what's really missing.
Es piepst. Schrill und alarmierend.
Aufgeregtes Gemurmel.
„Sie hat einen Herzstillstand!"
Wer spricht da, und was erlaubt sich diese Stimme, so etwas Dummes zu behaupten? Wieso sollte mein Herz stehenbleiben? Es fühlt sich lebendiger an als jemals zuvor, als hätte ich schon immer dieses Feuer einer Liebe benötigt. Als würde es mein Herz von allem üblen bereinigen. Es ist warm. So schön warm. Mir wird bestimmt keiner böse sein, wenn ich mich nochmal hinlege. Katzen brauchen schließlich ihren Schönheitsschlaf.
„Sie müssen meiner Tochter helfen!"
„Frau Yun, wir sind schon dabei unser Bestes zu geben. Bitte verlassen Sie jetzt den Raum!"
„Aber es geht hier um meine Tochter!"
„Es gibt keine Ausnahmen! Raus! Sofort!"
Und Ruhe bitte.
Verdammt, ich brauche so viel Ruhe.
**
„Und?" Oh. Ich bin wieder zurück.
„Ihr Herzschlag ist stabil." Diese Stimme kenne ich doch. Sie ist fast so warm wie mein Herz. „Aber ich muss sie trotzdem für eine Nacht zur Beobachtung dabehalten."
„Wann kann ich sie frühestens abholen?" Chifuyu scheint auf der einen Seite sehr erleichtert zu sein, auf der anderen Seite ist er unstimmig mit der letzten Aussage seines Gesprächspartner.
„10 Uhr", antwortet dieser locker, „wenn es früher möglich ist, gebe ich Ihnen Bescheid."
„Bitte machen Sie das."
Einen Moment Stille. Ein Moment, indem ich mir einen Weg durch die Dunkelheit suche, die wie eine schwere Decke über mir liegt. Aber aus irgendwelchen Gründen bringe ich nicht genug Energie auf, um sie von mir zu schieben. Ich habe diesen komischen Verdacht, als würde etwas in diesem Körper nicht richtig funktionieren. Nur ein Verdacht, aber die letzten Bilder und Stimmen schlagen in einem alarminierenden Gong gegen mein Gewissen.
Pong-Pong.
„Sie müssen jetzt bitte gehen", fordert die Wärme und spannt sich an.
Herzstillstand folgt mit dem nächsten Pong.
Er verabschiedet sich nicht.
Pong-Pong-Pong. Immer schneller. Pongpongpong. Wie ein steigender Puls kehrt alles zurück. Pongpongpongpong. Keisuke liebt mich. Langsamer.
Pong-Pong.
Keisuke liebt mich.
Pong...
Aber er hat es mir nicht gesagt. Er hat es Chifuyu gesagt, und dann habe ich ihn meine Liebe gestanden, bevor sich dieser seltsame Sternenhimmel zu uns geholt hat. Dieser Sternenhimmel hat alle Barrikaden zwischen Menschen und Tier aufgelöst, zwischen meinem katzenhaften und menschlichen Gesicht.
Keisuke hat mich gesehen. Mich, Saejin das Mädchen, das er... liebt. Das muss ich fortan öfters wiederholen, weil so ganz kann ich es noch nicht begreifen. Ich bin es tatsächlich, das richtige Mädchen für ihn. Keine auf seine Rettungsliste, nur das Mädchen, das sich in sein Feuerherz und seine Kleinigkeiten verliebt hat; die selbst in seinen Rostflecken etwas Liebenswürdiges gefunden hat. Ich habe verstanden, dass es nicht schlimm ist, wenn man die Makel und Ängste von jemand kennt, den man liebt. Es gibt einen nur noch besser zu verstehen, warum man sich erst in diese Person verliebt hat.
Doch – was hat dieser Ort zu bedeuten? Kurz darauf hat mich versucht, dieses furchteinflößende Nichts zu sich zu holen. Als wäre es mit mir endgültig vorüber gewesen. Aber das ist unmöglich, schließlich bleibt mir noch Zeit. Noch 2 Monate. Das magische Sternenmeer... ist es vermutlich der einzige Ort, wo er mir seine wahre Liebe gestehen kann? Weil dort kann ich sie sein, Saejin das Mädchen. Dieser Ort aber wirkt sich auch drastisch, tödlich, auf das nicht richtig funktionierende in mir aus. Als ein unsichtbares, verhängnisvolles Unheil funktioniert es allerdings prächtig.
Wenn ich an die Sterne zurückdenke und wie da dieses zarte Leuchten Keisuke umfangen hat, als würde das Feuer seines wilden Herzens nach draußen weichen, erinnere ich mich an zwei mögliche Sternkollisionen. Die Astronomie-AG an der Schule hat vor der Sommerpause darüber einen Vortrag gehalten.
Wenn zwei Sterne miteinander kollabieren, dann verschmelzen sie miteinander. Sie werden zu einem einzelnen Stern. Wenn der eine Stern in dem anderem während der Kollusion aber so eine Unmenge an Energie freisetzt, für die er einfach noch zu klein ist, wird er innerhalb weniger Tage in einer Supernova explodieren und sich auflösen. Genau das wäre wohl fast mit mir passiert, hätte Keisuke das Sternenmeer nicht verlassen.
So ein Supernova-Moment darf nicht noch einmal vorkommen.
Die Frage ist aber, warum das überhaupt passieren kann.
Wenn ich mich mehr auf den Augenblick des Geständnisses konzentriere, fällt mir wieder auf, wie anders mein Herz geschlagen hat. Wie verlangsamt, wie vor einer ausdehnenden Explosion.
Mir ist es schon früher aufgefallen, aber ich habe nicht daran gedacht, dass es sich so herauskristallisieren wird und eine wichtige Bedeutung besitzt.
Der Schlag dieses kleinen Herzens ist nicht gleichmäßig, er verändert sich andauernd. Jeden Tag fängt er mit einem neuen Lied an, einem neuen Takt und Rhythmus wie auf der Suche nach der Ballade seines Lebens. Dieses Herz gehört nicht mir, das begreife ich anhand der fehlenden Melodie. Mein Herz hat seine Ballade schon gefunden. Es ist ein fetziges und stürmisches Stück, mit Höhen und Tiefen. Eine aufregende Rockballade wie Nothing Else Matters von Metallica. Keisukes Lieblingslied.
Es ist nicht nur die Ballade meines Lebens, es sind all meine Wünsche und Träume, die es so laut werden lässt – denn nach allem möchte ich nur eines: leben. Frei und ungestüm ohne Plan, weil so funktionieren wir Teenager nun einmal.
Wir schließen die Augen und fallen.
Man kann es sowieso nicht verhindern. Man wird immer mal wieder zurückfallen, aber deshalb ist es so wichtig, seine eigene Ballade zu erschaffen. Sie ist das einzige, dem du lauschen solltest. Nicht den Dämonen in deinen Kopf oder den Meinungen anderer. Hör einfach auf dein beschissenes Herz, finde die Ballade deines Lebens – und verdammt nochmal, glaub daran. Am Ende werden sowieso nur unsere Namen auf einem Grabstein stehen, aber die Erinnerungen, die wir in den Herzen anderer hinterlassen, sind viel, viel bedeutsamer. Denn das macht uns unsterblich.
Das weiß ich nun. Selbst wenn ich sterben würde, würden mich Keisuke und Chifuyu niemals vergessen. Sie würden mich unsterblich machen.
Aber das erklärt auch nicht, wieso es kurz vor dem Explodieren ist, wenn ich Keisuke endlich so lieben kann wie ich es mir immer gewünscht habe. Was ist mit diesem Herzen nicht in Ordnung? Warum kann es die kinetische Energie des Nordpol nicht standhalten?
Ein lautes Seufzen bringt meine Ohren zu wackeln. Allmählich steigt mir ein verlockender Geruch in die Nase: kochende, süße Milch. Die Decke rutscht von mir ab, und dann blendet mich ein eklig künstliches Licht, als würde mir jemand mit einer Taschenlampe in die Augen strahlen.
„Du hast dir nicht gerade den stärksten Katzenkörper ausgesucht." Was will er damit ausdrücken? Ich kneife die Lider etwas zusammen und versuche, etwas zu erkennen. Am Ende des hellen Raumes lehnt ein Mann aus dem geöffneten Fenster und zieht tatsächlich an einer Zigarette. Nicht unbedingt ein toller erster Eindruck. Er trägt einen enganliegenden Zopfpullover in einem matten Grau und seine walnussbraunen Haare strecken sich in alle Himmelsrichtungen. Eine wild wüchsige Hecke. Der Mann, höchstens in den 30ern, wirkt durcheinander, verstreut. „Saejin ist dein Name, nicht wahr?" Um sicher zu gehen, dass er wirklich mit mir redet, lasse ich den Blick neugierig durch den Raum gleiten und stütze mich auf die Hinterläufe.
Wir sind allein. Allein in seinem Arztzimmer mit den Tatzenabdrücken an den eisbärweißen Wänden.
Er ist Tierarzt. Dafür brauche ich keine weiteren Beweise, die Utensilien und Tiergemälden setzen seinen Beruf ordnungsgemäß in Szene. Also auf keinen Fall ein verstreuter Mann, aber wieso bin ich hier?
„Du hast ein schwaches und kaputtes Herz", antwortet er mir wie ein Gedankenleser und bläst einen Rauchschwall aus dem Fenster. Draußen ist es mittlerweile dunkel geworden.
Mir wird schlecht bei den Gedanken daran, wie lange ich schon bewusstlos gewesen sein muss. Aber mein Magen fährt bereits Karussell, seitdem er mir bestätigt hat, dass das nicht funktionierende Etwas das Herz ist.
„Um es besser zu erklären: das Herz dieser Katze hat einen Fehler. HCM ist dir vielleicht bekannt." Nein, eigentlich nicht. „Dein menschliches Herz, vermute ich mal, ist kerngesund." Er schmunzelt bei meinen aufgerissenen Augen. „Da ihr aber gerade so in etwa miteinander verbunden seid, spürst du natürlich die Auswirkungen dieser Herzerkrankung, wenn sie nicht anständig behandelt wird. Darüber habe ich deinen Freund schon informiert." Ein nervöses Lachen rutscht ihm heraus. „Jetzt schau mich nicht so an! Du möchtest wohl wissen, warum ich weiß, dass du ein Mensch bist?"
Das möchte ich tatsächlich und beobachte ihn mit gespitzten Ohren, lauernd und unsicher, weil ich mich teilweise noch wie betäubt fühle. Außerdem rufe ich Peke Js Rat in mein Gedächtnis zurück: keinen Fremden trauen. Ob das bei Tierärzten auch der Fall ist, hat er nicht beigefügt, doch wahrscheinlich macht da eine Katze kein Unterschied. Mensch bleibt Mensch.
Er drückt die Zigarette am Fenstersims aus, schmeißt sie fort und kommt auf mich zu. „Du weißt gar nicht, wie viele Katzen mir schon einer ihrer Leben hätten schenken können, weil ich ihres gerettet habe. Das ging nicht, schließlich kennen wir alle die Regel: ein Katzenleben darf nur einem anderem geschenkt werden, wenn er sein eigenes für das einer ihrer geopfert hat." Richtig. „Ich habe von deinem Unfall gehört. Sowie du habe ich auch einmal mein Leben für das einer Katze geopfert."
Neben dem Untersuchungstisch steht ein Stuhl, welcher er heranschiebt und sich so wenige Zentimeter vor mir hinsetzt. Das Geräusch der fahrenden Räder schaukelt in meinem Kopf noch eine Weile. Eine Geruchswelle von Rauch und Desinfektionsmittel kämpft um mein Bewusstsein, meine Augen brennen leicht von der Intensität der kräftigen Düfte. Die Müdigkeit zerrt noch an meinem Knochen wie eine Erkältung, die mit Halsschmerzen beginnt und bei kratzender Heiserkeit sich frei entfaltet. „Du solltest dich entspannen", pflichtet er mit einem Lächeln von Aufmunterung bei, „du bist noch zu schwach, um richtig zu stehen."
Er ist Tierarzt. Er sollte genau wissen, wovon er spricht, weshalb ich zurück auf meine vier Pfoten sinke und mit den übrigen Fetzen meines wachen Verstandes gegen diese viel zu friedliche Müdigkeit ankämpfe. Immerhin bietet sie mir nicht immer die Möglichkeit, einen anderen zu begegnen, der mal in derselben Situation gewesen ist wie ich.
„So ist es gut", sagt er zufrieden und die Fürsorge in seinen tiefbraunen Augen verhilft mir, mich besser zu entspannen. So zu entspannen, dass ich nicht gleich in Schlaf übergehe. Mehr ein ruhiger Wachzustand. Wie auf Wolken schweben. „Bei mir ist es schon 8 Jahre her, ungefähr. Ein alter Bekannter hat mich darum gebeten, mich um seinen Hund zu kümmern, weil er wohl sehr schwer verletzt sei. Dass er sein Geld durch Hundekämpfe verdiente, habe ich bis zu dem Abend nicht gewusst. Also bin ich aus der Stadt zu ihm gefahren..."
Es ist ein kleines Kätzchen gewesen. Gefundenes Fressen für den Kampfhund im Ring. Ein Werkzeug, um die trainierten Hunde noch blutdürstiger zu machen. Eigentlich wollte er schnellstmöglich von diesem gottverlassenen Ort verschwinden. Nichts mit diesen Machtspielchen seiner Gleichgesinnten zu tun haben. Er verabscheute Hundekämpfe eben so sehr wie die Tierversuchsfirmen, an denen er täglich vorbeifuhr. Er hatte mal überlegt, sich Green Peace oder einer ähnlichen Organisation anzuschließen, er wusste noch nicht so recht, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Also half er in einer Tierarztpraxis aus. Er glaubte auch so einen guten Zweck erfüllen zu können, seine Bestimmung gefunden zuhaben. Er hatte sich selbst geschworen jenen zu helfen, für die es keine Hoffnung gab.
Dieser Schwur wurde an diesem Tag herausgefordert.
Er fragte seinen Freund, wieso er eine Katze in den Kampf schickte, die bei den aggressiv trainierten Hunden keine Überlebenschance hatte. Keine einzige. Sie war dafür da, um zu sterben. Das erklärte ihm auch sein Freund. Es gäbe genug Leute, die dafür zahlten. Sie wetteten darum, wie lange sie leben würde. Das kürzeste waren 10 Sekunden. Ein glatter Biss in die Kehle. Außerdem war es weniger Arbeit für ihn, wenn er nur einen Leichnam in den Müll schmeißen müsste, als die verletzten Tiere noch aus dem Kampf zu ziehen, sie irgendwo liegen zulassen, bis sie ausgeblutet und an ihren Wunden verreckt wären.
Er war über diese Aussage schockiert. Bs jetzt hatte er nur damit zu tun gehabt, dass so manche Leute Katzen beabsichtigt überfuhren, sobald sie eine auf der Straße erwischten, aber das man sogar dafür Geld zahlte, zu sehen, wie ein Tier starb, das war für ihn unvorstellbar. Er konnte nichts gegen den Reiz in sich unternehmen, menschliche Neugierde hatte schon immer ihren eigenen Kontrollpunkt. Er hasste es in dem Moment dazu zu gehören, zu den verdammten Menschen. In der Nähe konnte er die große Tonne entdecken: sie kippte vor schwarzen Tüten um. Er hätte sich fast übergeben, als er bei einigen Pfoten und Schwänze heraus blitzen sah. Das löste etwas in ihm aus, das er heute noch als einen Heldenmechanismus beschrieb.
Obwohl es ihm graute und da noch dieser andere heftige Instinkt von Flucht und Wegschauen war, wollte er nicht dazu gehören. Er wollte kein Wegschauer sein, keiner von diesen abscheulichen Monstern. Wenn er schon seine Neugierde nicht steuern konnte, wollte er wenigstens etwas dagegen unternehmen. Er wollte noch an selben Abend einem bekannten Freiwilligen Verein informieren, der sich explizit gegen Hundekämpfe und Tierquälerei aussprach. Einen anständigen Tierschutz gab es nicht. Hundekämpfen waren in Japan nicht illegal, aber hierbei handelte es sich schon um Quälerei. Um Massenmord. Ein menschenverachtendes Blutbad. Es sollte kein Tier mehr zu leiden kommen, weder die Hunde, die unter Peitschenhieben und unmöglichen Zustände dazu trainiert worden, zu Tötungsmaschinen zu werden, noch die wehrlosen Katzen, die ihnen als weiteren Antrieb dienten.
Sein Freund bot ihm schließlich nach getaner Arbeit ein Bier an und fragte ihn, ob er nicht noch bis zum Kampf bleiben würde. Das tat er auch, aber aus einem völlig anderen Grund als Spaß. Er wollte die Katze retten. Als es immer mehr Menschen worden, die sich dieses Spektakel ansehen wollten, war er über die Vielzahl der Gruppe nur noch mehr entsetzt. Er dachte immer, die Stierkämpfe wären begehrt, aber das hier war nochmal eine andere Nummer.
Als es so weit war und ein mächtiger und muskulöser Pitbull den Ring aus Gittern betrat, bellend und bereits schäumend vor Blutdurst, gab er bei dem ängstlichen Miauen des getigerten Kätzchens nach. Er stürzte sich mitten in den Kampf, beschützte mit seinem ganzen Körper das Kätzchen vor dem gepumpten Hund. Dass der Pitbull auf ihn losging, merkte er in dem Moment nicht. Alles, was für ihn zählte, war, dass die Katze in Sicherheit gewogen wurde. In seinen Armen. Wie bei mir und Yukidaruma. Nur das Leben der Katze war wichtig, das eigene verlor in diesen Minuten an jegliche Bedeutung.
„Dieser Heldenmechanismus versteckt sich uns", so beschrieb er, „wir haben es schwer, ihn tatsächlich wahrzunehmen, weil er von unseren Flucht- und Wegschauinstinkten unterdrückt wird. Aber es fehlt uns nur an Mut und Selbstlosigkeit, damit er sich durchbeißen kann. Wir sind schließlich alle Fluchttiere – aber, sobald wir unsere eigene wahre Stärke erkennen und wissen, wie wir sie einsetzen können, können wir damit jene schwächeren helfen, die unsere Hilfe wirklich benötigen. Wir vergessen uns selbst, aber nicht einander."
Ihm war klar, dass sein Körper nicht ein Panzer aus Stahl darstellte und dass er irgendwann vor Blutarmut das Bewusstsein verlieren würde – aber da war noch dieses bienen-brummende Schnurren zwischen seinen Armen. Katzen schnurren nicht nur, wenn sie sich wohlfühlen, sie tun es auch, wenn sie verängstigt und unsicher sind. Sie hatte Angst. Genauso wie er. Aber er war bereit dazu, dem allem ein Ende zu setzen. Er war bereit dazu, sein Leben für ihres zu geben.
Doch das Schicksal griff ein.
Der Pitbull wurde zurückgepfiffen. Ein Krankenwagen wurde gerufen. Und, eine wirklich große Überraschung für alle Beteiligten, Mitglieder des gutnützigen Vereins waren bereits an diesen Abend da und hatten genug Unterschriften gesammelt, dass sie die Erlaubnis hatten, alle Hunde und Katzen aus dieser Hölle zu befreien. Auch das getigerte Kätzchen.
Als er wieder zu Bewusstsein kam, war er selbst ein braun-getigerter Kater. Das Kätzchen erklärte ihm die üblichen Bedingungen und bedankte sich bei ihm. Nachdem er wieder ein Mensch wurde, nahm er sie bei sich auf. Und noch so einige andere Katzen, die dort in engen Käfigen gehalten worden.
Schließlich hatte er seine wahre Bestimmung gefunden: er wollte Tierarzt werden, um nicht nur die Lieblinge anderer Besitzer helfen zu können, sondern auch jene, die heimatlos in den Straßen ihr Unwesen trieben. Er setzte sich das Ziel, nie wegzuschauen, wenn ihn jemand brauchte.
„Ich habe an diesem Tag viel dazu gelernt", sagt er warm und steht auf, „aber ich würde mich selbst nicht als einen Helden betiteln, hätte Akira mich nicht zu einem gemacht. Helden werden nicht geboren, sie werden von anderen dazu auserwählt, zu ihrem Helden zu werden."
Helden. Ich kenne meine zwei: Keisuke und Chifuyu.
„Du könntest auch der Held von jemand sein, ohne dass du es weißt", meint er noch, bevor er den Raum für einen Moment verlässt. Nebenan muss eine Küche sein, denn er kommt mit einer hellblauen Schüssel warmer Milch zurück und stellt sie vor mir ab. Ich? Der Held von jemand? Unmöglich. In den letzten Jahren bin ich vieles gewesen, besonders ein Angsthase, aber keineswegs ein Held. Niemals. Absoluter Schwachsinn.
Ich mustere ihn besser, um mich von diesem absurden Gedanken abzulenken, und jetzt fällt sie mir auch auf. Die tiefe, lange Narbe an seinem Hals. Sie zieht sich bis zu seinem Rücken. Sie ist bestimmt nicht die einzige auf seinem Körper. Ob sein Herz dafür weniger vernarbt ist?
Eine bestimmte Frage leuchtet plötzlich in meinen Augen auf: „Wo ist deine wahre Liebe?" Für gewöhnlich neigen Ärzte dazu, ihre geliebten Tiere und Menschen in gerahmten Bildern in ihrem Arbeitszimmer auszustellen, um sie immer bei sich zu wissen. Doch ich kann nur allen möglichen Katzenbilder sehen. Auch die grau getigerte Katze: Akira. Sie ist wirklich hübsch mit ihren schiefergrünen Augen.
Der Tierarzt beugt sich vor und blickt mich fröhlich an. „Ich versuche deine Frage zu erraten. Wenn ich die richtige erwische, nickst du." Das ist eine gute Idee. Nachdenklich reibt er sich die Hände. „Also: Wie lange habe ich gebraucht?" Er wartet. „Okay, das nicht. Hm, vielleicht wie ich es als Katze überlebt habe?" Nein. „Auch nicht? Warte." Er zupft sich eine Locke zurecht und setzt sich wieder. „Willst du etwa wissen, was meine wahre Liebe ist?" Seine Lippen kräuseln sich vor Begeisterung.
Sofort nicke ich und werde aufgrund dümmlicher Neugierde aufgeregt.
„Ist es nicht offensichtlich?" Er fängt so zu strahlen an, als würde in ihm die Sonne aufgehen. Als würde der Gedanke an seine wahre Liebe alles von ihm einnehmen, die Welt um ihn herum in ein ewig schönes Licht tauchen. Er streckt die Hände aus und dreht sich mit seinem Stuhl einmal im Kreis. „Mein Beruf ist meine wahre Liebe. Ich liebe nichts mehr auf dieser Welt als den Tieren zu helfen."
Was. Zur. Hölle.
„Oh." Sein Grinsen dimmt ab, als mich etwas wie ein Stromschlag durchzuckt und dazu verleitet, auf zu setzen. „Hat man dir etwa erzählt, dass man mit der wahren Liebe die eines anderen meint und dass er sie dir gestehen muss? O je, da hat derjenige aber nicht richtig zugehört." Er legt sich beide Zeigefinger an die Schläfe und seine Stirnfalten nehmen die Tiefe von Mitgefühl an.
Mein Verstand ist wie ein schwarzes Loch. Es zieht alles in meinem Umfeld ein, und es gibt kein Entkommen. All seine Worte sammeln sich in mir an, bis sie sich in einem riesigen Urknall verstreuen. Und dann, so hoffe ich es mit ganzem Herzen, habe ich endlich Klarheit darüber, wie ich zu meinem geliebten Freunden zurückkehren kann und wie ich Keisuke meine Liebe gestehen kann, ohne dass er es für eine Halluzination hält; ohne, dass dieses kleine Herz in eine Supernova sich auflöst. Dann wären es nur er und ich und unsere nie ausgehende Flamme.
Dann wäre es mein Happy End.
„Die wahre Liebe, sie... ", versucht er mir zu erklären und schiebt die Schüssel näher zu mir heran, als möchte er meine Erschütterung auf etwas Anderes lenken. Aber ich blicke ihn scheulos an und konzentriere mich auf das Gespräch, auf die neuen Möglichkeiten, die sich mir bieten werden, sobald ich erfahre, was wirklich mit der wahren Liebe gemeint ist. Dann seufzt er nachgiebig und faltet die Hände auf dem Schoß zusammen.
„Die wahre Liebe, Saejin, kann alles sein. Es kann die Liebe zu dir selbst sein, die Liebe zu deiner Bestimmung – und ja, die hat jeder von uns – , die Liebe zu deinem Leben, oder wie du es gedacht hast, die Liebe für einen anderen. Aber woran du wirklich deine wahre Liebe erkennst, ist es, wenn sie dein Herz erfüllt. Dafür benötigt es nicht unbedingt einen anderen, auch die Selbstliebe kann es ermöglichen. Nicht auf eine egoistische Weise, sondern auf die Weise, wie man seinen eigenen inneren Frieden findet."
Es fehlt noch etwas, damit ich es verstehen kann, und das bemerkt er.
Nervös zupft er da und dort ein Fusseln aus dem Zopfmuster seines Pullovers. „Akira hat es mir damals so erklärt: Wenn ich wieder ein Mensch sein möchte, muss ich das eine finden, was mir fehlt, um in die Welt der Menschen zurückzuwollen."
Jetzt vermeidet er offensichtlich den Augenkontakt, weil er mit dem Blick zum Fenster huscht und seine Stimme rauer wird. Dieses Eingeständnis geht ihm nicht wie weiche Butter über die Lippen. „Mir hat es darin gefehlt zu erkennen, wozu ich tatsächlich fähig bin, weil ich immer in mir einen Versager gesehen habe. Jemand, der es nie zu etwas in diesem Leben bringen wird. Aber jetzt weiß ich, dass ich mir selbst immer nur im Weg gestanden bin, weil ich es gehasst habe, mich etwas zu trauen. Bis ich erkannt habe, wie mich die Rettung von Akira verändert hat. Das muss meine Bestimmung gewesen sein, Akira an jenem Tag zu befreien, hat mich hierher zurückgebracht hat. In ein Leben, das ich nicht bereue. Keine einzige Sekunde davon."
Ich folge seinem Blick nach draußen und kann es nicht glauben. Dort sitzt sie auf der weißen Fensterbank. Die grau-getigerte Katze mit ihren schieferblauen Augen. Sie ist noch schöner als auf dem Bild.
„Wenn ich einem Tier helfen kann, drücke ich damit mein Herz aus", seine Stimme wird weicher, der Anblick seiner Katzenfreundin scheint ihn in alte und schöne Zeiten zurückzuversetzen, „letztlich liegt es an dir selbst zu entscheiden, was für dich deine wahre Liebe ist. Wichtig ist, dass du im Inneren weißt, dass es richtig ist. Ob deine Gefühle richtig sind oder dein Tun – aus beiden kann etwas Widerstandfähiges entstehen, das wie ein Baum seine Wurzeln in dein Leben schlägt und dich darin befestigt."
Akira kommt zu uns hinüber und begutachtet mich mit gespitzten Schwanz. „Du bist also der Mensch, von dem alle Streuner erzählen", sagt sie mit melodischer Stimme wie der liebreizende Gesang einer Nachtigall, „du bist wie eine Legende. Das mutige Mädchen mit dem selbstlosen Herzen einer Heldin." Sie schnuppert an mir so, dass mich ihre langen, weißen Schnurrharre im Gesicht kitzeln, und ich gebe etwas wie ein Kichern von mir, womit sie sogleich miteinsteigt. Sie riecht wie ein Pfefferminzblatt. „Peke J ist schon immer ein schlechter Zuhörer gewesen", kichert sie gegen mein Ohr, bevor sie sich vor mich hinsetzt und in ihren Augen sehe ich denselben Sonnenaufgang wie beim Tierarzt. „Vielleicht ist er auch einfach ein verliebter Trottel. Er und Yukidaruma sind unzertrennlich. Sie leben in ihrer kleinen, rosaroten Welt. Vielleicht hat er deshalb geglaubt, bei dir könnte es auch nur die Liebe für einen anderen sein, weil er selbst so verschossen in die Liebe ist." Darüber muss sie wieder lachen.
Das schwarze Loch ist noch dabei, weitere Informationen aufzunehmen, noch mehr kinetische Energie und Sternenstaub.
„Vielleicht aber stimmt es", meine ich zu ihr, „ich habe nie wirklich gewusst, wie sich echte Liebe anfühlt oder was sie ist. Bis ich mich in Keisuke verliebt habe. Seitdem erkenne ich immer mehr, was es heißt, einen anderen zu lieben."
„Darf ich?" Sie streckt ihre Nase in Richtung der Schüssel und schenkt mir einen zuckersüßen Katzenblick, dem wohl keiner widerstehen kann.
„Klar, ich habe sowieso keinen Hunger." Das ist nichtmal gelogen.
„Aber ist es auch die Liebe, die dir wirklich fehlt?"
Das schwarze Loch dehnt sich langsam aus. Es bereitet sich auf den Urknall vor.
„Ich..."
„Ich lasse euch zweimal alleine. Bis morgen, Saejin, Akira." Der Tierarzt, dessen Namen mir einfach nicht einfällt, verabschiedet sich von uns und verlässt sein Arbeitszimmer. Wahrscheinlich ist seine Praxis direkt mit seinem Haus verbunden, sonst hätte er den Raum nicht so mit entspannter und zufriedener Mimik verlassen. Dann macht es Klick in meinem Bewusstsein: Hat er mich wirklich zur Beobachtung dabehalten oder dient das hier noch einen anderen Zweck? Aber warum versucht er mir zu helfen? Oh, natürlich: Weil er nicht wegschaut, weil er dort helfen tut, wo er auch helfen kann.
Als würde Akira ahnen, was in mir vorgeht und auf den Urknall warten, verschwindet sie mit der Schnauze in der Milch. Das Feingefühl von Katzen ist unausstehlich.
Ist meine Liebe zu Keisuke wirklich die, die mir gefehlt hat? Ist es seine Liebe, die mir gefehlt hat? Oder... Ich will gar nicht daran denken, aber es wäre immerhin möglich. Oder ist es etwa die Liebe meiner Mutter, die mir nach allem noch fehlt? Eine ehrliche Mutterliebe? Eine gesunde Mutter-Tochter-Beziehung? Oh mein Gott, ich habe es ausgesprochen. Nur in Gedanken, doch da ist er schon. Unaufhaltsam und scheppernd.
Der Urknall.
„Also doch nicht." Milch tropft von Akiras Mäulchen, als sie meinem fassungslosen Blick auffängt. „Was ist es?", fordert sie neugierig und leckt sich eifrig die Flecken weg. „Sag schon! Los!"
„Es ist meine Mum."
Storge – er ist ein griechischer Begriff, der mir damals bei meiner Google-Suche „Lieben mich meine Eltern?" aufgeploppt ist. Storge steht für die natürliche Liebe und Zuneigung einer Familie. Von Elternteil zu Kind und zurück. Auch bekannt als die natürliche, wahre Liebe. Aber Storge empfinde ich nicht für meine Mutter. Storge empfindet sie auch nicht für mich. Warum, hat sich mir noch nicht ergeben. Ich habe schlecht zu ihr hingehen und fragen können, ob sie mich eigentlich liebt – weil sie mir sowieso nicht geantwortet hätte. Sie wäre wahrscheinlich auf ein anderes Thema umgestiegen, oder hätte mir eine Gegenfrage gestellt, sodass ich die eigentliche Frage vergessen hätte.
Warum ich mir sicher bin, dass sie mich nicht liebt?
Weil nichts an ihrer Liebe für mich natürlich ist und weil da nichts natürlich zwischen uns ist.
Ich bin ein ungeplantes Kind gewesen, ein Riss in ihrer Struktur, aber ob das Grund genug ist, mich nicht zu lieben, weiß ich nicht. Aber ich wüsste es echt gerne. So sehr. Was ich allerdings auch bin und das ist wichtiger als alles andere: kein Kind mehr. Ich bin ein Teenager, und damit fange ich an, den Unterschied zwischen echter und nicht echter Liebe zu erkennen. Sie glaubt es, mir noch vorspielen zu können, aber ich... ich habe dieses Spielchen satt.
Jetzt wünsche ich mir am liebsten einen Supernova-Moment mit Keisuke.
Einer, der in mir dieses beschissene Gefühl weg bombardiert.
Dieses beschissene Gefühl, das ich es nämlich doch tue.
Ich empfinde Storge.
Für meinen Dad.
Und... für meine Mum.
Scheiße, was mache ich jetzt?
❀.❀.❀.❀
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