allein?" 

Verwirrt wegen dieser Frage drehte sich der Blonde in seiner Wohnung vom Fenster weg und ließ den Blick schnell quer durch den Raum wandern. Es fühlte sich paranoid an, denn er wusste ja eigentlich, dass er momentan hier die einzige Seele war. 

„Ja. Keiner hier außer mir." 

„Gut." Scott atmete leise aus, dann erklangen Schritte und ein leises Rauschen, als würde er sich bewegen. „Worum geht's?", wollte er anschließend wissen, als wieder Ruhe eingekehrt war. Seine Stimme glich fast einem Flüstern, so leise sprach er. Hatte er Angst, dass Cassie mithörte? 

„Um etwas, das du mir vor einer Weile gesagt hast. Wegen Steve und Sam." Er wartete gespannt darauf, welche Wirkung die Worte auf seinen Gesprächspartner hatten. 

„Ich verstehe. Möglicherweise hast du einige Fragen, die du dir nicht beantworten kannst." Er zögerte kurz, wie um sich zu sammeln, „Hör zu, ich möchte das nicht am Telefon besprechen. Hast du nächste Woche Zeit? Vielleicht am Donnerstag?" 

Clint nickte, bis ihm einfiel, dass Scott das ja gar nicht sehen konnte. „Ich könnte da was einrichten.", sagte er daher hastig. 

„Gut. Dann Donnerstag, gegen zweiundzwanzig Uhr am Bahnhofsviertel. Dort, wo sie den alten Wasserturm weggesprengt haben steht ein Haus aus gelbem Backstein, das müsstest du finden. Falls ich nicht da sein sollte", er holte tief Luft, wie um sich für einen mentalen Kampf bereitzumachen, „dann ist das Codewort „Springerameise". Hast du das verstanden?" 

Die Eindringlichkeit, mit der Scott seine Worte sagte, ließen keinen Zweifel daran, dass die Sache noch größere Ausmaße annahm, als Clint jemals hätte ahnen können. Und er war ehrlich, es beunruhigte ihn. 

„Donnerstag, zweiundzwanzig Uhr, gelbes Haus im Bahnhofsviertel, Springerameise.", ratterte er dennoch die genannten Anweisungen herunter, ein wenig verdutzt über seine guten Merkfähigkeiten. 

„Mach bis dahin nichts Auffälliges. Halt dich zurück, sprich wenn möglich mit keinem – lass dir das aber ja nicht anmerken! Du hast dich echt zu einem ungünstigen Zeitpunkt gemeldet, Clint. Die Sache ist gerade brenzlig. Bis Donnerstag." Damit legte Scott auf. 

Verdutzt ließ Clint das Telefon sinken. Ihm gefiel diese ernste Seite nicht, die dem sonst so Scherze reißenden Mann angehaftet war. Und wieso immer diese Warnungen, er solle sich unauffällig verhalten? In wessen Fokus sollte er auf keinen Fall hineingeraten? Und welche Sache meine Scott überhaupt? 

Eins war klar, Clint hatte sich mit dem Anruf keinen Gefallen getan. Jetzt musste er bis nächste Woche warten, und in der Zeit konnte viel passieren. 

Mit einer unangenehmen Unruhe im Herzen stellte er schließlich sein Telefon in die Ladestation zurück und zog die Rollos vor den Fenstern herunter. Dann machte er Licht und wandte sich seiner Arbeit zu, die vergessen auf dem Boden verstreut lag. 

Während er jetzt sein Bett zu Ende bauen würde, hatte er noch jede Menge Zeit, um in Ruhe über das Telefonat nachzudenken und sich über die Ereignisse der nächsten Woche Szenarien auszumalen. Vielleicht würde ihm dieses Treffen mit Scott neue Erkenntnisse bringen. Er hoffte es, denn langsam mussten mal Antworten auf diesen unendlich großen und stetig weiterwachsenden Fragenberg her. 

(Freitag)

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