the true power of hate.
✾ ∂αмαℓѕ
Er hatte mich doch noch dazu überreden zu können, mir seine Wut-rauslassen-Methode zu zeigen. Umso überraschter war ich, als wir dafür wieder in die eisige Kälte mussten. Er versicherte sich davor, dass ich genügend Kleidungsschichten trug: eine Thermo-Leggings, ein Shirt von ihm und eines seiner Mutter, darüber seinen schwarzen Hoodie und eine alte Lederjacke von ihm, die mir viel zu groß war. Aber sie roch so schön nach regennassen Wiese und Fichte, dass man mich mit ihr gemeinsam begraben müsste, weil ich sie nie wieder ausziehen wollte. Seine Mutter hatte dieselbe Schuhgröße wie ich, so konnte ich ein altes Paar Winterstiefel von ihr für unseren nächtlichen Trip borgen.
Während sie damit beschäftigt war, mir passende Socken herauszusuchen, hatte Keisuke einfach ihren Autoschlüssel gemopst. Sie würde früher oder später dahinterkommen und wahrscheinlich einen halben Herzinfarkt bekommen, weil ihr Sohn tatsächlich schon Auto fahren konnte. Ohne Führerschein.
Würden meine Eltern das erfahren, dann... Nein, damit ich sollte aufhören. Darüber nachzudenken, was meine Eltern tun würden, würden sie von bestimmten Dingen mitbekommen. Wichtiger war es, dass ich mit dieser Entscheidung zufrieden war – und verdammt, ja, das war ich. Es fühlte sich sogar wie ein richtiges Abenteuer an. Mit Keisuke heimlich in dem Auto seiner Mutter fahren? Adrenalin hoch zehn. Und dann noch im verschneiten Tokio? Ich konnte mir den ersten Abend in Freiheit nicht besser vorstellen.
„Was hast du deiner Mutter eigentlich erzählt, warum ich die Nacht bei euch bleibe?", fragte ich ihn und spielte mit dem Saum seines Hoodies, als er den Motor startete und dieser abnormale Klackergeräusche machte. Selbst für meine nicht vorhandenen Autokenntnisse hörte sich das ungesund an.
„Gar nichts. Sie glaubt, dass ich dich nach Hause bringe." Er blieb gelassen, beugte sich zum Radio und suchte wohl nach einem gewissen Sender. Ich hatte den schrecklichen Verdacht, er kannte das Auto besser als seine Mutter. „Mach dir keinen Kopf", grinste er mich an, neigte den Kopf leicht nach unten, um seine Haare aus dem Gesicht zu werfen, und mein Herz setzte schon bei den Klängen eines Saxophones aus. „Sie wird schon schlafen, wenn wir zurück sind. Sie wird dich nicht bemerken." Als hätte er mir nur sein vorheriges Geheimnis anvertraut, um mich selbst zu seinem größten und wichtigsten zu machen. Mein Herz veranstaltete abnormale Purzelbäume.
Und dann noch das: Er hatte einen Jazz-Sender eingeschaltet. Das hätte ich nicht von ihm erwartet.
„Wir können auch deine Musik hören", meinte ich deshalb und bewegte meine Hand zum Radio, aber da hielt er mich am Handgelenk zurück.
Er schnaubte und ließ mich bei meinem geschockten Ausdruck los. „Was für ein Schwachsinn, Saejin", brummte er mit seiner Samtstimme und drehte dann die Heizung auf, „ich mag diesen Sender wirklich. Um diese Uhrzeit spielen sie die besten Stücke."
„Oh." Mit brennenden Wangen starrte ich aus dem Fenster. Es flogen so viele Schneeflocken vom Himmel wie ich die Chance hatte, lebensverändernde Entscheidungen zu treffen. Aber ich hatte nur eine Chance, ihm meine Gefühle zu gestehen, und ich hatte sie an diesem Abend nicht ergriffen. Es war, als hätte die Decke von schimmernden Eiskristallen mir diese eine einzige Möglichkeit nicht sehen lassen. Und vielleicht hatte ich in diesem einem Augenblick einfach zu sehr versucht, zu leben, um das eigentlich wichtige unbeachtet zulassen: meine Gefühle.
Die Heizung funktionierte nicht, und ich dachte bei dem benzinartigen Geruch daran, wie unterschiedlich wir zwei lebten. Der Jeep meiner Eltern hatte nie seinen Neuwagenduft verloren – aber in diesem alten VW nahm ich unglaublich viel Leben und Erinnerungen wahr, dass mein Herz anschwoll. Die Autos unserer Eltern stellte die Unterschiedlichkeit zwischen uns perfekt dar.
Er war vom Leben bereits früh gekennzeichnet worden. Er kämpfte mit seiner Mutter um den Erhalt ihrer wirklich kleinen Familie. Sie hatten nur sich zwei – und auch, wenn er ständig erwähnte, wie sehr er sie hasste, war sie nur ein weiterer Mensch auf seiner Rettungsliste, die ihn brauchte. Ich gehörte auch zu dieser Liste und fühlte mich absolut schrecklich deswegen. Das wollte ich nicht sein; ein weiterer auf seiner Rettungsliste. Dass ich das richtige Mädchen für ihn sein wollte, war eine Herzensangelegenheit – aber was ich noch für ihn sein wollte, das hatte mit einer lebensveränderten Entscheidung zu tun. Für uns beide.
Ich hatte keine Ahnung vom Leben, schließlich hatten meine Eltern bis dato immer alles für mich entschieden. Bis dato hatte ich auch gedacht, dass ich das auch wollte, und mich ihren Entscheidungen gebeugt. Aber dabei war mir nicht aufgefallen, wie ich das einzig richtige aus den Augen verlor: mein eigenes Leben. Meine Träume, meine Ziele, meine Zukunft. Alles hatten sie für mich übernommen. Zum Glück nicht das Denken oder Fühlen, aber es war schon so genug, um die letzten Jahren aus meinem Kopf zu schmeißen.
Ich war wie ein Neuwagen, der so gepflegt wurde, dass man ihm nie seine Jahre anmerken würde. Aber eigentlich wollte ich was Anderes sein: Eine liebenswürdige Schrottkarre, die irgendjemand so viel bedeutete, dass ihre Beulen und ihr Rost ihre gemeinsame Geschichte erzählten.
Vielleicht wollte ich ja auch das andere für ihn sein.
Ich wollte der jemand für Keisuke sein, der ihn trotz seiner Fehler und Lebensweise beschützte und pflegte wie eine liebenswürdige Schrottkarre. Für mich war diese liebenswürdige Schrottkarre unersetzlich. Unvergleichlich mit einem Neuwagen. Für mich war er die Welt.
„Du bist so still. Also noch stiller als sonst", kommentierte er mein Schweigen. Ging das überhaupt? Noch stiller als still? Ich schien gar nicht aus meiner Gedankenversunkenheit fliehen zu können, dass er keine andere Lösung fand als mir seine Hand auf den Schoß zu legen.
Sofort wandte ich den Blick zu ihm, die Wangen heiß brennend.
„Ich sag dir das jetzt nicht zum erstem Mal, aber du solltest dir immer bewusst sein, ob es diejenigen wert sind, so viel Platz in deinen Kopf einzunehmen." Er grinste die verschneite Straße an, und wäre das Feuer seines Herzens wie die Strahlen der Sonne, wäre die funkelnde Eisschicht bereits geschmolzen. Wie der Schutzwall um mein Herz. „Und wenn ich dir noch einen Tipp geben darf: Deine Eltern sind es nicht."
„Über sie habe ich nicht gedacht", beichtete ich ihm und mein Backenzahn fand wieder die wunde Stelle in meiner Wange. Seine Hand brannte sich durch die Thermoleggings.
Er runzelte die Stirn. „Was dann?"
„Ich habe darüber nachgedacht, wie schön es wäre, würde die Zeit jetzt stoppen."
Diesmal hakte er genauer nach. „Wieso?"
Ich brauchte einen Moment für Luft, damit mein Herz nicht kollabierte. Dann legte ich meine Hand über seine.
„Weil gerade alles so perfekt ist."
„Dann vergiss ihn einfach nicht. Diesen Augenblick."
Ich nickte und unterdrückte Freudentränen. „Das klingt gut."
„Und, Saejin..."
„Hm?"
Seine Kupferfunken übertrafen jegliche Sterne mit ihrem leidenschaftlichen Glühen. „Wein' nicht."
Ich war verwirrt. „Aber ich bin einfach glücklich."
„Ich auch. Aber deswegen mach ich das." Seine Finger glitten zwischen meinen und schnürten sich fest. „Ich genieße den Augenblick – und besonders deine Ehrlichkeit und Nähe."
Ein zartes Schniefen überbrückte mein Lächeln. Er war glücklich – das war unheimlich schön zu wissen. Wie Balsam für meine Seele. „Dann machen wir das jetzt gemeinsam." Unsere Geschichte schreiben. Insgeheim.
Er hatte Recht. Um diese Uhrzeit spielten sie wirklich die schönsten Stücke im Radio. Sein Lächeln war das beste von allen.
Wir fuhren nicht mehr lange – zu meiner Erleichterung. Er ließ es sich zwar nicht ansehen, doch die Reifen hatten an manchen Stellen ihre Kontrolle verloren und wir waren leicht über die glatte, gefährliche Oberfläche auf den kaum befahrenen Straßen geschlittert. Ich hielt mich an seiner Hand fest und hatte noch nie geglaubt, dem Tod so nahe zu sein wie in dieser Nacht. Sein dunkles Lachen hatte den gesamten Raum im Auto eingenommen, und er jubelte mit abenteuerlustigen Blick, der mein Herzschlag zum Rasen brachte: „Das war krass! Gleich nochmal!"
Meine Beine fühlten sich wie Pudding an, als ich schließlich die Beifahrertür öffnete und hastig hinausstieg. Bloß raus aus dieser Tötungsmaschine.
Keisuke kam mit seinem Lachen um das Auto herum und verstaute seine Hände in den Taschen seiner Pilotenjacke mit dem weißen Innenfell.
„Es gab schon schlimmere Nächte", schmunzelte er und warf sein zerzaustes Haar nach hinten. Wenn er glaubte, das mich das beruhigen sollte, war das ein schlechter Versuch. „Hatte was von Karusselfahren, oder nicht?
Mein geöffneter Mund vor Fassungslosigkeit entlockte ihm einen rauen Laut.
Ich flehte gedanklich darum, dass seine Mutter endlich lernte, den Autoschlüssel an einem besseren Platz vor ihm zu verstecken. Aber wenigstens war er vernünftig genug, um bei diesem Wetter lieber das Auto zu nehmen als sein Motorrad.
„Sei nicht so steif!", schimpfte er und boxte mir zaghaft in die Seite. „Das nächste Mal fahr ich auch eine weitere Runde um den Kreisverkehr."
Ich schlang die Arme um meinen Bauch und fühlte diese scharfen Kurven immer noch darin rumoren. Schon daran zu denken gab mir ein übles Schwindelgefühl. „Das nächste Mal halte ich meinen Würgreflex nicht zurück!", warf ich ihm rücksichtslos an den Kopf.
Sein Lachen erhellte die dunkle Gegend.
In einer kreisförmigen Reihe beleuchteten einige Scheinwerfer hinter der hohen Mauer vor uns einen bestimmten Bereich. Schneeflocken tanzten wie Staubmäuse der Luft in dem klaren Licht. Es war aufregend und wirkte wie das Schimmern bei einer geheimen Schatztruhe, die hier an diesem dunklen Ort versteckt worden war. Ich war neugierig herauszufinden, was wirklich von den Scheinwerfern eingekreist wurde. Ein kleines bisschen fühlte ich mich ja schon wie Indiana Jones. Keisuke würde ich das niemals sagen, es gäbe ihm nur einen weiteren Grund zu lachen. Das war mir peinlich.
„Wo sind wir?", fragte ich und kaute mir auf der Unterlippe herum.
Er legte seinen Arm um meine Schulter. „Bei meinem Spielplatz."
Sein Spielplatz... Den Blick schweifend konnte ich nicht widerstehen und lehnte mich leicht an ihn. Obwohl mich die vielen Kleidungsschichten davor schützen sollten, fröstelte ich ununterbrochen.
„Keine Sorge, gleich wird es dir wärmer." Sofort folgte ich ihm durch das offene Gatter und zu den schmelzenden Sternschnuppen in meinen Bauch gesellten sich noch Wunderkerzen der Aufregung. Sie zischten allmählich herunter. Ich hätte schon bei dem Gatter erahnen müssen, dass es sich um keine Schatztruhe handeln würde – aber ein alter Autofriedhof war keineswegs ein wertvoller Kristallschädel. Es war die Ansammlung von... Schrott. Also echter Schrott, nicht die menschliche Sorte. Sie stapelten sich übereinander, lagen zur Seite gekippt herum oder einfach ausgenommen wie ein armes Tier auf den schneebedeckten Boden. Jetzt konnte ich auch den gewaltigen Kran der nahegelegenen Schrottpresse erkennen – wie eine gigantische, schwarze Spinne rag sie im Himmel und war bereit dazu, Schrott zu noch mehr Schrott zu zermalmen.
„Wahnsinn!", staunte Keisuke und seine Schritte beschleunigten sich, als er auf einen wirklich verrosteten VW Käfer zu ging. Sein weißer Lack war schon längst ein tiefes und widerliches Braunrot. Hier und dort hinterließ der Rost riesige Flecken auf seiner Haube und dem Dach. Er hatte keine Reifen, und irgendwie... wirkte er traurig und verlassen ohne seine Scheinwerfer.
„Ich wollte schon immer einen Herbie abfackeln!" Er drehte sich zu mir um und lehnte sich mit einem Arm am traurigen VW ab. „Aber ich werde dir den Vortritt lassen", sagte er mit einer Aufregung, als hätte er den Heiligen Gral gefunden. „Du darfst ihn in die ewige Verdammnis schicken, Saejin."
„Ich?", murmelte ich überrumpelt und starrte einen bestimmten Rostfleck an. Seine Form erinnerte mich an Saurons Auge. Wie meine Eltern herrschte auch Sauron fast über alle Leben von Mittelerde. Plötzlich überkam mich das Verlangen danach, dieses Auge in die ewige Verdammnis zu schicken. „Wie soll ich das anstellen?", wollte ich deswegen mit klopfenden Herzen wissen.
„Einen Moment. Irgendwo habe ich sie versteckt." Er suchte hinter den verschiedenen Autos, dann hinter dem kleinen Plastikhäuschen. „Gefunden!" Er kam mit einem roten Kanister in der rechten Hand zurück und stellte ihn vor mir ab. „Zuerst schüttest du das ganze Zeug da drin über den Herbie, und dann zeige ich dir den nächsten Schritt."
„Er sieht traurig aus", machte ich ihn auf meine Entdeckung aufmerksam und steckte meine Hände in die viel zu großen Jackentasche einer viel zu großen Lederjacke.
Wie um meine Aussage zu kontrollieren stellte er sich neben mich und betrachtete intensiv das scheinwerferlose Gesicht des Volkswagen.
„Stimmt", sagte er, während er sich ein Haarband aus der eigenen Jackentasche zog. Er nahm dieses zwischen seine Zähne und band sich seine wilden Haare zu einem Zopf zusammen. Es war faszinierend, wie attraktiver sein Gesicht dadurch wirkte. Seine markanten Züge kamen so noch viel deutlicher zur Geltung. Als könnte er mir mein Staunen ansehen, wich er schnell aus, als sich unsere Blicke trafen.
„Ein weiterer Grund, um ihn von seinem Elend zu erlösen", beschloss er mit rauchigem Ton. „Also? Bist du bereit?"
Bereit ihm meine Gefühle zu gestehen? Nein. Bereit Saurons Auge zu zerstören? Auf jeden Fall.
Entschlossen machte ich einen Schritt nach vorne und hob den Kanister hoch. Er war nicht so schwer wie ich es gedacht hatte. „Dürfen wir das überhaupt? Hier sein?"
Er stöhnte auf. „Manchmal bist du echt wie Chifuyu!"
Plötzlich kamen sie. Diese Sätze, von denen ich mich nicht losreißen konnte.
„Ihn könnten wir vielleicht akzeptieren."
Nein. Sie würden keinen akzeptieren.
Energisch drehte ich den Deckel auf und schmiss ihn zu Boden.
„Sie sind keine richtigen Freunde, sie sind noch jung und wenn sie erstmal älter werden, werden sie andere Dinge im Kopf haben, die nicht gut für dich sind."
Das war normal. Wir veränderten uns täglich. Veränderungen gehörten zum Leben dazu. Aber nur, weil die Jungs, die sie in diesem Alter kannte, vielleicht so waren, bedeutete das nicht, dass es auf die beiden auch zu treffen würde. Noch etwas: Wir waren alle unterschiedlich. Wir alle hatten unsere eigene, kleine Milchstraße, die uns und unsere lebensverändernden Entscheidungen umfing. Die Milchstraßen unterschieden sich. Vielleicht hatte eine mehr Monde, der andere hingegen mehr Sonnen oder Zwergplaneten. Vielleicht hatte die eine Milchstraße die Form eines Schmetterlings, die andere eines einfachen Kreises – aber das war das, was uns ausmachte. Wie unterschiedlich wir doch waren, und trotz dieser Unterschiede konnten wir Bindungen eingehen wie Freundschaft... oder Liebe.
Die rechte Hälfte des Herbie wurde von der dünnen Flüssigkeit eingeschlossen. Hier und dort tröpfelte es herunter, und der strenge, oxydische Geruch von Benzin nahm meine Geruchsinne vollkommen ein. Ich hatte das Gefühl, in dieser Flüssigkeit mein altes Leben wieder zu erkennen, und es fühlte sich befreiend an, es endlich von mir schütten zu können. Bald würde es brennen. Bald würde ich mein altes Leben hinter mir lassen und ein neues, viel Besseres beginnen. Irgendwie war ich froh, nicht weggerannt zu sein.
Mit klopfenden Herzen blickte ich zum schwarzhaarigen Draufgänger und fühlte mich darin bestärkt, das richtige Mädchen für ihn zu sein.
„Seitdem du mehr Zeit mit ihm verbringst, benimmst du dich so seltsam."
Keisuke beobachtete mich mit glühenden Kupferfunken, ein begeistertes Lächeln umspielte seinen schönen Antlitz, das mein Herz zum Kitzeln brachte. Er spielte in der linken Hand mit dem Verschluss eines Feuerzeugs. Mal entzündete er kleine Flammen wie in meiner Brust, mal hörte man nur das Klackern, wenn er mit dem Daumen über das Rädchen strich. Ich atmete aus, aber diese furchtbaren Sätze setzten sich in meinem Kopf fest und pochten stetig fort. Ich ging entschlossen auf ihn zu, um ihn den Kanister entgegenzuhalten.
„Jetzt du", forderte ich ihn sanft auf, „ich möchte dir nicht die Gelegenheit nehmen, einen Herbie zu verbrennen. Also machen wir das gemeinsam."
Sein Lächeln wurde von Verblüffung getroffen. „Was für eine Ehre", grinste er und nahm mir den Kanister ab, „ich darf mit den mutigsten Mädchen auf dem ganzen Planeten einen verdammten Herbie abfackeln." Er hob den Kanister und ließ die beißende Flüssigkeit über die andere Hälfte des VWs verlaufen. Sie biss sich durch den Schnee und bildete kleine Eiszapfen am Blech.
War ich das wirklich? Das mutigste Mädchen? Für ihn? Genügte das, um die richtige für ihn zu sein? Diese ganzen überstürzten Purzelbäume meines Herzens brachten mich dazu, meine zittrigen Finger in die Tasche des Hoodies zu vergraben. Da, wo er ihr rätselhaftes Beben nicht sah.
„Ich bin bestimmt nicht so mutig wie du denkst." Nervös biss ich mir in die Wange und konnte ihn nicht in das Gesicht schauen. Dort würde mich nur das enttäuschende Bekenntnis treffen, dass ich einfach zu verliebt war und dabei die Realität aus den Augen verlor. Die sogenannte rosarote Brille hatte meine Sicht beansprucht.
Er ließ den leeren Kanister los und kam auf mich zu.
„Doch. Du bist wie einer dieser Mädchen, über die man ein Buch schreiben würde", sagte er und diese durchdringliche Überzeugung seiner Samtstimme überraschte mich immens. Ich glaubte ihm kein Wort. Er tat das doch nur, weil er ein zu gutes Herz hatte, und ich konnte nicht aufhören darüber nachzudenken, dieses Feuerherzen mit den Funken meines zu vereinen. Seine Nähe machte mich zu einem Energiebündel, ein flitzendes Elektron voller magnetischer Ladung.
Ich atmete tief aus. „Weil meine Eltern Saurons Auge sind?"
Er schüttelte den Kopf und schloss die Lücke zwischen uns. „Nein, weil du der Protagonist deiner eigenen Geschichte bist, Saejin. Seit heute an."
„Und du?" Nun hob ich das Kinn an. Sein Feuer glühte so stark, dass ich es direkt in der Brust spüren konnte – wie hundert kleine Glühwürmchen leuchteten die Kupferfunken darin auf und verscheuchten die Dunkelheit darin.
„Ich bin einer der Nebencharaktere, die nur einmal erwähnt werden, weil sie keine Bedeutung in dieser Geschichte spielen." Sein Lächeln war matt und furchterschreckend ehrlich. Es sah so aus, als würde das Feuer innerhalb weniger Herzschläge erlöschen.
Das konnte ich nicht zulassen und legte meine Finger um sein Handgelenk. „Das stimmt so nicht, Keisuke. Du bist der Held in meiner Geschichte." Wie ich ihn letztlich anschaute, konnte ich nicht beschreiben, aber die Kupferfunken brachen in seiner Flamme auf.
Diesem Feuer in seinem Blick begegnete ich zum ersten Mal. Es war so mitreißend und intensiv, als würde es mich mit sich verbrennen wollen.
„Lüge", entgegnete er hart und schluckte.
Ich könnte es mir einfach gestalten und der Intensität seines lodernden Feuers ausweichen, aber er sollte es nicht nur an meinem Ton merken. Er sollte es auch in meinem Blick spiegeln sehen, dass ich bereit dazu war, mit ihm zu fallen, wenn es sein musste. Gemeinsam. „Nein, du bist es wirklich, Keisuke. Du bist der Held meiner Welt", erwiderte ich mit zittriger Stimme und polterndem Herzen.
Als würde er sich diese Worte einprägen, schloss er die Augen und rückte so weit heran, dass er selbst ohne mich anzusehen vollführte, seine freie Hand gegen meine glühende Wange zu lehnen. „Er ist aber mehr Trottel als Held, das solltest du wissen."
Ich lächelte dumm und verliebt sowie ich in diesem Augenblick war. „Das weiß ich schon."
„So hört sich also das Mädchen an, das ihre eigene Geschichte schreibt." Er grinste verstohlen, schön. Ein unbeschreibliches Kunstwerk. „Wie ein noch größerer Trottel als ich." Er lachte, aber ich konnte es nicht. Mein Lachen erstickte an der Verschränkung unserer Hände und dem raschen Schmelzen von Sternschnuppen im Bauch. Nur das konnte ich noch am ehesten: wie eine Infrarotlampe im Gesicht aufleuchten.
Als sein Lachen stoppte, hielt er mir das Feuerzeug vor die Nase und seine feurigen Kupfertupfer fesselten mich mühelos. „Bist du bereit dafür, dich von den Fäden deiner Eltern zu lösen?", fragte er mich mit derselben Aufregung im Samt, die meinen Herzschlag bestimmte.
Über die Antwort musste ich nicht nachdenken. „Ja, ich bin bereit. Für alles auf dieser Welt."
„Du bist echt wahnsinnig, Saejin." Sein Lächeln nahm begeisterte Züge an, ehe er mich mit sich zum VW Käfer zog. Er drückte mir das Feuerzeug in die Hand, ließ diese aber nicht los, und da war wirklich keine einzige Lücke mehr zwischen uns nicht. Nicht mal eine kleine Luftlinie. Seine Wange war dicht an meiner. „Wir machen das jetzt gemeinsam, okay?" Ich war wie gelähmt davon, sein Gesicht so nah an meinem zu haben, dass es mir buchstäblich die Sprache verschlug vor Herzklopfen.
„O-okay." Ich fixierte die kleine Schramme auf seiner Wange und kämpfte mit allem gegen diesen Impuls an, sie zu berühren. Ich wollte wissen, ob sie trotz ihrer feinen Kruste etwas Softes hatte – sowie seine Hände. Sie erinnerte mich an den Rost des Herbies, und ich realisierte, dass selbst diese Schrammen an ihm schön waren.
Unsere Blicke trafen sich so natürlich wie der Nordpol den Südpol auf magnetische Weise anzog.
„Du kannst dich nicht verlieben. Und vor allem nicht in diesen Keisuke."
Zusammen drehten wir mit den Daumen am Zahnrädchen und entfachten eine nie ausgehende Flamme. Vor uns und in unseren Herzen.
Verlieben hatte nichts mit Können zu tun. Jeder konnte sich verlieben. Auch diejenigen, die sich vor der Liebe fürchteten oder vor dem Herzschmerz. Es war eine Sache, wenn das eigene Herz gebrochen wurde – aber es war auch eine andere Sache, sich in jemand zu verlieben. Wenn man sich verliebte, beschloss man auch, sich selbst aufzugeben, um für denjenigen alles zu sein, was er brauchte. Ein guter Freund, ein bester Freund, ein Wegweiser, eine persönliche Sonne – aber am meisten bemühte man sich darum, demjenigen sich selbst zu öffnen. Sich zu verlieben bedeutete sich so zu öffnen wie noch nie zu vor, um eine Bindung einzugehen, die die Makel des jeweils anderen zu seinen eigenen machte.
Zusammen schmissen wir das Feuerzeug in die Höhe und beobachten mit demselben spannenden Ziehen in der Brust, wie es zum Herbie hinab flog.
Sich zu verlieben bedeutete aus zwei Geschichten, ganz gleich, wie unterschiedlich sie doch waren, eine einzige zu schreiben.
Sobald die kleine Flamme des Feuerzeugs die ersten Benzintropfen erhaschte, verteilte sich das Feuer rasend wie mein Puls über die ganze Autofläche. Genauso hatten mich damals die stürmischen Gefühle für Keisuke überfallen. Rasend, feurig, aufregend.
An diesem Abend fühlte ich mich bereit dazu, meine Geschichte mit seiner zu einer einzigen zu überschreiben. Meine Makel zu seinen zu machen, um uns mit diesen gegenseitig zu halten. Ich fühlte mich bereit dazu, einen Fehler zu begehen, um Keisuke meine Gefühle zu gestehen, aber dieser Fehler hatte auch die Wahrscheinlichkeit, der Beginn unserer gemeinsamen Geschichte werden zu können.
Die Feuerfunken stiegen in den Himmel empor. Mit ihnen jede Entscheidung, die meine Eltern für mich beschlossen hatten und die ich nicht länger als meine akzeptieren wollte. Als einziges blieben die tobenden Funken in meinem Herzen zurück. Da war ein Ziepen, ein klitzekleines in mir, doch es veränderte alles.
Um diesen Augenblick meiner Freiheit vollkommen aufzunehmen, schloss ich die Lider und bahnte all die restlichen Stimmen und Sätze aus meinem Kopf, die ich dort nicht wollte. Anfangs, als ich mich dazu entschied, meinen eigenen Willen zu errichten, hatte ich Angst vor der Herausforderung und glaubte, es wäre unglaublich schwer. Im Nachhinein erklimmt man nicht nur einen Berg, sondern mehrere. Aber hat man diese erst überwunden, kann man auf eine Welt blicken, die einem tatsächlich gefällt.
Ich stellte mir vor auf dem Rand eines Mondkraters zu sitzen. Ich sah zu dem Planeten hinab, der unsere Welt darstellte, und ich war glücklich. Lückenlos. Weil dort auf diesem Planeten waren Keisuke und Chifuyu, und sie waren genug, um meine neue Welt vollkommen zu machen.
Die Welt war nur ein Planet, aber seine eigene Welt musste man sich erschaffen. Ich war mit meiner sehr zufrieden.
Dann sprang ich vom Krater, schwebte in der Atmosphäre zu meiner neuen Welt, und ich war hier.
Bei Keisuke.
Auf einmal verschnürte er unsere Finger fest miteinander, als würde er mich daran hindern, mich im Universum zu verlieren, und brachte mich dazu, ihn anzusehen. Seine bronzefarbenen Gebirgsaugen hielten das tobende Feuer einer Leidenschaft fest, die auch in meinen Herzen knisterte.
Er lächelte. „Das hört sich jetzt vielleicht echt bescheuert an, aber ich habe bei dir mal in einer deiner Manga reingeschaut. Da habe ich diesen einen Satz gelesen: „Du und ich, gegen den Rest der Welt." Verstanden hatte ich das nicht ganz. Aber ich glaube, jetzt weiß ich, wie sich das anfühlt."
Du und ich, gegen den Rest der Welt. Das passte sehr gut zu uns.
„Das ist nicht bescheuert, Keisuke. Das ist wie wir empfinden." Ein Geständnis war das nicht. Nicht direkt. Eher der Anbeginn eines.
„Ist das in Ordnung für dich?" Er sah mich immer noch nicht an. Seine Züge spiegelten einen Schmerz aus seinem Inneren wider, der mich verunsicherte.
„Was meinst du?", fragte ich leise, aber musste eine gewisse Lautstärke anwenden, um das brennende Auto zu übertönen.
„Mit mir dieses Gefühl zu teilen."
Das Geständnis setzte sich fort. „Immer, Keisuke. Ich möchte alles mit dir teilen."
„Alles?" Eine rätselhafte Aufregung lag in seinem Samt.
Ich drückte seine Hand und nahm diesen ernsten Blick von ihm an. Er setzte ihn dann auf, wenn er versuchte, mich in die richtige Richtung zu schubsen.
„Ja, alles. Meine Worte, meine Gefühle, meine Seele, meine Geschichte. Alles. Auch wenn meine Seele nicht groß ist, weil ich schließlich selbst klein bin."
Das entlockte ihm ein raues Lachen. „Deine Seele, Saejin, ist die größte von allen – weil sie voller Mut und unentdeckten Geschichten ist." Die Funken sammelten sich in meinen Wangen, als sein sanfter Blick mir das letzte Stück Beherrschung stahl. „Ich brauche aber alles gar nicht. Ich brauche dich, Nichts-Machen und dieses Gefühl."
Eine Magie löste sich zwischen uns auf. Das Feuer knisterte, Schnee berührte ihn da, wo ich auch gerne berühren wollte. Seine zerzausten Haare, seine Stirn mit der kleinen Schramme, seine weichen Wangen. Wir waren einander so nah, dass seine Wärme sich mit meiner vermischte, und ich fühlte einen Druck, als würden mich seine eigene Schwerkraft an ihn ziehen.
Mein Blick traf auf seine Lippen. Wir könnten... wir könnten uns küssen. Oder waren wir schon dabei? Meine Lippen kribbelten wie die Nadel in meinem Herzen, wenn sie von seinem Feuerherzen angezogen wurde. Ich dachte daran, dass es immer zwei Basenpaare gab wie Adenin und Thymin Seine waren Adenin, meine Thymin – und wir gehörten nur zusammen. Eine andere Kombination war nicht möglich. In der Biologie hatte alles seinen festen Partner.
Er streckte seine Hand aus, und mein Atem stockte, als er mir die pinken Strähnen hinter das Ohr legte. Sein Daumen tänzelte über meinen Handrücken, und er beugte sich tiefer zu mir. Es war nicht aufzuhalten. Wir waren dabei uns zu küssen. Jetzt gleich. Hinter uns stiegen die Flammen weiter hoch, in den Horizont, wo sie allmählich bei der Kälte erstickten. Genauso wie die Lücke zwischen unseren Lippen. Mein Herzschlag stoppte...
Da hörten wir Schritte und fuhren wie zwei unterschiedliche Moleküle hastig auseinander.
„Baji, Saejin!" Chifuyu hielt sich an den Knien fest und zitterte, während er nach Sauerstoff jauchzte. „Endlich habe ich euch gefunden! Wir müssen sofort zurück." Sein Gesicht war kreidebleich.
In Keisuke schaltete sich plötzlich ein anderer Hebel um. „Was ist los?", fragte er unruhig.
Der Gletscher in Chifuyus Augen brach bei meinem Anblick. Ich hatte ihn noch nie so besorgt gesehen, außer bei Peke J. „Deine Eltern haben die Polizei alarmiert und behaupten, Baji hätte dich entführt."
Ich blickte geschockt zum Schwarzhaarigen, aber er starrte ins Nirgendwo. Seine Hände waren zu feste Fäuste gespannt.
„Geht es dir gut, Saejin?" Chifuyu hüpfte fast auf mich zu und untersuchte mich mit forschen Blicken.
Wieso fragte er das in diesen ängstlichen Ton? „Ich..."
„Gehen wir zurück", schnitt mich Baji unerwartet ab und drehte sich zu mir zurück. Jetzt sah er mich an, und ich wünschte mir, er hätte ihn mir erspart. Diesen Schmerz in seinen Kupferfunken – weil es war derselbe Schmerz, den ich auch empfand, wenn ich annahm, das falsche Mädchen für ihn zu sein.
Aber das glaubte ich nicht. „Ich bleibe hier", sagte ich stur und positionierte demonstrativ die Arme vor der Brust.
Wieso sollte er das falsche Mädchen küssen wollen? Wieso sagte er dem falschen Mädchen, dass er sie brauchte? Wieso er und das falsche Mädchen gegen den Rest der Welt? Das passte nicht so gut wie "Du und ich."
„Das geht nicht", kam es hart aus seinem Mund. „Wir sollten die Lüge deiner Eltern aufdecken."
Chifuyu stellte sich neben ihn und nickte. „Seine Mutter dreht schon durch, weil ihr auch noch ihr Auto genommen hat. Sie glaubt wirklich, ihr wärt auf der Flucht."
Keisuke seufzte. Seine Rettungsliste. Sie hatte oberste Priorität. Und ich hasste diesen Schmerz in seinem Ausdruck. „Daran hätte ich denken müssen."
Schlagartig war ich hellwach – und war enttäuscht darüber, dass ich mich wieder in meinem alten Leben befand. Meine alte Geschichte, meine alte Welt. Die, des falschen Mädchens.
Ich schlang die Arme um mich und unterdrückte die Tränen. „Okay, gehen wir zurück", flüsterte ich, und noch: „Es tut mir leid, dass meine Eltern das getan haben." Aber er schien es nicht zuhören, oder wollte es einfach nicht.
Wir liefen zum alten VW. Chifuyu hatte sein Motorrad danebenstehen, aber Keisuke zwang ihn, mit uns zu kommen. Er meinte etwas wie: „Ich werde dich nicht vom Asphalt abkratzen", und packte ihn gewaltsam am Arm, um ihn mit sich zu ziehen.
Ich setzte mich auf den Rücksitz und blickte zurück zum Autofriedhof. Der Herbie fackelte, mein Herz war leer. Die Funken darin waren erloschen. Meine glühende Wange lehnte gen die kalte Fensterscheibe. Das erste Mal an diesem Abend spürte ich die Kälte des Wetters.
Keiner sagte etwas.
Meine neue Welt hielt einfach an. Wie mit einem raschen, endgültigen Schnipsen.
Obwohl es so still war, konnte ich es fühlen.
Die Wohnanlage leuchtete in grellen Farben. Die Polizei war da. Nachbarn standen in ihren Mänteln auf den Balkon und starrten hinab wie Könige auf ihr billiges Fußvolk. Baji schien sich nicht in der Aufmerksamkeit aller messen zu wollen und bog in eine Seitenstraße ein, um dort unbemerkt zu parken. Ich wagte es im Rückspiegel zu ihm zu sehen, aber er hatte den Blick geneigt und seine Hände hielten das Lenkrad fest umklammert, als gäbe es ihm Halt. Wer jedoch meinen verlorenen Blick auffing, war Chifuyu und seine gletscherblauen Augen voller Sonnenlicht.
„Darf ich wissen, was wirklich passiert ist?", fragte er mit einem Ton, der mich an eine verärgerte Mutter erinnerte. Er verschränkte die Arme vor dem grünen Parka und blickte bockig in die Runde. „Oder muss ich das aus euch hinausquetschen?" Er war ziemlich sauer auf uns, wenn er sogar mit Gewalt drohte.
Ich seufzte aus, weil ich mir meiner Schuld an dem allem bewusstwurde. „Ich hatte einen Streit mit meinen Eltern und bin abgehauen. Zu Keisuke."
„Und wieso seid ihr dort nicht geblieben?" O wei, wenn Chifuyu wirklich sauer war, kam er mir schon wie ein Fremder vor. Ich fühlte mich tatsächlich wie bei etwas Verbotenem ertappt. Wie musste es dann erst Keisuke ergehen?
„Wir-"
„Es war meine Idee gewesen", meldete sich nun dieser, aber sein Blick klebte am Lenkrad fest, „ich wollte, dass sie ihre ganze Wut herauslässt als wie üblich immer in sich hineinfrisst."
Damit unterstützte er meine Schuldgefühle und machte sie plagender. Ich versuchte, mir den dicken Kloß im Hals nicht anmerken zulassen, während ich eine wichtige Entscheidung für ihn und mich traf. Ich wollte nicht länger auf seiner Rettungsliste stehen. Dann musste er nicht mehr solchn Risikos wie heute eingehen, dann konnte er sich lediglich um seine Mutter sorgen. Das belastete ihn schon zu sehr.
Wieso war ich nur so dumm gewesen und hatte geglaubt, mehr als nur eine auf seine Rettungsliste sein zu können?
„Ihr bleibt da und kommt erst wieder, wenn die Polizei weg ist." Ich schnallte mich ab und wollte mir auch wirklich weder eine Zustimmung noch Protest von ihnen anhören. Der verzehrende Schmerz in meinem Herzen benötigte nicht noch einen weiteren Antrieb. „Ich werde das regeln. Meine Eltern werden nicht nochmal so eine Scheiße abziehen", versicherte ich mehr mir selbst als den beiden und stürzte mich aus den Wagen.
Eine weitere Autotür flog kurz darauf zu.
„Was soll das?" Klar, Keisuke würde das nicht so schnell hinnehmen. Ich hielt an, für einen kurzen Moment sah ich ihn an, und mein Herz wurde schwer. Seine Kupferfunken waren leer. Die lodernde Flamme seines Herzens war verschwunden. Meinetwegen, verstand sich wie von selbst. Dieser kurze Moment reichte aus, um diesen Abend bedeutungslos zu machen. Einer von vielen, den ich unbedingt vergessen wollte und musste. Nur so würde ich es endlich schaffen, von seiner Rettungsliste zu verschwinden.
„Wir beide stecken darin!", sagte er aufgeregt, und ich wandte den Blick ab, weil ich es nicht aushielt ihn so zu sehen. „Wir müssen dahin, nicht nur du!"
Wie eine gewöhnliche Reaktion auf das Zittern meines Körpers legte ich die Arme um mich. „Nein, Keisuke, das stimmt nicht. Sie sind meine Eltern und sie werden es immer sein. Deshalb ist es besser, wenn ich das allein wieder hinbiege. Sobald dich die Polizei entdeckt, werden sie dich festnehmen." Auch meine verzweifelte Stimme zitterte. Die Vorstellung von ihn in Handschellen ließ mich erschaudern. „Das kann ich dir nicht antun, und deiner Mutter auch nicht. Wäre ich nicht fortgelaufen, wäre es nicht dazu gekommen." Der Kloß in meiner Kehle schwoll an und erschwerte mir Atmen und Reden zugleich.
Ich hörte, wie seine Füße durch den Schnee stampften und hinter mir anhielten. Seine angespannten Atemzüge bliesen mir gegen das Haar. Er war so dicht, dass ich das Beben seines eigenen Körpers wahrnahm. „Du hast Recht. Es sind deine Eltern. Aber du kannst nichts dafür, dass sie so sind und dass sie mich nicht ausstehen können", wisperte er bitter. Meine Lippen pressten sich zusammen, um ein Wimmern zu verhindern. „Aber es ist deine Entscheidung, was du lieber aufgeben möchtest."
Ich war noch nie gut darin Entscheidungen zu treffen. Vor allem wenn ich nicht wusste, worum es wirklich ging. Aus diesem Grund fragte ich nach: „Was habe ich denn zu verlieren, Keisuke?"
Mein harter Tonlaut trieb ihn dazu an, noch kälter zu sprechen, als wäre die Flamme in ihm verraucht. „Deine Eltern und dafür bekommst du ein armseliges Leben – oder deinen Helden und dafür bekommst du ein bodenständiges und sorgenfreies Leben, das ich dir nicht versperren möchte."
Seine Worte erinnerten mich an meine Eltern. Nur redete er sich selbst schlecht und nicht besser als alle anderen.
Er berührte mich unsicher an der Schulter. „Jetzt den Märtyrer zu spielen wird es nicht bessermachen, Saejin. Sie werden in mir immer einen Versager sehen."
Ich machte einen ausweichenden Schritt nach vorne. „Fass' mich nicht an, wenn du so was Albernes sagst!", ermahnte ich ihn verletzt und schniefte, „ich werde sie umstimmen, das musst du mir glauben."
„Also stimmt es."
Fuck.
Geschockt drehte ich mich zu ihm herum, und mir lagen so viele Entschuldigungen auf den Lippen, dass ich keine einzige davon herausbrachte. Ich starrte ihn einfach an und wusste, dass sie gewonnen und wir verloren hatten. Da war kein Feuer in seinen Kupfertupfen, keine Gerissenheit und keine Wildheit; da war ein verletzter und angeknackster junger Mann, der alles versuchte, um eines nicht zu sein: ein Versager.
„Keisuke, ich...", stammelte ich panisch. Und da war ich, die vieles versuchte zu sein, aber immer eines bleiben würde: nicht das richtige Mädchen für ihn.
Er hielt die Hand hoch und brachte mich so zum Schweigen. „Es ist okay, Saejin. Ich weiß, dass du nicht so von mir denkst, aber ich glaube, es ist besser, wenn wir es nicht versuchen." Dann holte er tief Sauerstoff. „Geh' jetzt zu deinen Eltern zurück, bitte."
Ganz gleich, ob ich nun das richtige Mädchen für ihn war oder nicht, ich wollte ihn keine weitere Bürde tragen lassen. Nicht in dieser unfairen Welt, gegen die wir immer zu verlieren scheinen. Wenigstens das Feuer in seinem Herzen sollte bestehen bleiben. Also nickte ich mit leisen Tränen auf den Wangen und widmete ihm einen letzten Blick von Güte und... Liebe.
„Ich werde das richtigstellen, Keisuke. Dir wird keine Schuld zu gewiesen werden und du... du wirst dich nie mehr um mich sorgen müssen, weil ich stark genug werde. Für meine Geschichte." Damit wollte ich mich auf den Weg machen, aber er hielt mich unerwartet am Handgelenk zurück.
Er verzog quälerisch sein hübsches Gesicht. „Ich werde mich immer um dich sorgen, Saejin. Morgens, Mittags, Abends. Zu jeder Stunde. Deine Eltern hassen mich zwar und werden immer versuchen, zwischen uns zu stehen, aber ich werde mich immer um dich sorgen. Sie kontrollieren dein Leben und vielleicht auch dein Herz, aber meines nicht. Das werden sie nie. Und wenn sie dich verletzen, verletzen sie auch mich." Da war es. Sein wildes und ungezähmtes Feuerherz, und es polterte mit dem Rhythmus seiner Worte. Es war noch da, es war noch nicht erloschen. Ich war so erleichtert, dass ich vergaß, zu atmen. Oder was ich eigentlich tun wollte.
Sein Daumen strich aufgeregt über meinen Handrücken, während ich es zu ließ, mich in seinem Gebirge aus stürmischen Abenteuern zu verlieren. „Ich würde mich diesen dämlichen Polizisten stellen, auch wenn es nicht richtig ist. Aber ich kenne diesen Blick in deinem Gesicht gerade zu gut. Du stellst mich über dich – und das, das ist dein Alles. Du gibst dich auf, um mich zu retten." Er rückte so heran, dass seine Stirn meine berührte. „Aber das werde ich nicht zulassen."
Dann löste er sich von mir und rannte zu den flackernden Lichtern der Polizeiwägen.
„Keisuke!" Sofort ging ich ihm nach – doch es war schon zu spät. Kaum stand er vor ihnen, stürzte sich ein Polizist auf ihn und drehte ihm die Arme auf den Rücken, um diese dort mit Handschellen zu befestigen. Er wehrte sich nicht mal, dieser Trottel.
Doch ich blieb nicht tatenlos stehen.
Ich wollte zu ihm hinüber, als sich ein weiterer Polizist vor mich stellte und mich prüfend musterte.
Es war ein kluger Schachzug meiner Eltern, sie mit in diesen Sturm zu ziehen. Sie wussten, Keisuke würde alles auf sich nehmen, um seiner eigenen Mutter nicht das Herz zu brechen. Diese verdammte Rettungsliste.
„Das ist ein Missverständnis!", erklärte ich dem Polizisten harsch. Er wirkte verwirrt. „Ich bin nicht entführt worden. Ich bin freiwillig abgehauen", klärte ich sie auf, und, oh mein Gott, mein Herz flippte aus. Ich tat das hier wirklich – ich beschützte Keisuke.
Keisukes Mom kam langsam zu uns hinüber und schien kurz vor dem Zusammenbruch zu sein.
Ich setzte eine feste Mimik auf und hob entschieden das Kinn an. „Keisuke Baji hat mich nicht entführt", wiederholte ich nochmal zum Verständnis, „ich bin von Zuhause abgehauen. Das ist die Wahrheit."
Er blickte zu seinen Kollegen, der Keisuke fest im Griff hatte. Seltsamerweise starrte der Schwarzhaarige auf den Boden und ich wusste nicht, was ich jetzt wieder falsch gemacht hatte. Wieso ließ er es nicht zu, von mir gerettet zu werden?
„Ist das so?", fragte der Polizist nach.
Kein Zögern, nur ein bestätigendes Nicken. „Ja, ich bin abgehauen. Aus freien Stücken. Keisuke hat sich nur um mich gekümmert. Meine Eltern..." Weiter kam ich nicht.
Seine Mutter schloss ihren geliebten Sohn in die Arme und schluchzte vor Erleichterung auf. „Ich wusste es doch", winselte sie, „du würdest so etwas nicht machen."
Der Polizist schien noch nicht ganz davon überzeugt zu sein, ließ ihn nicht los, und blickte mich wachsam an. „Deine Eltern haben uns etwas Anderes erzählt", beschwichtigte er und schien mir wirklich nicht glauben zu wollen.
Ich blieb mutig. „Wenn Sie die Wahrheit erfahren wollen, sollten Sie ihn erst loslassen."
„Hör auf damit, Saejin." Seine kratzige Stimme hatte ich nicht erwartet. Er hörte sich gebrochen und irgendwie... enttäuscht an. „Das hier ist nichts für ein Mädchen wie dich. Du gehörst hier nicht hin. Verschwinde zu deinen Eltern."
Getroffen stolperte ich zurück und blinzelte. Mir fehlte auf einmal jegliche Kraft zu sprechen. Hatte er das wirklich gesagt? Die Polizei hatte keine Geduld für mein Drama, Keisukes Mutter wurde sanft von einem anderen weggeschoben, dann nahmen sie ihn mit zu einem der vielen Wägen. Es passierte alles so schnell, dass ich glaubte, mehr als nur mein Zeitgefühl verloren zu haben.
Langsam, wirklich langsam, wandte ich mich zum Polizeiwagen um und beobachtete, wie seine Mutter darum flehte, ihn nicht mitzunehmen.
Und dann kamen sie.
Sie schrien meinen Namen über die ganze Straße bis zu mir. Sie rannten auf mich zu. Falsche Tränen lagen in ihren Gesichtern aus falscher Trauer und einer Elternliebe, die nicht hätte erstickender sein können. Meine Mutter schloss mich unaufhaltsam mit falscher Erleichterung in ihre Arme und presste meinen Kopf gegen ihre Brust. Aber es waren nicht ihre Arme, die mich hielten; es waren die Mauern des dunklen Turms, in dem sie mich zurückzog.
„Gott sei Dank ist dir nichts passiert", flüsterte sie. Aber sie glaubte nicht mal an Gott.
„Lass mich los, Mum", murmelte ich und versuchte, mich zu befreien – doch da war mein Vater und schloss die Tür des Turms, indem auch er mich in seine Arme zog. Es gab kein Ausweg mehr. Ich konnte mich nicht gegen sie wehren ohne sie zu verletzen. Und das setzte mich mit einem Mal komplett aus. Selbst, wenn meine Tochterliebe genauso unreal wie ihre Elternliebe war, konnte ich ihnen niemals so wehtun wie sie mir. Ich war so schwach, ich war so eine gute Tochter und doch so eine schlechte Freundin. Ich musste es nicht sehen, ich konnte es irgendwie fühlen; das Feuer in mir war erstickt.
Ich war nicht das richtige Mädchen für ihn. Ich war nur eine auf seine Rettungsliste, die er nicht retten konnte.
Diese Welt konnten wir nicht besiegen.
Schluchzend gab ich mich ihm hin – dem einzigen Zuhause, das ich noch hatte. Dieser dunkle Turm bei meinen Eltern.
„Ich bleibe bei euch", wimmerte ich, „aber, bitte, haltet Keisuke daraus. Ich werde nie mehr weglaufen, versprochen."
„Ssshh", meine Mutter tätschelte mir besänftigend den Rücken, „ich hoffe, du wirst aus dieser Lektion lernen, mein Kind. Wir haben es dir doch gesagt: Er ist nicht gut für dich." Obwohl sie wusste, wie verwundet ich war, wurde sie zur bösen Hexe.
„Ja", kam es klanglos aus meinem leeren Herzen, denn ich schien nur noch eine Möglichkeit zu haben, um Keisuke zu retten. Ich musste uns aufgeben, endgültig., „ich werde mich wieder mehr auf die Kunst konzentrieren. Jungs haben nichts in meinem Kopf zu suchen."
„Sehr gut." Sie küsste meinen Haarscheitel. „Nun, geh schon, Xiao. Sag ihnen, dass wir uns getäuscht haben und die Kosten des heutigen Abends übernehmen werden."
Mein Vater hörte natürlich auf sie. Tat er immer. Sie hatte uns alle im Griff.
Aber da war noch er, der Junge mit den gletscherblauen Augen und dem glänzenden Sonnenlicht darin. Er war plötzlich da, als mich meine Mutter losließ und mir achtsam mit dem Fingern die Tränen aus dem Gesicht strich. Sie sahen sich für einen Moment an, ein gekünsteltes Lächeln legte sich auf ihre Lippen.
„Danke, dass du unsere Tochter zurückgebracht hast, Chifuyu."
Der Blonde wich meinem entsetzten Gesicht aus. „Darf ich kurz mit ihr allein reden?"
Sie stutzte, aber er hatte einen entscheidenden Vorteil: Er hatte etwas gut bei ihr. Also nickte sie und beschloss, meinen Vater bei den deutlich verwirrten Polizisten zu unterstützen.
Dann hielt er mich an den Schultern fest und sah mich direkt an.
„Hör mir gut zu, Saejin", sagte er aufgeregt und seine Finger spannten sich an, doch da war noch etwas Anderes in seiner Stimme. Dieser zuversichtliche Klang eines mutigen Herzens, eines Heldens. „Ich werde einen Weg finden. Für dich und Baji – damit ihr zusammen glücklich werden könnt."
*
Was?
Wieso habe ich das alles vergessen? Und warum habe ich mich in Chifuyu verliebt, wenn er nur versucht hat, die Liebe zwischen Keisuke und mir zu erhalten? Wieso... Wieso erinnere ich mich erst jetzt daran? Und eigentlich: Wieso erinnere mich überhaupt an so vieles?
Dann dämmert es in mir.
Es stimmt wohl.
Wenn man stirbt, zieht an einem nochmal das ganze Leben vorbei.
Man begegnet Fehler und Augenblicke wieder, die man aus einem einzigen Grund vergessen hat: Um sich vor dem grausamen Schmerz zu beschützen.
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