the worst meteorite impact ever.
✾ ∂αмαℓѕ
„Eine Privatschule?" Ich konnte es nicht fassen. Selbst beim gemeinsamen Abendessen konnten sie nicht damit aufhören, mit ihren Schlechtwetternachrichten mir meinen regenfreien Tag zu verderben. Dabei gab es heute Abend die geliebten Botchan Dangos meiner Mum als Nachspeise. Das Rezept dazu hatte sie von meiner Oma väterlicherseits, die wie wir in Tokio wohnte. Leider besuchten wir sie nicht oft, meine Eltern hielten es nicht für gut, wenn ich mit jemand in Kontakt trat, der irgendwann in naher Zukunft sterben könnte.
Meine Oma war die gesündeste Person, die es mit 62 Jahren noch gab.
„Ja, wir haben uns gedacht, du würdest dich dort besser wohl fühlen", versuchte meine Mutter mir ihre Entscheidung auf eine sehr verräterische Art einzutrichtern. Ich hasste diese Art. Diese verräterische Art, wo sie glaubte, mich besser zu kennen als ich mich. „Du könntest dort Freunde mit den gleichen Interessen finden. Diese Schule fördert extra solche künstlerischen Talente wie dich."
Oh, jetzt wurde ich auch noch gebauchpinselt. Wie ein kleines, bockiges Kind, für das sie mich immer noch hielten, verschränkte ich die Arme vor der Brust und widmete ihnen meine bloße Sturheit.
„Ich werde die Schule nicht wechseln. Auf gar keinen Fall! Das wird mich nur noch mehr zu einer Außenseiterin machen", verteidigte ich mich trotzig und atmete tief durch. „Außerdem habe ich doch Freunde gefunden. Keisuke und Chifuyu. Sie sind meine besten Freunde."
Meine Mutter stöhnte auf und fasste sich an die Stirn. Ihre kirschblütenpinke Haare hatte sie zu einen ordentlichen und strengen Zopf gebunden, so dass ihr keine einzige Strähne davon in das rundliche Gesicht fiel. Selbst an ihrem Äußerlichen schien alles geradezu glatt und faltenlos zu sein.
„Saejin", fing sie mit diesem übertriebenen ernsten Ton eines Elternteils an und massierte sich die Schläfen, als würde sie plötzlich schreckliche Kopfschmerzen bekommen. Es musste anstrengend sein, auch noch über ein weiteres Leben zu bestimmen – und erst recht, wenn dieses so streikte. „Sie sind keine richtigen Freunde. Nicht für ein Mädchen wie dich. Sie sind doch der Grund, wieso du zur Außenseiterin geworden bist." Die erste Lüge, und die zweite folgte gleich darauf: „Sie tun dir nicht gut, das sagen wir dir immer wieder, aber du willst einfach nicht hören."
„Das ist überhaupt nicht wahr! Ich bin nicht ihretwegen eine Außenseiterin, sondern, weil ich so bin wie ich eben bin. Und es ist mir egal, ob mich andere mögen oder nicht – aber Keisuke und Chifuyu, die sind mir verdammt wichtig. Sie sind das Beste, was mir hier in Japan passiert ist!", werfe ich ein und habe endlich die Kraft gefunden, meine besten Freunde in Schutz zu nehmen. „Ihr könnt nicht einfach über mich bestimmen, als wäre ich noch ein kleines, 6-jähriges Kind. Ihr habt mich schon von meinen Freunden aus Seoul getrennt, weil sie euch offenbar auch nicht gepasst haben." Es war befreiend, die Wahrheit herauszulassen. Nach all den Jahren, wo ich nicht verstand, warum ich so wütend auf diese Welt war. Es war nicht die Welt, nicht die echte – aber die Welt, die mir meine Eltern vormachten, die war es. Sie war absolut schwachsinnig. „Am liebsten wäre es euch doch, wenn ich einsam und verlassen in meinem Zimmer verrotte!"
Zornig stand ich von meinem Platz auf und legte mit meinen zittrigen Händen ein paar der Dangos auf eine Serviette nebeneinander. Ich hatte bereits vor abzuhauen. Schon seit einer geraumen Zeit. Mich endlich von ihnen zu befreien und irgendwohin zu gehen, wo ich einfach ich sein konnte und wo ich die mögen durfte, bei denen sich meine Gefühle so verdammt richtig und echt anfühlten wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Diese Gefühle wollten endlich ausgelebt werden.
Meine innere Kompassnadel drehte sich wild in ihrer eigenen Achse, weil da war diese Barriere meine Eltern und sie war groß und entzog allem die Magie. Selbst der Liebe.
Ich sah meiner Mutter nicht ins Gesicht, als ich die nächsten Worte aussprach, da ich genau wusste, wie sie mich anschauen würde. Wie eine überfürsorgliche Mutter, die glaubte, ihre Tochter in einem Turm vor allem beschützen zu können.
„Aber ich bin ein freier Mensch – sowie ihr. Und ich bin alt genug, um meine eigene Entscheidung zu treffen, deshalb werde ich nicht auf diese Privatschule gehen", sprach ich laut weiter und hoffte, sie wenigstens damit erreichen zu können. Aber ich hatte den Eindruck, sie würden das nicht mal wollen. Sie wollten sich nicht von ihren eigenen Ketten lösen – aber ich, ich hatte endgültig genug davon! Dann legte ich noch eine weitere Serviette über die Dangos, immer noch auf meine Finger starrend. „Ihr könnt mir alles wegnehmen, kein Problem. Meine Malsachen, mein Zimmer, meine Kunstwerke..." Ich erhob zum ersten Mal meine Stimme gegenüber meinen Eltern, und nichts fühlte sich in diesem Augenblick besser an. „Doch ich bleibe auf dieser Schule und die zwei Jungs bleiben auch meine Freunde! Ob es euch passt, interessiert mich nicht! Ich weiß, dass sie mir nämlich sehr gut tun und immer für mich da sind."
An ihnen zu denken gab mir außerordentlich viel Mut.
Jetzt traf ich auf den Blick meiner Mutter, und sie wirkte ungewöhnlich ruhig, obwohl ich sie fast anschrie. Mein Vater hingegen hielt sich komplett aus der Diskussion raus und lehnte im Stuhl zurück. Jedenfalls für das Erste. Er wusste, wann er einschreiten musste, und das kotzte mich an. Gerade kotzten mich die beiden so an. Wie konnten sie es wagen, noch weiter über mich zu bestimmen? Was erlaubten sie sich, mich auf eine Privatschule schicken zu wollen? Gegen meine Einwilligung?
Ehe ich mich darauf vorbereiten konnte, nahm meine Mutter einen scharfen Atemzug und schmetterte los.
„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie deine Freunde sind, mein Kind? Jungs wie diese werden dich irgendwann verlassen. Sie sind keine richtigen Freunde, sie sind noch jung und wenn sie erstmal älter werden, werden sie andere Dinge im Kopf haben, die nicht gut für dich sind." Sie startete, die überfürsorgliche Mutter, die bereit dazu war, ihr eigenes Kind ein Leben lang in einem einsamen Turm einzusperren, damit ihr nichts angetan wurde. Doch das war hier kein Märchen, es war meine Liebesgeschichte und mein Leben. „Deshalb wäre es gut, wenn du dir andere Freunde suchst. Freunde, die so sind wie du. Du selbst bist noch jung und kannst nicht wissen, was gut oder schlecht für dich ist, daher kannst du noch keine eigenen Entscheidungen treffen. Wir übernehmen das stattdessen für dich." Sie lächelte mich gekünstelt an.
„Das will ich aber nicht!" Wut kochte in meinem Bauch auf. „Warum müssen meine Freunde so sein wie ich? Das macht doch gar keinen Sinn! Was du sagst, macht keinen einzigen Sinn. Ich weiß sehr wohl, was für mich gut oder schlecht ist." Ich holte Luft und brauchte mehr Sauerstoff, weil mein Zorn unkontrolliert aufdampfte. „Ihr seid schlecht für mich!" Der letzte Satz mischte sich mit Zorn und Verzweiflung, ein Knoten, der sich ebenso in mir zusammenzog.
Nun hielten meine beiden Eltern den Atem an und tauschten einen entsetzten Blick miteinander aus.
„Das ist doch wegen diesem Keisuke, nicht wahr?" Meine Mutter verlor die Kontrolle über ihre besonnte Art und faltete die Hände vor sich zusammen. Sie fing an, mir direkt in die Brust zu stochern. „Seitdem du mehr Zeit mit ihm verbringst, benimmst du dich so seltsam. Was ist mit Chifuyu? Er besitzt immerhin Anstand und ist uns gegenüber stets sehr höflich. Wieso vernachlässigst du ihn auf einmal? Ich dachte, du magst ihn. Ihn könnten wir vielleicht akzeptieren."
„Ihr seid echt widerlich!", erwiderte ich mit puren Abschaum in der schrillen Stimme. Ich nahm die eingepackten Dangos in die Hand und ging einen Schritt zur Seite. Meine Schultern bebten, mein angeschlagenes Herz hämmerte so wild, dass ich fühlen konnte, wie meine Brust vibrierte und fast explodierte vor Zorn. Ich wollte hier nicht mehr sein, in diesem Raum, in diesem dunklen Turm. „Ihr redet über andere so, als gäbe es eine Skala dafür, wie man andere bewerten muss. Als wärt ihr eine zehn und alle anderen nur eine eins. Das widert mich echt an! Wie könnt ihr euch nur so aufführen, als stünde ihr über alle und jeden, bloß weil wir nie Geldsorgen haben werden?"
Ich hasste sie. ich hasste, hasste, hasste sie! Da war niemand, der mich zurückhielt sowie ich sonst Keisuke daran hinderte, auf meine Mitschüler loszugehen. Zwar benutzte ich nicht meine Fäuste, dafür aber einer der mächtigsten Werkzeuge überhaupt: Worte. Aufbrechende Worte. Vernichtende Worte. Worte, die dem Einschlag eines Meteoriten glichen.
„Ihr mögt Keisuke nicht, aber ich finde, er ist ein viel besserer Mensch als ihr zwei jemals sein werdet. Er lässt mich frei entscheiden und mich so sein wie ich bin! Chifuyu mögt ihr nur, weil er sich von euch um den Finger wickeln lässt, aber Keisuke nicht. Das ist der einzige Grund, wieso ihr ihn nicht mögt." Meine Finger verkrampften sich um das Serviettenpäckchen. „Ihr könnt es nicht leiden, wenn andere ihren eigenen Willen haben."
Wenn ein Meteorit die Erdoberfläche durchbrach, fing er immer mehr Feuer mit der Zeit, die er sich den Boden näherte.
„Saejin!" Meine Mutter packte dasselbe Feuer, während sie düster ihre sonnengelben Augen verzog. „Wer hat es dir erlaubt, mit so einem frechen Mundwerk zu reden? Du solltest uns respektieren", keifte sie böse, aber ihr Tonlaut blieb ruhig und eine klare Linie.
„Euch respektieren?" Keisuke hätte in diesem Augenblick gelacht, ich konnte mich geradeso noch zurückhalten. Ein wenig Respekt sollte ich tatsächlich bewahren. „Ich wünsche mir, ich könnte euch respektieren, aber wie soll ich das, wenn ihr mich an meinem eigenen Leben berauben wollt? Wenn ihr mir vorschreibt, wen ich zu mögen habe und wen nicht? Ihr könnt es nicht mehr ändern, meine Gefühle sind nicht rückgängig zu machen. Sie sind fest in meinem Herzen."
Die überfürsorgliche Mutter verwandelte sich in Binnen von Sekunden in eine fiese Hexe. Es war erstaunlich, wie viel Kontrolle sie über ihre Stimme und sorgsamen Ton hatte. Sie musste schon jahrelang diese eiserne Mimik geübt haben. „Du kannst dich nicht verlieben, mein Kind. Und vor allem nicht in diesen Keisuke. Er wird dir das Herz brechen. Typen wie er sind von Natur aus Herzensbrecher, die nur mit hübschen und schwachen Mädchen wie dir spielen. Weißt du, was mit dem Mädchen passiert, mit denen gespielt wird?"
Wenn der Meteorit endlich einschlug, dann kühlte er innerhalb weniger Minuten ab.
Ich spürte es noch, das hitzige Feuer dieser übernatürlichen Reaktion, aber es klamm ab. Meine innere Kompassnadel wurde langsamer und langsamer, dann hielt sie bei einem bestimmten Punkt an: den Nordpol.
Meine Hand umklammerte die Dangos so fest, dass ihre spitzen Ende unangenehm die Haut durchdrangen. „Was passiert mit ihnen?", murmelte ich erschlagen.
Kurz tauschten meine Eltern einen besorgten Blick miteinander aus, dann redete mein Vater anstelle der bösen Hexe.
„Sie werden nie wieder lieben können. Willst du das etwa?"
Ich dachte darüber nach, wirklich lange, und für einen erschütternden Herzschlag erschien es so, als würde ich ihnen glauben. Aber dann horchte ich auf das einzig richtige in diesem Moment: auf mein Herz. Und dieses erinnerte mich daran, dass es bis jetzt immer das gewesen war, das sie nie hatten beeinflussen können. Dabei sollte es bleiben.
„Was überzeugt euch davon?" Ich sah sie durch eine tränenverschleierte und verschwommene Sicht an. Dieser Streit war ermüdend und hinterließ viele Schlaglöcher, die sich nun bemerkbar machten, und mich interessierte es nicht, dass sie meinen Schmerz sehen konnten. Ich zeigte ihnen, wie sehr sie mich verletzten, neue und alte Wunden, und dass ihre Worte nur der Meteorit waren, der in eine Welt schlug und zerstörte, in der ich meine Eltern liebte. Gerade hatte ich das entsetzliche Gefühl, als wären sie wirklich bloß zwei Puppenspieler und ihr geliebtes Stück – mein Leben – wurde ihnen von jemand anderem gestohlen. Von mir. Nur mir und nicht Keisuke.
Diese Entscheidung traf ich aus nur einem einzigen Grund: um frei zu sein.
Mein Vater seine Mimik blieb eine kühle Fratze. „Die Weise, wie er dich ansieht, mein Kind.
Ich schloss die Augen und versuchte, bei dieser offenbaren Täuschung stark zu bleiben. „Wie sieht er mich denn an?"
„Als würde er dich insgeheim hassen." Lüge, Lüge, Lüge! „Wir haben es schon viel früher bemerkt." Er legte seinen Arm um meine Mutter wie ein bildliches Sinnbild dafür, dass sie meine schützende vier Wände waren. „Er ist immer noch in Anspannung, wenn er in deiner Nähe ist. Wir haben auch beobachtet, wie er bei deinen Umarmungen versucht zurückzuweichen." Ein kurzer Seufzer. „Er mag dich nicht, Saejin, und wir nehmen an, er versucht dich nur wegen Chifuyu zu mögen. Du bist nicht das richtige Mädchen für ihn. Mädchen wie du sind bloß leichte Beute für ihn."
Ich blinzelte verzweifelt, doch die Tränen worden plötzlich mehr. „Mädchen wie ich?"
Sie nickten wie eine Maschine, als sie meinen verunsicherten Blick auffingen.
Meine Mutter stand auf und kam so zu mir herüber. Sie ging auf mich zu wie auf ein verängstigendes Reh, und in diesen Moment glaubte ich das auch zu sein. Ein Reh, dass das Leben fürchtete. Sie hob die Hand und strich mir einige Strähnen hinter das Ohr.
„Du entsprichst keinem typischen Mädchen, mein Kind. Du bist ein Talent, eine Künstlerin, und er ist ein impulsiver Junge, der irgendwann wegen seinen Taten im Gefängnis landen wird. Das wird der Punkt sein, wo er für immer von dir gehen wird."
So ganz unrecht hatte sie nicht.
Keisuke legte es tatsächlich immer darauf an.
Aber zwei oder drei Jahre ohne ihn schien ich auszuhalten zu können – aber ein ganzes Leben wollte ich ihn nicht mehr missen müssen.
Meine Mum breitete ihre Arme aus und wollte mich auf eine falsche und lieblose Art trösten. Ich blickte sie nachdenklich an, und auf einmal fragte ich mich: Liebten sie mich eigentlich? Weil wenn ja, war elterliche Liebe nichts als ein menschlicher Impuls ohne Bedeutung.
Diese Erkenntnis war der härteste und schmerzhafteste Meteoriteneinschlag, den ich jemals gefühlt hatte.
Aber dieser Einschlag bewirkte auch was Anderes: ihre Barriere brach in mir. Die Magie war frei.
Weshalb ich ihr auswich. „Und?", entgegnete ich ihr kalt und gleichzeitig kitzelte mein Herz vor magischem Kribbeln und Sehnsucht nach dem abenteuerlustigen Schwarzhaarigen, dass ich es kaum noch im dunklen Turm aushielt. Meine Knie worden buttrig – vor Ungeduld. Mein Entschluss lag in den Trümmern meines alten Lebens, und da war die reichende Hand eines neuen Lebens, das mir die Macht bot, selbst darüber zu entscheiden. Ich ergriff diese Hand, und stellte mir dabei Keisukes große und starke Hand vor.
Er hielt mich selbst, wenn er nicht bei mir war. Er hatte wirklich über meine Eltern gesiegt.
„Das Leben kann nicht kalkuliert werden. Aber Entscheidung können dazu beitragen, wo man später sein möchte und wo nicht. Und ich entscheide mich hier und jetzt dafür, euch zu verlassen. Für immer. Ich werde dorthin gehen, wo ich wirklich sein möchte – und nie wieder zurückkommen!" Erbärmlich von mir. Ich schaffte es nicht, mein Schluchzen hinunterzuwürgen und kehrte ihnen den Rücken. Das Dango-Päckchen flog auf den Boden. Ich brauchte keine Erinnerungsstücke, die Einschlagslöcher auf meinem Herzen richteten schon genug Schaden an. „Ihr werdet kein weiteres Mal über mein Leben bestimmen, es ist MEIN Leben! Ab sofort bestimme ich darüber. Und das heißt, ich werde nicht auf diese Privatschule gehen. Ich werde meine Freunde nicht verlassen, und ich werde mein Herz darüber entscheiden lassen, in wen ich mich verliebe und in wen nicht!"
„Aber Saejin", jammerte meine Mutter, „das kannst du nicht. Du kannst uns nicht verlassen. Wir sind deine Eltern. Du brauchst uns."
„Nein!" Für ein letztes Mal drehte ich mich zu ihnen herum. Für ein letztes Mal zeigte ich ihnen meine Tränen, die von einem Kampf sprachen, den ich um keinen Preis auf der Welt verlieren würde. Ich hatte genug davon, eine Marionette zu sein. Endgültig. „Ich brauche euch nicht", sagte ich ernst und beide zuckten zusammen, während sich auf ihrer Stirn Falten bildeten, die Blitze glichen. Blitze, die auch in ihnen tobten. Ich beschwor einen Sturm, den keiner in diesem dunklen Turm so schnell vergessen würde. „Ich brauche niemand, und besonders keine Eltern, die mich hier gefangen halten wollen wie in einem Käfig. So funktioniert das nicht, Mum, Dad."
Es tat weh, sie trotz der herzzerreißenden Umstände mit diesen Kosenamen anzusprechen, weil ein Teil von mir immer daran festhalten würde, sie als meine Eltern zu betrachten. Ein Teil, der nicht gebrochener sein konnte.
„Ihr behandelt mich immer noch wie ein kleines Kind, das ihr vor dem bösen Mann mit dem Süßigkeiten-Van beschützen müsst. Aber ihr seid die letzten Jahre meines Lebens zu diesem bösen Mann geworden, und jetzt habe ich den Willen dazu gefunden, mich davon zu befreien." Das dicke Eis ihrer lang bewährten Maske schien zu schmelzen, meine Mutter ihre Mundwinkel sackten nach unten.
„Keisuke ist kein Herzensbrecher. Er ist vielleicht ein Draufgänger, aber er würde niemand beabsichtigt wehzutun. Er spielt mit dem Leben, aber nicht mit Menschen. Bei ihm kann ich so sein wie ich will, und durch ihn entdecke ich Dinge in der Welt, so viele schöne Dinge, die nicht in irgendwelchen Büchern beschrieben oder bildlich dargestellt werden. Diese Dinge können nur von einem erlebt werden. Und mit Keisuke... kann ich all das sehen. Es tut mir leid, Mum, Dad – doch ich bin nicht mehr euer kleines Kind. Ich bin ein junges Mädchen, und ich bin bereit dafür, erwachsen zu werden, um noch mehr von diesen echten Dingen dieser Welt zu erleben."
Meine Hand wanderte zu meiner Brust.
„Wir werden dir es verbieten, ihn jemals wiederzusehen!", zündete mein Vater und schlug mit der Faust auf den Tisch auf. Jetzt hatte ich seine Geduld ausgereizt. In seiner Stimme lag der ganze Hass für Keisuke offen. Ein gewaltiger, unermesslicher Sturm. Er stand auf und stampfte zu mir hinüber – aber ich ging einige Schritte zurück in Richtung Tür. „Du wirst nirgendwohin gehen, Saejin! Und du wirst dir nochmal deine Worte ganz genau überlegen!" Er konnte mich nicht anbrüllen, musste es allerdings nicht. Sein scharfer Ton genügte, um das Einschlagloch in meiner Brust auszuweiten. „Dieser Baji hat dir schon von Anfang diese dummen Flausen in den Kopf gesetzt! Es reicht für allemal, Saejin!"
„Xiao!" Meine Mum starrte ihn entsetzt an.
Er schüttelte den Kopf und verzog das lange Gesicht. Er hatte mich noch nie so angesehen, so, als wäre er furchtbar enttäuscht von mir. Das kratzte an meiner Entschlossenheit. Ich wurde zum Albtraum einer Tochter. „Nichts da, Schatz. Unsere Tochter hat für heute genug Schwachsinn geredet", meinte er kurz zu ihr, bevor er sich vor mir aufbaute und mit einem tiefen Brummen mich ankeifte. „Du wirst jetzt sofort auf dein Zimmer gehen und..."
„Nein!" Ich konnte nicht mehr. Jetzt musste ich einfach schreien. Wut, Verzweiflung und Schmerz waren einzeln schon schlimm genug, doch zusammen schienen sie mich vollkommen von meiner Schwerkraft reißen zu wollen. „Ihr braucht doch gar keine Tochter wie mich! Eine Marionette passt viel besser zu euch! Deshalb werde ich abhauen. Tokio verlassen!" Auf einmal hörte ich mich wirklich wie ein kleines Kind an, das nicht wusste, wie man über sein eigenes Leben bestimmte. Sie machten das aus mir, selbst jetzt noch hatten sie diese Macht über mich. „Ihr könnt froh sein, wenn ich euch die Entscheidung abnehme, wo ich hingehe werde. Denn da, wohin ich hingehe, möchte ich auch wirklich bleiben."
Bevor mich die Blitze meines Vaters trafen, stürmte ich aus dem Haus. Ohne Jacke, ohne Schuhe. Lediglich mit Socken und einem Kleid, das viel zu dünn für das Wetter war. In den letzten Wochen hatte es noch im frühen Frühling geschneit. Es war kalt und meine Füße innerhalb weniger Schritte komplett durchnässt, aber das hielt mich nicht auf. Ich stieg auf mein Fahrrad und verließ die Einfahrt meines ehemaligen Elternhauses.
„Saejin, warte!" Meine Eltern waren mir nach draußen gefolgt. Meine Mutter wirkte sichtlich nervös, das Gesicht meines Vaters war tomatenrot vor Zorn. Die Falte auf seiner Stirn würde demnächst platzen.
„Du kommst sofort von deinem Fahrrad runter und wieder in das Haus!", brüllte er mir nach. „Oder ich werde die Polizei rufen!"
Wird er sowieso nicht, er wird nicht einfach so den guten Ruf unserer Familie in der Nachbarschaft riskieren, dachte ich mir belanglos, und radelte in die kalte Frühlingsnacht los. Gelenkt von meiner inneren Nadel und die magische Anziehungskraft meines einzigartigen Nordpols.
In dieser Nacht kämpfte ich nicht nur gegen den Schnee und die ganze Welt. Es war auch ein schleppender Kampf, wer ich sein wollte und wer nicht. Einerseits wollte ich eine gute Tochter sein, auf die sie weiterhin stolz sein würden, und andererseits wollte ich zu einer Abenteuerin werden und gemeinsam mit dem größten Abenteuer dieser Welt mich selbst finden.
Und ich konnte es spüren: jeder Meter, den ich mich von meinem Elternhaus entfernte, trennte mich von meinen alten Leben und Verpflichtungen. Ich löste mich von ihnen, die letzte Reste meiner Nabelschnur wurde durchtrennt. Meine innere Nadel trieb mich immer weiter weg; weg von den Menschen, die mich für unreif hielten und glaubten, mich beschützen zu müssen, die mich für ein schwaches Mädchen hielt, das sich in den falschen verliebt hatte. Jeder Meter, den ich meinem einzigartigen Nordpol näher kam, trug mich zu einem Ort, den ich liebend gern „mein Zuhause" nannte.
Da konnte ich es sein.
Das Mädchen, das ich wirklich war.
Und ich hoffte, Keisuke war bereit dazu, mit mir noch mehr von diesem Mädchen zu entdecken.
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