Kapitel 18: Dünne Wände, dünne Türen

Clint versuchte seine Gedanken in der Stille des Flurs zu sammeln und zu ordnen. Pietro hatte versucht ihn zu küssen. Allein diese Tatsache war so merkwürdig, dass ihm die ganze Situation auf einmal sehr unwirklich vorkam. War es wirklich passiert, oder bildete er sich irgendetwas ein? Clint zweifelte nicht an seiner Wahrnehmung, also nahm er an, dass sich alles tatsächlich ereignet hatte. Wie sollte er denn nun den Zwillingen in Zukunft gegenüber treten? Eins war ihm klar, er würde erst einmal Abstand zu Pietro halten . . . oder war es besser, über alles so schnell wie möglich zu reden und die Sache zu klären? Er wusste nicht, was genau der bessere nächste Schritt war, den es zu gehen ging. Ein Rückzug? Oder doch lieber das Gespräch suchen? Er versuchte sich zu sagen, dass er sich heute darüber keine Gedanken mehr machen musste, und morgen weiter nachdenken und anschließend eine Entscheidung treffen konnte. Aber es war schwierig, sich von seinen Gedanken abzubringen, wenn man einmal dabei war. Clint seufzte leise in sich hinein und überlegte stattdessen, ob er zurück in seine Wohnung gehen sollte. Vielleicht war es besser, dort fand er sicherlich mehr Ablenkung, als hier im Flur. Aber sein Körper reagierte nicht. Er blieb dort einfach auf dem kalten Boden sitzen, den Rücken an irgendeiner fremden Tür und das Licht vom Fenster zur Hälfte in seinem Gesicht. Es war beinah, als würde ihn etwas zurückhalten und ihm sagen, dass er warten sollte. Nur worauf? Das Pietro ihm doch noch folgte? Nein, das wollte er nicht. Aber was dann? Nach einigem Hin und Her beschloss er, einfach noch ein bisschen abzuwarten. Und da er am nächsten Morgen glücklicherweise nicht allzu früh aufstehen musste, konnte er es sich leisten, noch ein bisschen länger hier zu verweilen. Vor Steves und Buckys Tür. Als hätte er nichts Besseres zu tun, als sich am späten Dienstagabend bei seinen Hausmitbewohnern vor deren Türen zu hocken und dann ewig darauf zu warten, dass irgendetwas passierte. Das klang, als wäre er verrückt! Clint bewegte sich trotzdem nicht. Es verging fast eine halbe Stunde, in der er einfach nur weiter so dasaß und versuchte, seine Gedanken nicht zu Pietro und ihrem Beinah - Kuss wandern zu lassen. Stattdessen überlegte er, wann Lauras Telefonanschluss endlich funktionieren und sie sich wieder auf einem schnellen Weg austauschen konnten. Eigentlich müsste er sich auch mal wieder bei Natascha melden, eine sehr gute Freundin von ihm, an die er in der Zeit seines Umzugs kaum noch gedacht hatte. Das lag hauptsächlich daran, dass auch sie weggezogen war, zurück in ihre Heimat Russland. Und dann kamen seine Gedanken – wie sollte es denn auch anders sein – schließlich auch auf Bucky. Und mit Steves mysteriösem, und zweifelsohne attraktiven, Freund beschäftigte er sich tatsächlich den Rest der Zeit. Und dann, als ob es eine seltsame Fügung des Schicksals war, wurde es laut hinter der Tür von den beiden. Clint richtete sich automatisch etwas mehr auf, Anspannung kroch in seine Muskeln. Er hörte die Stimmen von den beiden Männern, laut und hektisch, wobei es ihm so schien, als wäre Steve tatsächlich der lautere. Es klang nach einer Diskussion, wenn nicht sogar nach Streit. Und das von einem Moment auf den anderen. Er konnte natürlich keine genauen Worte verstehen, aber es fühlte sich trotzdem so an, als würde etwas belauschen, dass ihn nichts anging. War es das, worauf er gewartet hatte? Ein Streit? Egal ob das nun stimmte oder nicht, er wollte ungern weiter zuhören, wie sich die beiden in den Haaren lagen. Mittlerweile sprachen sie nicht einmal mehr „nur" laut – nein, sie schrien sich an. Clint sollte sich davon machen. Es war Zeit für ihn, zu gehen. Eilig wuchtete er sich auf und taumelte beinah, da er sich zu schnell bewegt hatte. Seine Arme und Beine fühlten sich leicht taub an, und kribbelten, weil sie zu lange in der gleichen Position gewesen waren. Kaum stand er wieder auf seinen Füßen, ging auch schon der erste Bewegungsmelder an und Clint fühlte sich ertappt. Fast als wäre er ein Einbrecher, den der Hausbesitzer beim Diebstahl erwischt hatte. Jedenfalls ging Steves und Buckys lebhafter Streit weiter, während er versuchte, die Taubheit aus seinen Gliedern zu schütteln, damit er halbwegs vernünftig den Weg zurück in seine eigene Wohnung fand. Waren seine Wände und Tür auch so dünn, dass man alle möglichen Geräusche vernehmen konnte? Gerade, als Clint sich tatsächlich endlich aus dem Staub machen wollte, erklang ein Geräusch aus der Wohnung, dass ihn an ein lautes Klatschen erinnerte. Für einen kurzen Moment kehrte Stille ein, doch kurz darauf wurde die Wohnungstür aufgerissen. Clint erstarrte in der Bewegung und blickte erschrocken auf. Ihm direkt gegenüber knallte Bucky mit blitzenden Augen und einer wütenden Bewegung die Tür hinter sich zu . . . und richtete sich überrascht auf, als er ihn da stehen sah. Auf einmal wich die Farbe aus seinem Gesicht, und für einen Moment sah er beinah ängstlich aus. Clint beobachte diesen plötzlichen Wandel der Emotionen verwirrt. Aber dann schien Bucky die Fassung wieder zu erlangen und sein Gesicht wurde nun zu einer gänzlich ausdruckslosen Miene. „Clint.", sagte er, und dem Bogenschützen lief ungewollt ein Schauer über den Rücken, als er seinen Namen so kalt aussprach. Oder war da auch noch ein Unterdrückter Hauch von Angst, und Verzweiflung in seinem Ton? Ehe Clint etwas erwidern konnte, senkte Bucky die Stimme etwas, als wollte er nicht gehört werden. Seine Hände versenkte er in den Taschen seiner dunklen Jacke, während sein Blick von Clint auf den Boden wanderte, als würde er es nicht ertragen, ihn anzusehen. „Ich würde jetzt nicht mehr zu Steve gehen. Versuch es morgen oder so." Clint runzelte die Stirn. Bucky nahm schon wieder an, dass er zu Steve wollte. Wie, als er das Paket abgegeben hatte. Warum das wohl so war? Jedenfalls zog sein Gegenüber die Schultern etwas ein und huschte dann den Flur entlang, in Richtung Treppe. Es dauerte nur ein paar Sekunden, ehe etwas in Clint klick machte, und er ihm hinterher eilte. Unten am Treppenabsatz im Eingangsbereich holte er Bucky ein. „Warte!" Clint übersprang die letzte Stufe, und wäre in seiner Hast beinah von der Treppe gestürzt. Bucky stieß die Tür auf und trat nach draußen, wobei er so tat, als hätte er ihn nicht gehört. Clint schnaubte leicht verärgert und folgte ihm erneut. Warum genau er das tat, wusste er nicht. Es war ein Gefühl, dass ihm sagte, den anderen Mann jetzt nicht einfach so allein weggehen zu lassen. Er hörte auf dieses Gefühl.

(Dienstag)

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