when reality hits hard.


Die Nacht wird von heulendem Wind und weinenden Menschen wachgehalten.  Einmal ist es so still, dass ich die schweren Herzschläge zwischen mir  hören kann, wie sie sehnsuchtsvoll meinem Namen rufen, aber keine  Antwort erhalten. Es ist so, als würde der peitschende Wind ihre Stimmen  davontragen, fort zu mir und meiner menschlichen Hülle, um dort gegen  eine kalte Wand aus Endgültigkeit zu prallen. Sie können niemand  erreichen, weil dort niemand ist, der sie hören kann. Traurige Stimmen  in einer noch traurigeren Nacht.

Ich  halte den Atem an, als jemand seinen Arm um mich legt und mich sachte  an sich heranzieht. Dann rieche ich es nicht nur, ich schmecke es direkt  auf meiner Zunge, wie der süße Honig in der warmen Milch zergeht. In  meinem Bauch wird es mir ganz wohlig, so sehr, dass ich wie von selbst  zu schnurren anfange. Es ist wie ein Lächeln auf meinen Lippen, nur kann  man es hören, nicht sehen. Es ist ein schöner, tiefgehender Klang – wie  mein Herzschlag.

„Du  hast mich bemerkt." Chifuyus Lächeln kann ich auch hören. Der fleckige  Schmerz vermischt sich mit seinem unvermeidbaren Kummer. Er schnieft  etwas, seine Stimme hört sich so heiser an, als hätte er zu oft und zu  stark gegen die Wand aus Endgültigkeit geschrien. Mittlerweile hat er  kaum noch einen Ton – kaum noch Herz. „Ich mag deine Augen, aber das  darf ich nicht so laut sagen", flüstert er reumütig, die Züge seines  Lächelns bröckeln auf.  „Eigentlich darf ich gar nichts so laut sagen,  weil ich habe furchtbare Angst davor, nochmal einen Fehler zu begehen.  Es ist meine Schuld, doch das darfst du Baji nicht verraten,  verstanden?" Obgleich ich eine Katze bin, habe ich diesen heftigen  Impuls, meine Finger um seine Wangen zu legen und ihn dazu zu zwingen,  mir in die Augen zu sehen. Um ihn so ernst anzusehen wie selten, um dann  noch zu sagen, dass das hier meine eigene Entscheidung gewesen ist;  dass ich entschieden habe, die Katze ihr Leben zu retten. Nicht er.  Alleinig ich.

Aber  ich habe weder Finger noch Hände, bloß Pfoten – und einer diese Pfote  berührt ihn achtsam an der Wange, fängt einer von den hundert  gebrochenen Sternen auf. Er erschreckt bei dieser Berührung, hebt den  Kopf an, um mich fassungslos anzublicken.

„Hast du das auch gerade gespürt? Als wäre es sie gewesen, die mich berührt hat. Ich... Ich vermisse ihre Berührungen so sehr."

Ich bin es doch, sage ich verzweifelt, ich bin es gewesen, Chifuyu. Ich bin direkt vor dir! Selbst mein Miauen ist ein schwacher, tonloser Lufthauch.

Chifuyu  legt sich auf den Rücken und starrt zur Decke. „Weißt du, was ich in  diesem Moment realisiere? Ich habe ihre Hand zu wenig gehalten. Sie hat  sich immer ganz weich angefühlt. Ein bisschen zu zerbrechlich für ihr  starkes Herz. Vielleicht hätte ich sie beim letzten Mal einfach fester  halten müssen, oder erst gar nicht losgelassen – dann wäre sie jetzt  nicht fort..." Der Gletscher in seinen Augen springt auf, weitere  unzählige Sterne strömen über seine geröteten Wangen. Erstaunlich, wie  scharf ich im Dunkeln sein hübsches Gesicht sehen kann, als wäre da ein  kleines Licht in meinen Augen und würde die Nacht zum Tag machen. Doch  ich will sein Gesicht gar nicht sehen, nicht ohne ein Lächeln. Es ist  gleichzeitig ein Stechen in der Brust und gleichzeitig eine  Erleichterung, als er sich komplett von mir wegdreht und die kahle Wand  gegenüber mit dem unerträglichen Schmerz in seinem Blick erstickt.

Mein  Herz ist zu schwach, um weiter über sein einsames Universum  nachzudenken. Lieber versuche ich mich daran zurück zu erinnern, wann er  meine Hand das letzte Mal gehalten hat – und es macht mich verrückt,  dass es gar nicht so lange her ist.

Es ist genau genommen gestern gewesen. Oder vor 2 Tagen? Mein Zeitgefühl beschließt sich auf vorgestern.

Die  Deadline für mein Kunstprojekt ist vorbei gewesen. Die genaue  Aufgabenstellung habe ich nicht mehr vollständig im Kopf, etwas wie:  „Malt ein Gemälde von dem, was euch am wichtigsten im Leben ist, stellt  das aber in einer versteckten Form dar." Aber an mein Gemälde, daran  kann ich mich noch bis ins kleinste Detail erinnern.

Es  sind zwei Katzen gewesen. Sie sitzen auf einer Bank im Schulhof. Hinter  ihnen das große Steingebäude, unklar, nur leicht angedeutet. Es ist ein  warmer Tag im Frühling. Einzelne Kirschblüten fliegen über das Bild,  über ihnen schlägt der blühende Kirschblütenbaum einen kleinen Schatten  auf ihre Gesichter. Sie sind dicht beieinander, haben die Köpfe  zusammengesteckt und blicken gemeinsam in einen Manga. Dieser handelt  von einem ungewöhnlichen Superhelden: und zwar einer schwarzen Katze  namens Peke J mit roten Umhang.

Die  eine Katze ist ebenso schwarz, nur mit klaren Tupfern von Kupfer in den  Bronzeaugen. Aus ihrem Mäulchen schielt ein langer Eckzahn hervor – wie  bei Keisuke, wenn er sich zu sehr auf etwas konzentriert.

Die  andere Katze ist weiß mit schwarzen Socken. Wenn man genauer hinsieht,  hat sie klare, gletscherblaue Augen und starrt nicht in den Manga. Sie  blickt unauffällig den Betrachter an, ihre Mundwinkel zu einem leichten  Lächeln hochgehoben. In ihrem Blick spiegelt sich so viel Faszination  wider, dass die ganze Welt um ihn herumschwirrt – wie Chifuyu, wenn er  freiwillig alles ausblendet, um sich bloß auf eine Person oder Sache zu  konzentrieren. Ob er das auch jemals bei mir getan hat? Die ganze Welt  ausgeblendet, um nur mich zu sehen?

Leider  haben meine anderen Schulkameraden dieses Gemälde als „zu kindisch",  „zu koreanisch" gehalten, und gemeinsam beschlossen, mir dafür eine 5 zu  geben. Es hat sich so angefühlt, als hätte ich mitten im Schwimmen im  Meer festgestellt, dass ich keinen Grund mehr unter mir habe und panisch  ertrinke.

Mich  hat das sehr getroffen. Sie haben damit auch indirekt die wichtigsten  Menschen meines Lebens in den Dreck gezogen haben, sodass ich  schluchzend in den Schulgang gestürzt bin. Unerwartet bin ich dort  Chifuyu und Keisuke in die Arme gelaufen. So gutmütig wie sie sind haben  sie sofort gefragt, was passiert sei. Als ich ihnen davon berichtet  habe, nuschelnd gegen Keisukes Brust, seine Hände drückten mich an sich,  sind die beiden plötzlich losgestürmt. Aber Chifuyu hat sich noch  einmal umgedreht, mich an der Hand genommen und sie mit den ernsten  Worten „Für mich ist jedes deiner Gemälde eine glatte Eins – mit hundert  Sternchen!" festgedrückt. Letztlich hat er mich vor dem Ertrinken  retten können.

Sie  haben dieses Gemälde nicht sehen können, da die anderen aus der AG es  bereits schon woanders versteckt haben. Wo, das habe ich in der kurzen  Zeit nicht herausgefunden. Baji hat ihnen dafür einfach alle eine  verpasst, dass sie selbst das Weinen angefangen haben. Was für ein  impulsiver Junge. Er verliert häufiger die Kontrolle über seine Fäuste,  dafür weniger die über sein Herz.

Aber Chifuyu ist an diesem Tag nicht von meiner Seite gewichen – genauso wenig wie ich an jenem Tag beim Tierarzt.

Wieso habe ich auch 3 Monate im Voraus planen müssen? Wieso habe ich es ihm nicht einfach gesagt? Natürlich. Nur deswegen:  Weil dieser Tag, dieses Geständnis, was Besonderes und Unvergessliches  sein sollte. Er sollte es selbst spüren, wie es ist, wenn man so  verliebt in eine Person ist, dass ein einziger Gedanke an sie reicht, um  aus einem schlechten Tag einen guten zu machen. Wie Magie. Wie, wenn  ich an Chifuyu denke und daran, wie er meine Hand hält. Mit welchen  achtsamen Druck, mit welchem undurchdringlichen Schutz – als wolle er  all das Böse in dieser Welt von mir fernhalten.

Wir  haben zu dritt viele Pause gemeinsam mit den Nasen in verschiedenen  Manga verbracht. Manchmal dieselben, manchmal habe ich mich in eine  andere, romantische Geschichte transportiert und darauf gehofft, ich  könnte auch eines dieser glücklichen Mädchen sein, die am Ende mit ihrem  großen Schwarm zusammenkommen. Dann sind sie für immer glücklich, ihr  Leben hätte das letzte, fehlende Puzzleteil zum vollständigen  Glücklichsein gefunden.

Ihre Geschichten haben immer mit einem Happy End aufgehört.

Aber  schmerzvoll – wie mit einem durchschneidenden Pendel, das mich  endgültig und rasend von meinem menschlichen Leben entreißt – begreife  ich, dass ich in keiner dieser Liebesgeschichten bin.

Mein Leben hat bereits geendet – ohne eines.

**

Unverhofft  legt sich in der weiteren Nacht wieder ein Arm um mich und schiebt mich  ganz sanft gegen seine harte Brust. Ich bin zu müde, um nachzusehen,  wer es von den beiden ist, und mein Herz zwickt noch von Chifuyus  Abweisung. Er mag doch Katzen - wieso mag er dann mich nicht als Katze?

Ich  seufze aus, aber mein Herz wird lediglich schwerer. Und dann setzt es  für einen Augenblick aus. Ein feuchtes Gesicht verschwindet unerwartet  in meinem Fell, während sich eine behütete Decke aus der Schicht von  vereinzelnden Strähnen sich um meinen Körper legt. Es folgt ein tiefer  Atemzug – als würde derjenige in meinen Duft versinken wollen, und ich  ahme es ihm sehnsüchtig nach. Keisuke hat einen belebenden Geruch; wie  eine frisch gemähte Wiese nach langen Regentagen.

„Du  riechst wie sie", murmelt er schwach lächelnd und seine schmale, gerade  Nase vergräbt sich an meinem Hals, „wie ein einziges Gänseblümchen."

Diese  Hingabe in seiner samtigen Stimme zuhören bringt Frieden in mich. Ich  spüre es, wie seine Gesichtszüge weich werden, und nicht nur sein  Schmerz erhebt sich von seiner Brust. Auch meiner wird leichter. Ich  habe nasses Gras nie wirklich gemocht, es ist klebrig, widerspenstig;  doch die schützende Hülle von Bajis Duft besänftigt mich auf eine Art,  die mich fasziniert. Er nimmt mir die Einsamkeit, die Chifuyu über mein  kleines Herz gebracht hat, und fängt mich mit einer Wärme auf, die jeden  noch so großen Winkel meines winzigen Körpers berührt.

Er  hält mich mit demselben Druck fest wie Chifuyu, wenn er meine Hand  hält. Nur ist das hier keine Erinnerungen, es ist das Jetzt, und ich  kann so mit jeder Faser meines Körpers spüren, wie das ganze Böse dieser  Welt gegen seinen undurchdringlichen Schutz abprallt. Er gibt der  Einsamkeit in mir keine weitere Macht, da ist nur sein Duft einer  regenassen Wiese und die behütete Decke seiner langen, schwarzen Haaren.  Dieses Jetzt ist anders; schön anders.

Sein Herzschlag ist so dicht an meinem, dass ich glaube zuhören, wie er mit seiner samtigen, tiefen Stimme nach mir ruft.

Diesmal erhält er eine Antwort von meinem zarten, hoffnungsvollen Schlag.

Ich  fühle es, wie seine Wimpern über meine Wange streichen, als er langsam  die Augen schließt. Als sein Kopf einnickt, weiß ich, dass ich nicht  alleine sein werde, wenn auch ich meine Lider schließe.

Er wird da sein.

Keisuke hat schon immer das besondere Gespür für die Schwachen besetzen.

Für Peke J.

Für Chifuyu.

Und für mich.

**

Der  nächste Morgen ist schneller da, als ich es tatsächlich wahrnehmen  kann. Plötzlich ist da ein grelles Licht, wildes Mampfen von Cornflakes –  und dann ein stumpfes Geräusch wie ein Tritt.

„Steh  auf, Chifuyu. Wir müssen gleich zur Schule los!", ermahnt ihn Keisuke  mit wiedergefundener, grummelnder Stimme. „Entweder du gehst jetzt noch  duschen – oder ich werde dich auf der Schultoilette richtig  durchseifen!"

Sofort  öffne ich die Augen und muss zu meinem Verdruss feststellen, dass ich  nicht geträumt habe und so auch bei keiner Pyjamaparty in Keisukes  Zimmer teilgenommen habe.

Ich  bin und bleibe wohl eine Katze. Hoffentlich eine mit einem netten  Gesicht. Es wäre schrecklich, würde ich zu diesen teuflischen Exemplaren  mit einem anhaltendem „Ich hasse dich"-Blick gehören. Mir ist  schrecklich kalt und ich erblicke Keisuke an der Bettkante, denke an  seine Wärme zurück und möchte sofort wieder darin verschwinden. Ich will  zu ihm gehen, da bewegt sich auf einmal jemand anderes neben mir und  meine ganze Aufmerksam gehört ihm.

Chifuyu  richtet sich hastig auf, streckt sich und fährt sich mit einem  erschwerten Seufzer über den kurzrasierten Nacken. Es ist eine meiner  Lieblingsaufgaben gewesen, wenn er mich darum gebeten hat, ihn seinem  Undercut nach zu rasieren. Das habe ich deshalb so gerne gemacht, da  jedes kurze Streichen über seine Wangen, seine Ohren, seine Schläfe für  ihn nur zum rasierenden Akt gehört haben, doch für mich sind diese  flüchtigen Berührungen alles gewesen. Sie sind gewollt gewesen, ein  romantischer Vorgeschmack darauf, wie es wäre, wenn seine softe Haut –  und wie soft sie ist! –  so berühren zu können, ohne dabei unsere  Freundschaft zu ruinieren.

Jetzt werde ich ihm diesen nie wieder rasieren können. Ich habe keine Daumen. Enttäuschend.

„Ich  geh ja schon", murmelt er halb schlafgetrunken, halb mit leerem Herzen.  Er hat meine Jacke in seinen Händen, ein ausdruckslosen Blick richtet  sich auf seinen besten Freund. „Treffen wir uns vor der Schule?"

Keisuke  lässt den Löffel mit einem lauten Klirren in seine Schüssel fallen,  während er die bronzefarbenen Augen verengt. „Hast du etwa vor zu  schwänzen?", fragt er schroff.

Er zuckt getroffen. „Machst du mit?"

„Nein",  antwortet er direkt, kalt, aber nicht wegen ihm. Er hat einen anderen  Grund, wieso er so schlagartig von Hass gepackt reagiert. „Ich will  nicht daran denken, wie ihre Mitschüler sich das Maul über ihren Unfall  zerreißen werden. Gerade habe ich so richtig Bock darauf, ihnen nochmal  alle in die Fresse zu schlagen. So hart, dass ihr Schreie Saejin  aufwecken werden."

Entsetzt blicke ich den Schwarzhaarigen an. Spinnst du, Keisuke? Du wirst deswegen noch einen Verweis kassieren!

Bei meinem aufgebrachten Miauen starren mich beide verdattert an.

„Ich glaube, sie hat Hunger", sagt Chifuyu erschöpft, „wir sehen uns an der Schule. Wirklich." Dann ist er schon weg.

Mein Herz ist noch leerer als mit ihm.

„Hunger,  ja?" Keisuke grinst mich an, stellt seine Schlüssel auf seinem  Schreibtisch ab und nimmt den Napf aus rotem Plastik von der  Fensterbank. „Das ist eine Ausnahme, ja? Eigentlich darfst du nicht auf  dem Bett essen – aber heute ist das in Ordnung." Er erwartet bestimmt  von mir, dass ich mich wie eine verhungerte, streunende Katze auf das  eklig riechende Futter stürze, während er in der Schule es auf einen  Verweis anlegt.

Aber nicht mit mir, Keisuke! Entschlossen springe ich von seinem Bett und stolziere zielstrebig auf seinen Schulrucksack zu.

„Was soll das?", fragt er verwirrt und hebt eine Braue hoch.

Neben  seinem Rucksack lasse ich mich auf die Hinterpfoten sinken, dann widme  ich ihm einen strengen Blick – sofern eine Katze so sehen kann, aber auf  jeden Fall böse, verärgert. Das können sie sehr gut.

Was wohl? Ich werde dich aufhalten. Wenn es sein muss, mit meinen eigenen Händen... äh, Pfoten!

Wie  soll ich das mit meinen Pfoten überhaupt anstellen? Daran habe ich  zuerst nicht gedacht, nichtsdestotrotz steht mein Entschluss fest und  nichts wird mich umstimmen können. Keiner von ihnen soll in meiner  Abwesenheit etwas Dummes tun, das er später bereuen wird. Keisuke ist  keineswegs ein Musterschüler – genau das bringt mich dazu, diese  Verantwortung anstelle von ihm selbst zu übernehmen. Er soll sich seine  Zukunft nicht verbauen. Nicht wegen seiner Impulsivität. Oder meinem  unerwarteten Tod. Ich sehe diese Wiedergeburt  als eine Möglichkeit, die beiden Volldeppen vor dummen Fehler zu  bewahren. Mit Händen oder vier Pfoten ist nicht wichtig – mein Wille ist  es. Und dieser ist unglaublich stark für diesen kleinen Körper.

„Haustiere  sind verboten. Hat man das dir nicht gesagt?" Er steht vor mir und  beugt sich über mich, um mit seiner großen Hand meinen Kopf zu kraulen.  Diese Art der Zuneigung ist nicht allzu fremd für mich; er ist schon als  Mensch um einiges größer als ich gewesen, da hat es schon zu seinem  Begrüßungsritual gehört, mir erstmal meine gebändigten, pinken Locken so  durch zu struppeln, dass einzelne Strähnen wieder in ihre Ursprungsform  zurückgefallen sind. Irgendwann habe ich aufgehört, mir die Mühe zu  machen und meine Haare zu glätten. Baji würde sie sowieso zerzausen.

Auf  einmal grinst er mich so breit an, dass mir seine gerissene  Persönlichkeit wieder klarer wird. Ich schlucke mit einem unguten Gefühl  im Bauchbereich.

„Aber  Regeln sind mir schon immer egal gewesen. Du sollst sehen, was für  Arschlöcher Saejins Mitschüler sind – und dann werden wir sie gemeinsam verprügeln."

Was?

Das ist nicht mein Plan gewesen.

Unvorsichtig  schmeißt er alles aus seinem Rucksack heraus, was für die Schule  wichtig ist. Bücher, Stifte, Blöcke. Ich begreife sehr schnell, was er  vorhat, und möchte flüchten – doch er hat mich schon mit beiden Händen  angehoben und hievt mich überraschend behutsam für seinen starken Griff  in seinen Rucksack. Reagierend strecke ich alle viere von mir und hoffe,  so nicht hineinpassen zu können. Da ich ihm nicht wehtun möchte und  nicht weiß, wie ich mit meinen Krallen umzugehen habe, erstarre ich wie  ein Opossum bei Gefahr.

Lass das, Keisuke!, mauze ich schimpfend.

Zu  meiner Überraschung ist sein Rucksack groß genug, um mich selbst mit  gestreckten Vieren in sich aufzunehmen. Oder ich bin verdammt klein.  Selbst als Katze bleibe ich von einer kleinen Körpergröße nicht erspart.  Sehr enttäuschend.

„So",  grinst er zufrieden und tätschelt mir das Köpfchen, „jetzt sind wir  startklar für die Schule. Ich werde dir wohl noch einen Motorradhelm  besorgen müssen. Wahrscheinlich in der Kinderabteilung. Das mache ich  gleich nach der Schule."

Noch  enttäuschender ist es, dass ich das erste Mal auf sein Motorrad  mitfahren darf, wenn ich eine Katze bin. Davor haben es beide für  gefährlich gehalten, mich mitzunehmen – aber als Katze nicht? Der harte  Wind wird mich Fliegengewicht bestimmt aus dem Rucksack hauen. Und dann  habe ich auch dieses Leben kläglich verloren.

Doch es kommt anders: Er riskiert nicht mein Leben, sondern sein eigenes.

Mit  einer Hand hält er den Rucksack mit mir an sich gedrückt, mit der  anderen lenkt er sein Motorrad wie ein stinknormales Fahrrad. Aber die  schnell vorbeiziehenden Häuser, das Jaulen seines Motors deuten auf ein  extrem schnelles und tödliches Tempo  hin. Er grinst fett, als würde er diesen Adrenalinstoß genießen. Dieser  Nervenkitzel, dem Tod so nah zu sein. Aber er weiß nicht, wie schnell  das Leben aus deinen eigenen Händen weichen kann – und was das alles für  Spuren in anderen Herzen hinterlässt. Tiefe, entsetzliche Einkerbungen  wie in einem Krater. Vor allem: für immer bleibende Krater.

Leider weiß ich es.

Was  ist, wenn er es auch weiß? Und diese Krater so tief in seinem Herzen  sitzen, dass er lieber gar existieren möchte als mit ihnen zu leben? Was  ist, wenn es für ihn nur ein einziges Universum gegeben hat – und zwar  nur mit mir? Das macht mir mehr Angst als sein schnelles Fahrttempo.

Am liebsten will ich ihn darum bitten, zu verlangsamen, sein Leben besser zu schätzen als das hier. Nur fehlen mir die Worte und  dieselbe Sprache dazu. Die Gewissheit, dass er es auch letzte Nacht  überlebt hat, möchte mich beruhigen, meinen rasenden Puls vermindern –  doch ich bin in einem späteren Augenblick so hellwach wie ich es in den  letzten Stunden nicht gewesen bin, dass ich dieser Gefahr nur halbwegs  entkommen möchte.

Er  schafft es so tatsächlich zur Schule, begrüßt Chifuyu mit einem „Na,  doch kein Schwänzer?" und drückt meinen Kopf zurück in den Rucksack wie  ein Geheimnis, das er nicht mal mit ihm teilen kann.

Das ist es nicht.

Es ist das Gemälde in unserem Klassenzimmer.

Das Gemälde von den zwei Katzen.

Von Keisuke und Chifuyu.

Wenn  Menschen, die zu einem schon seit Jahren fies gewesen sind und versucht  haben, zu einer dieser Gründe zu werden, warum man die Welt hassen  sollte, auf einmal nett werden, weiß man, dass man gestorben ist. Sie  machen das nicht aus Mitleid oder aus Schuldgefühlen, sie machen das  nur, weil ich in ihrer Welt nicht mehr existiere. Sie müssen mir nicht  mehr das Leben zur Hölle machen, ich bin schon in der Hölle.

Das ist viel schlimmer als von ihnen zu hören, wie hässlich ich doch mit meinen pinken Haaren aussehe. Wie ein Flamingo.

Wörter kann ich vergessen, kann ich verschließen und in späteren Jahren mit einem Lachen darüber hinwegkommen.

Mein eigener Tod nicht.

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