the other side of the moon.

Nach dem Essen haben Keisuke und Chifuyu meinem Dad angeboten, ihm beim Abräumen zu helfen. Ich habe die restlichen Geschenke ausgepackt, neue Malsachen, die Farben für das Skateboard, und ein Ticket nach Seoul. Von meiner Mam, falls ich sie besuchen möchte. Nicht diesen Monat. Und vielleicht auch gar nicht. Eines bleibt übrig: Kazutoras Geschenk. Der Wolfsjunge ist still geblieben, hat sich an keiner Unterhaltung beteiligt, die sich meistens um mich und Musik gedreht haben. Er ist nach draußen gegangen, in den Garten.

Einen kurzen Blick werfe ich zur Küche, zu meinem Dad und meinen Universum-Jungs. Im Hintergrund trällert irgendein Lied von Guns'N'Roses vor sich hin. Keisuke wippt mit dem Kopf zum Takt mit, Chifuyu unterhält sich mit meinem Dad über den neuen Band seines Mangas und flippt aus, als er ihm grinsend ein Autogramm anbietet. Er kommt endlich aus seinem Schneckenhaus heraus, wie ich, als ich die beiden kennengelernt habe.

Ich hätte nicht gedacht, dass eine glückliche Erinnerung so wehtun kann. Wäre diese Erinnerung etwas Reales, wäre sie eine Schneekugel, in der sich immer mehr Luftbläschen bilden. Irgendwann hätten sie das Wasser verdrängt – und mit ihr die kostbare Erwärmung meines Herzens. Die Vorstellung ist unerträglich, weil ich mir wünsche, sie aus dieser Situation heraushalten zu können. Sie sind die einzigen mit der Macht, mich sowohl zu retten als auch endgültig zu brechen.

Wehmütig verschwinde ich in den Garten. Zu dem Wolfsjungen, der diesen harten und erschöpfenden Kampf kennt und verloren hat. Sein Geschenk habe ich bei mir, um ihm letztlich den Augenblick meiner Reaktion nicht vorzuenthalten. Er ist ein Arsch, und wie, aber ich möchte die Mauer zwischen uns nicht höher bauen als sie schon ist. Sonst werde ich das kleine Irrlicht nicht finden, das sich in seinem Wald verirrt hat.

Eine Kälte umhüllt mich, die ich mit einem tiefen Atemzug friedlich begrüße. Die Nächte werden kälter sowie mein Herz, das sich auf einer der härtesten Winter einstellt. Es ist kein Gänseblümchen, das diese Jahreszeit überstehen könnte; es würde zu grunde gehen und nicht wiederaufstehen.

Ich finde Kazutora bei meinem Chrysathemenbeet vor, er kniet davor und wirkt fernab dieser Realität, als er an den gelben Blüten der fülligen Blume rupft. Eine Brise, so warm und frisch wie das Überbleibsel eines vergehenden Sommers, weht durch sein Haar, das zarte Klimpern seines Ohrrings hört sich so natürlich an, als gehöre es dazu. Ob Kazutora einen Platz hat, wohin er gerne geht? Wo er glaubt, sein zu dürfen? Während des Essens habe ich es ständig in seinem Gesicht ablesen können, wie unwohl er sich fühlt, fehl an Ort und Stelle. Das hat mich sehr an mich selbst erinnert und mich nochmal meine Wut auf ihn bedenken lassen.

Vielleicht hat Keisuke damals richtig gelegen.

Wir ähneln uns.

Furchtlos trete ich vor. „Willst du eine Blüte?", frage ich ihn mit leiser Stimme, denn ich möchte ihn nicht erschrecken.

Er zuckt nicht zusammen, doch sein verwirrter Blick verrät mir, dass er mich nicht erwartet hat.

„Ich habe gehört, dass, wenn man eine einzelne Blüte pflückt, sie einem Glück und Gesundheit bringt", sage ich noch mit angehaltendem Atem, nachdem er mich für ein paar Sekunden angeschwiegen hat. Das Zierpen der Grillen im Garten ist lauter als meine Stimme.

Zweifelnd lehnt er den Kopf zur Seite. „Das brauche ich nicht", erwidert er hastig, „so wenig wie deine aufgesetzte Freundlichkeit."

Ausweichend seinem kalten Blick starre ich zu seinem Kunstwerk in meiner Hand. Er ist hartnäckig, wenn nicht sogar ein störrischer Esel. „Das habe ich wirklich so gemeint", protestiere ich, und aus mir platzt überhastet heraus: „Ich habe keine Lust, dass wir uns immer wieder in die Haare bekommen, Kazutora-kun."

Er schnaubt. „Du bietest mir also eine Blüte als Friedensangebot an?" Nun richtet er sich auf und wendet sich zu mir. Seine unangenehme Präsenz legt sich wie ein dicker und zu enger Anzug um mich, in dem ich kaum Luft kriege. „Das ist aber wirklich schwach von dir. Ich bin keine Fee oder so was, die du damit verzaubern könntest."

Arsch. Sowie er mich anschaut, mit seinem dummen, provokativen Grinsen, wartet er schon darauf, dass ich ihn anschreie und austicke, aber, nein, auf dieses faule Spielchen falle ich nicht nochmal rein. Ich habe eine wichtige Mission zu erfüllen. Sobald sich mir dieser garstige Balrog in den Weg stellt, werde ich die Brücke noch eher zum Einsturz bringen, bevor sich jemand dafür opfern muss. Ich habe nicht viel Selbstbeherrschung, noch weniger wie eine Katze, doch irgendwie schaffe ich es, ruhig zu bleiben.

„Was willst du dann?", frage ich angespannt und das Papier knistert wehleidig unter meinen verkrampften Fingern.

Er überlegt einen Moment intensiv nach. „Lass mir dir Baji-sans wahres Gesicht zeigen."

Ich gehe seine Worte nochmal durch den Kopf durch, die seriöse Art, wie er sie ausgesprochen hat, aber er hat es völlig ernstgemeint.

Nur eines verstehe ich nicht: „Warum?"

„Weil du dich in einen falschen Kerl verliebt hast, Saejin. Er ist nicht der, den er vorgibt zu sein", antwortet er bitter, zu bitter für diese Anklage. Was soll das? Möchte er wirklich einen Keil zwischen Keisuke und mir treiben?

Eine immense Unruhe kriecht in mir hoch, wie eine plötzliche Übelkeit, auf die ich nicht vorbereitet bin. „Wieso interessiert dich mein Liebesleben so plötzlich?", fauche ich stürmisch und hätte ihn das Geschenk fast an die Stirn geworfen, würde ich mich nicht gedanklich ermahnen.

Mein wütendes Gesicht hat keine sonderliche Wirkung auf sein kaltes Gemüt. Er zuckt mit den Achseln. „Du bist mir egal, aber Baji-san nicht."

„Das glaube ich dir nicht, wieso wärst du sonst hier und würdest mir was schenken?"

„Das?" Er deutet mit dem Zeigefinger auf sein Geschenk in meiner Hand. „Das ist nichts Besonderes. Nur ein zusammengefaltetes, leeres Stück Papier. Ich habe nicht damit gerechnet, dass dir so viel an ein Geschenk von mir liegt."

„Lügner." Meine Finger beginnen wild zu kribbeln an, als ich das Papier auffrimmel, um zu prüfen, ob es stimmt. Ich brauche ein paar Anläufe, aber es hat mit einer Hand funktioniert, als ich mit den Nägeln das Tesa abschleife. Mein Herz setzt aus. Ich kann es nicht fassen. Es ist wirklich... ein leeres Stück Papier.

Kazutora grinst hämisch wie eine Schlange, die ihrer Beute erfolgreich aufgelauert ist. „Siehst du? Ich habe nicht gelogen."

Gleich wird er sein lähmendes Gift auf mich übertragen und mich mit in seine Dunkelheit zerren. So wehrlos wie eine arme und dumme Maus.

„Was habe ich dir getan?", jauchze ich kraftlos und blicke ihn mit einer verwundeten Verlorenheit an, denn ich bin es. Verloren in seinem Wald von Rätseln und Gefahren, die mich ständig in die falsche Richtung führen. Der innere Druck wird größer und zwingt mich zu einem Kampf gegen Panik und Zorn.

Panik, weil ich nicht weiß, welches Spiel er hier treibt und wie weit er seinen Plan durchdacht hat. Ob er nicht schon eine Entscheidung getroffen hat? Ich will diesen widerlichen Gedanken nicht aussprechen, doch: er hat schonmal jemand umgebracht, wenn auch aus Schutz. Wer aber schonmal getötet hat, scheut vor ein weiteres Mal nicht zurück. 

Zorn, weil ich es hätte wissen müssen. Ich hätte es wissen müssen, und doch halte ich daran fest wie an einem leeren Versprechen, in den dunkelsten Ecken noch ein Fünkchen von Licht zu sehen, doch eigentlich ist da gar keines. Der Beweis dafür liegt in meiner zitternden Hand.

Er ist ein abscheulicher Schatten. Er kriecht dann in das Licht, um es bis zur Wurzel zu ersticken, wenn man es am wenigstens erwartet.

„Wieso?", wiederhole ich flüsternd erneut, „wieso möchtest du nicht, dass Baji glücklich ist?"

Kazutora fährt so zusammen, dass ich annehme, meine Worte haben auf ihn eingehämmert wie ein Hagelschauer. Schwerfällig schluckt er und sieht mich unbedeutend an, doch kein Wort verlässt seine sonst so spottsüchtigen Lippen. Habe ich einen wunden Punkt getroffen? Ist es Baji?

Meine Knie drohen einzuknicken, als ich einen Schritt näher wage. Ich versuche etwas Positives zu finden, etwas, das mich davor bewahrt, nicht von dem flackernden Glühen seiner Wolfsaugen in die Irre geführt zu werden. „Oder willst du ihn nicht glücklich mit mir sehen? Bin ich das Problem? Dein Problem?", werde ich forscher.

Keisuke hat mir sein Herz anvertraut wie Bilbo Frodo den einen Ring. Aber die Aufgabe, diesen bis nach Mordor zu bringen, das hat er selbst anerkannt. Genauso habe ich mir zu geschrieben, Keisukes Herz zu schützen wie die letzte, liebende Feder seiner Flügel. Bedingungslos und bereit, mein Alles zu opfern.

Mein Ton gefällt Kazutora nicht. Er verengt die Wolfsaugen und baut sich vor mir auf. Das finde ich witzig und muss schmunzeln, immerhin bin ich schon so kleiner als er.

„Du liegst richtig", erwidert er hart. Seine Haltung wirkt distanzierter als zuvor. „Ein Mädchen wie du gehörst nicht an seine Seite. Deine Glitzerwelt sollte doch keinen Kratzer bekommen, oder nicht?"

„Meine Glitzerwelt?" Ich befürchte, bald abzuheben, umso mehr heiße Luft sich in mir anstaut.

Er nickt und fährt zu unserem Haus herum. Mit seiner Hand scheint er den Umfang des Gebäudes nachzufahren – bis er es mit einem X imaginär durchstreicht. Indessen nehme ich einen angestrengten Atemzug, um die Anspannung in meinem Bauch zu lösen, aber sie windet sich wie ein ausgetrocknetes Tuch enger, bis auch das letzte Tröpfchen Hoffnung herausgepresst wird.

„Verbrecher können sich so etwas nicht leisten, außer sie steigen in illegale Geschäfte ein", erklärt er mir und blickt mir fest in die Augen. „Deine sogenannten „Helden" können in kein Blümchenleben zurück. Das exisitiert nicht. Sie haben sich der dunklen Seite des Lebens verschrieben."

„Wieso glaubst du das?"

Die Ruhe in meiner Frage verwirrt ihn. „Du weißt, dass sie Verbrecher sind?"

Es ist mir egal, dass ich mich verraten habe, dafür ist es mir wichtiger, nicht das falsche Mädchen zu sein. Für niemanden. Ich nicke bekräftigend. „In der Schule erzählt man sich, sie würden einer Gang angehören, aber ich würde sie deshalb nicht als Verbrecher bezeichnen."

Erstaunt hebt er die Brauen an, das Flackern seiner Wolfsaugen wird grober. Er erinnert mich an den Spruch: „Stille Seele, wildes Herz."

„Was macht für dich ein Verbrecher aus?", will er neugierig wissen. Ich blinzle wiederholt hintereinander. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, weil ich kann nicht sagen, ob ich gerade träume – oder ob ich tatsächlich ein kleines Irrlicht gesehen habe. In seinen Wolfsaugen, ganz zierlich und unbeholfen, aber es ist da. Es hat sich mir gezeigt, Kazutoras dichter Wald dehnt sich aus, als würde sich seine Seele spalten. Ist es das gewesen? Hat er gedacht, ich würde Keisuke verlassen, sobald ich herausgefunden habe, dass er einer Gang angehört?

Ich will mich nicht gleich wegen diesem einem Moment tiefer in den Wald stürzen und entgegne ihm vorsichtig: „Beantworte mir erst meine Frage davor."

Er richtet den Kopf weg, blickt in den Himmel hoch, als könnten die Sterne für ihn antworten. Sie sind wie die hohen Baumspitzen in einem Wald, mächtig und manchmal unerreichbar, doch sie beobachten uns. In der Dunkelheit sind es ihre Schatten, die uns in Sicherheit führen wie das Leuchten der Sterne. Schatten ist nicht immer schlecht.

„Wir sind Gebrochene, Verstoßene, Verratene. Wir haben an das Licht geglaubt – bis wir gelernt haben, dass wir dorthin nicht hingehören. Dort wartet bloß Schmerz und Verrat auf uns." Seine Hand zeigt auf den Vollmond. „Der Mond hat eine Licht- und Schattenseite. Während ihr im Mondlicht wohnt und euch schöne Häuser erbaut, Familien gründet, Erfolg habt, sind wir auf der Schattenseite und kämpfen um die letzten Fetzen von Licht, die noch nicht von uns gerissen worden sind. Und wenn wir verlieren, werden wir zu den Monstern, von denen ihr euch nachts in euren warmen und sicheren vier Wänden zurückzieht."

Mein Puls donnert nach oben. Den Atem anhaltend blicke ich zu ihm und habe das schwindelerregende Gefühl, zu beobachten, wie das Licht des Mondes von ihm weicht. „Aber man entscheidet sich doch selbst dafür, sich einer Gang anzuschließen oder nicht", sage ich beunruhigt.

Jetzt schaut er mich an und sein Blick ist kalt und verletzlich. Kein Licht berührt sein Gesicht. Nur das Flackern seiner Wolfsaugen begräbt mich unter sich und seinen Geheimnissen. „Entweder ist man dazu geboren oder das Leben macht einen dazu." Für einen Augenblick verschließt er sich wieder, betrachtet den Boden. „Einige können entkommen, und andere sind verdammt. Baji-san ist einer dieser verfickt glücklichen Idioten, bei denen ich mir sicher bin, dass sie irgendwann fliehen können und vielleicht doch zur anderen Seite des Mondes gehören..."

„Aber das möchtest du nicht", unterbreche ich ihn fieberhaft. Mittlerweile habe ich das Papier in meiner Hand zu einem Knüllchen gepresst.

Er schüttelt den Kopf. „Ich möchte ihm dabei helfen, Saejin."

Das habe ich nicht erwartet. Überhaupt: Was macht es für einen Sinn, Baji Toman zu entreißen und dann Mikey zu töten? Es würde das Gegenteil bewirken, er würde ihn auf Ewig in die Schattenseite verbannen. Aber das ist etwas, das ich ihm nicht sagen kann. Nicht wortgetreu zumindest.

„Glaubst du, ich könnte seinem Glück im Weg stehen?" Statt ihn dabei ins Gesicht zu sehen, gehe ich achtsam in die Hocke und schweife über den seelig-schönen Anblick meiner Chrysanthemen. Irgendwo habe ich sie doch gepflanzt.

Er braucht einen Moment, und ich wundere mich, ob er das mit Absicht macht, um mich wieder zu ärgern, oder ob er wirklich darüber nachdenkt. Sein langer Seufzer verlockt mich dazu, zu ihm hochzusehen – und seine Wolfsaugen sind eine Mischung aus Enttäuschung und zerronner Seele. „Das ist es ja", gibt er auf einmal zu und fährt sich am Nacken durch die Strähnen, „ich dachte, ich wäre derjenige und nicht ein Mädchen im Latex-Kostüm, dass ihn auf diesen Weg zurückbringt."

Sein freches Grinsen muss ich einfach erwidern, weil, selbst wenn er glaubt, ein Teil der Dunkelheit zu sein, kann ich das schwache Flimmern des Irrlichts in seinen Wolfsaugen nicht ignorieren. „Er ist so dickköpfig, dass ich eine zweite Hand gut gebrauchen kann", erwidere ich strahlend.

„Das ist er wirklich." Kazutora lacht nicht und das ist vollkommen in Ordnung. Nicht jeder gebrochene Mensch kann geflickt werden, nicht jeder gebrochene Mensch lacht dann, wenn man es erwartet. Umso schöner ist es, wenn sie es am unerwartesten machen. Einfach lachen und man mit begeisterten Augen beobachten kann, wie ihre kaputte Seele für einen kurzen Moment von einem Licht aus Ehrlichkeit und Harmonie berührt wird. Ein Moment, der auch die dunkle Seite des Monds trifft.

„Nun zurück zu meiner Frage: Was macht für dich ein Verbrecher aus?" Erwartungsvoll legt er den Kopf schief und starrt mich wie ein Welpe an. Dass er das nicht vergisst, habe ich schon vorausgesehen. Meine Antwort soll nochmal sein Gewissen bestärken, dass ich Keisuke keinesfalls deshalb verlassen werde, weil er einer Gang angehört. Warum auch? Ich habe mich in ihn verliebt sowie er ist, nicht in das, was er glaubt zu sein.

Als ich wieder zu den Chrysanthemen blicke, entdecke ich sie. Die einzig violette von ihnen. Sofort lasse ich das Papierknüllchen los, beuge ich mich weiter über die Blumenköpfe hinweg und berühre sie am Stil. „Ich denke, es gibt verschiedene Arten von Verbrecher wie es Menschen gibt. Aber dazu gehört niemand, der noch mit den Herzen handeln kann. Der Verstand ist ein manipulativer Verräter, doch das Herz nicht. Das ist immer ehrlich." Mein Griff wird fester, dann knicke ich sie sorgfältig um. „Wenn jemand keine andere Wahl mehr hat, um sich über Wasser zu halten, und deshalb eine Bank ausraubt, dann ist er kein Verbrecher, sondern ein Opfer unserer Zeit. Wenn jemand einen anderen versucht zu beschützen und dafür den anderen umbringen muss, dann ist das zwar keine Heldentat und auch kein Mord, aber er hat es aus Herzen getan. Nicht mit dem Ziel, den anderen von vorneherein zu töten, sondern um die eine Person zu retten."

„Aber was ist, wenn die eine Person eigentlich unschuldig gewesen ist? Ist dieser Tod dann nicht sinnlos gewesen?", flüstert er melancholisch.

Kopfschüttelnd trenne ich die Blume von ihren Wurzeln. „Kein Tod ist sinnlos, Kazutora-kun. Es tut weh, verdammt weh, aber der Endgültigkeit werden wir alle nicht entkommen können. Manche früher als man denkt." Meine Stimme sackt ab. „Und böse Menschen werden nicht geboren, sie werden von unserer Welt so gebildet. Immer, wenn ich in Harry Potter von den Dementoren gelesen habe, habe ich mir vorgestellt, dass es so mit der Gesellschaft sein muss, in der Individuen ihre Besonderheit ausgesaugt werden. Wie Kühen die Milch. Zurück bleiben leere Hüllen und Schmerz."

Während seines Schweigens stehe ich wieder auf meinen Beinen zurück und stelle mich genau vor ihm. In meiner Hand halte ich die violette Chrysantheme.

„Weißt du, woran mich deine Augen erinnern?" Sein Blick stützt sich hoch. Seine gelben Wolfsaugen sehen mich an, verloren in ihrem Wald ohne Licht. Nicht mal der Mond möchte diesen verfluchten Ort beleuchten. Er ist kein böser Mensch oder ein grausamer Mörder, er ist verloren wie wir alle es mal im Leben sein werden. Aber das bedeutet nicht, dass er das bleiben muss. Sanft lächle ich ihn an, weil vielleicht kann er es dadurch finden: das kleine Irrlicht, das ihn zu richtigen Seite des Mondes leiten wird. „An einen einsamen Wolf. Aber so einsam muss er gar nicht sein. Er muss nur zurück zu seinem ehemaligen Rudel finden."

Sein Schmerz nimmt dem Irrlicht an Kraft. Es verblasst, ohne dass es von ihm bemerkt worden ist. Was für ein trübsinniges Irrlicht – aber es gibt nicht auf, es wird zurückkehren. Das ist nicht sein Augenblick. Noch nicht. „Ich bin gerne ein einsamer Wolf, denn so kann ich meine Ziele erreichen."

„Was hast du bis jetzt erreicht?", gehe ich darauf ein und streiche ruhelos über die Blüten.

Das ist ein anderer Moment. Ein ausschlaggebender Moment zwischen Kazutora und mir. Er bestimmt darüber über die Richtung, welche ich in seinem Wald nehmen werde. Ob ich nach dem Irrlicht suchen werde, oder ob ich es den bösen Wolf zum Fressen überlasse.

„Mein bester Freund ist wieder an meiner Seite", antwortet er.

„Es ist ignorant, sein Glück über das eines anderen zu stellen."

Seine Unsicherheit veranlässt ihn zum wiederholten Schweigen.

Er gehört nicht ins Licht, aber auch nicht in den Schatten. Innerhalb unseres Gesprächs habe ich feststellen können, wohin er tatsächlich gehört. Es ist in diesem Universum. Zu Chifuyu, Keisuke und mir. Dieses Universum hat noch einen Platz offen, für eine weitere gebrochene und einsame Seele. Er passt nicht in das System dieser Welt, doch er passt perfekt in unser Universum. Er weiß es nur noch nicht, dass er einen Platz hat, wo er sehr wohl hingehört.

Deshalb halte ich ihm die violette Chrysantheme hin, mit den wahrhaften Worten aus dem Kern meines hoffnung schlagenden Herzens: „Die violetten blühen am längsten. Sobald sie anfängt, Blüten zu verlieren, kommst du zu mir zurück. Und dann zeige ich dir, wie man sie unvergänglich machen kann."

Verdutzt nimmt er sie mir ab. „Du hast sie abgebrochen, also wird sie austrocknen", sagt er trotzig.

Kichernd setze ich zur Bewegung an, die Hände in den Rücken gelegt und die Nase gen den funkelnden Sternenhimmel gerichtet. „Falsch. Ich werde sie noch richtig anschneiden und dir eine Vase mitgeben."

Er wirkt noch konfuser und legt deutlich die Stirn in Falten. Wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal Verantwortung tragen muss, steht er überfordert da. „Und das bringt mir jetzt was? Diese Blume?"

Den Blick über die Schulter geworfen, lächle ich ihn getrost mit halbgeschlossenen Augen an. „Du wirst so lernen, ein viel schwächeres Leben zu erhalten. Aber du wirst auch merken, dass du sie nicht vor dem Austrocknen retten kannst. Vielleicht verstehst du dann die Bedeutung eines Opfers."

Ich präge mir instinktiv diesen Moment ein, dieses flackernde Glühen seiner Wolfsaugen und das gefangene Gefühl darin von Vertrautheit und Aufmerksamkeit. Als würde er mich das erste Mal richtig wahrnehmen, sind seine Züge aufgeweicht und weniger kalt wie ein Zeichen dafür, dass die Wärme unseres Universums ihn langsam erreicht. Aufgeben werde ich die Suche nach dem Irrlicht nicht, dafür ist es zu verlockend, zu geheimnisvoll.

Kazutora soll zurückfinden. Es fühlt sich gut an, gibt mir Hoffnung, wie schön wird es dann sein, sobald er wirklich angekommen ist?

Er kniet sich hin und sammelt mit der anderen Hand das Papierknüllchen auf. „Das hast du wohl von mir gehalten, was?", entgegnet er mir mit gemischten Gefühlen. Sein Lächeln ist angespannt, förmlich gequält. Richtig deuten, wie er darüber denkt, kann ich nicht. Mein Kopf ist noch ein wenig schwummrig von dem vorherigem Gefühlssturm.

„Kann man so sagen", lüge ich nicht, aber dabei ansehen kann ich ihn nicht und presse die Lippen zusammen. Ich sollte mich schlecht fühlen, aber er hat ebenso seinen Teil dazu geleistet. Dem Anschein nach gesteht er sich sein Fehlverhalten ein, wobei ich es nicht genau als das beschreiben würde. Im Prinzip hat er sich dazu verpflichtet, Keisuke vor weiteren traumatisierten Leid zu schützen. Er kennt mich nicht, außer aus ihrem Briefaustausch. Natürlich wäre ich da auch vorsichtig. Nach dem, was sie zusammen erlebt haben, nagt an beiden derselbe höllische Schmerz. Sie teilen dieselbe Narbe, dieselben Albträume. Nur einer von ihnen ist tiefer gefallen als der andere, und ich weiß nicht, wer es von ihnen ist.

Ich bekomme mit, wie er auf mich zu geht und hinter mir stehen bleibt. Er schnappt aufgeregt nach Luft, als würde er etwas Entscheidenes sagen wollen. „Saejin", flüstert er meinen Namen so stark, als würde er ihn nimmermehr vergessen wollen. Als hätten sich die Buchstaben meines Namens von dem Papier einer seiner Briefe gelöst und würden jetzt in der Atmosphäre um uns schwirren. Tintenflecke wie die Puzzleteile einer vertrauten Person. Jede einzelne Silbe atmet er konzentriert ein. Wie Zucker schmelzen sie in seinem Gedächtnis und scheinen mehr zu bewirken als bloß eine kurze Geschmacksexplosion.

Gespannt höre ich ihm zu, um ja nicht eines seiner endlos vielen Geheimnissen zu verpassen. Doch das, was er mir anvertrauen will, wird er noch eine Weile für sich behalten. Lediglich sagt er: „Erspar dir dein dummer Kommentar, Baji-san."

„Ach, ich wusste schon immer, dass du ein Mauerblümchen bist", erwidert er vorlaut und ohne Rücksicht.

Mein Herz hämmert, wie verrückt, als meine Augen nach oben schnellen und zugleich von seinen Kupferfunken feurig empfangen werden.

Wann wird mein Herz jemals wieder normal schlagen, wenn er in meiner Nähe ist? Als hätte er nicht nur mein Leben auf den Kopf gestellt, hat er auch spürbar meinen Herzschlag abgeändert wie ein Musikstück, das ihm zwar gefallen hat, aber etwas Besonderes hat gefehlt. Es hat einen weiteren Grund, wieso es schlägt, und es ist nicht der, um mein Lebensystems dauerhaft aufrecht zu erhalten. Es schlägt, um ihn rückhaltlos zu lieben.

„Bist du bereit für dein ganz persönliches Geschenk von mir?", entgegnet er mit diesem wagemutigen und risikolosen Grinsen, gegen das ich nicht immun bin und zu keiner Zeit sein werde. Ich bin ihm hoffnungslos verfallen.

Aber ich kann das Irrlicht nicht vergessen, kann Kazutora nicht einfach so ausblenden, als wäre ich in seinem Wald nicht einen ganz fundamentalen Schritt vorwärtsgekommen.

„Könnten wir..." Mir fällt es unheimlich schwer, ihn enttäuschen zu müssen, aber, wenn ich ihn retten will, muss ich zuerst Kazutora einen besseren und gesünderen Weg aus seinem Wald zeigen. „Könnten wir das auf morgen verschieben? Ich wollte Kazutora-kun eben eine Vase für die Chrysantheme geben."

Weil ich seine Enttäuschung nicht ertragen werde, weil ich nicht sehen möchte, wie sein Seelenfeuer hinter seinen Kupferfunken flackert und sich verdunkelt, meinetwegen, schließe ich fest die Augen und versuche, beruhigende Ein- und Ausübungung auszuführen. Dieselben, wie man sich mir im Krankenhaus gezeigt hat, damit ich eine Panikattacke umgehen kann. Ich bekomme einen Vorgeschmack auf einem Herzschmerz, der in mir wütet wie ein brennender Hurrikan. Mein Herz steht in Flammen.

Für einen kurzen Augenblick.

Und dann...

... legt sich ein Arm um meine Schulter, zieht mich schnurstracks zu sich heran – und ein besänftigender Kuss wird auf meinen Haaren hinterlassen. „Alles klar, Prinzessin. Morgen früh dann, ja?" Er hört sich nicht ansatzweise sauer oder traurig ein, ich halte mich für durchgeknallt, denn ich glaube in seinem Samt eine hellende Freude zu vernehmen.

Immer noch nicht kann ich ihn anschauen. Nicht mit diesem zerreißenden Gefühl in meiner Brust. „Ist das echt okay für dich?", säusle ich mit leiser Stimme.

Er lehnt seine Stirn gegen meine, so behutsam, als würde er den kleinen, gebrochenen Flügel eines Vogels berühren. So fühle ich mich auch, klein und schutzlos. „Natürlich ist es das, Saejin. Kazutora ist schließlich ein cooler Kerl, mit dem würde ich auch lieber abhängen als mit einer lästigen Motte."

„Du bist keine lästige Motte, Keisuke", widerspreche ich ihm beinahe wütend und schlage die Lider auf, um ihn von seinem unverschämten Feuer zu entmächtigen. Jedenfalls versuche ich es.

Sein Grinsen wird strahlender und entmächtigt mich an seiner Stelle an Durchhaltevermögen. „Und so schnell habe ich es geschafft, dass du mich wieder ansiehst."

Der Schmerz in meinem Herzen lässt mit einem verliebten und trotteligen Seufzer nach. „Du hast mich erwischt", atme ich schwer aus, „ich wollte dich nur nicht enttäuschen."

Seine Brauen wandern in die Höhe, als er sich von meinem Gesicht entfernt und mir die Hand an die Wange legt. „Hat dich Kazutora einer Gehirnwäsche unterzogen oder warum redest du so einen Blödsinn?"

„Haha, sehr witzig", schnauft Kazutora missmutig, will die Arme verschränken, bis er sich zurück an die Blume erinnert. So bleibt es bei einem harten Blick. „Ich würde keine Hand an dein Mädchen legen, mann, das weißt du doch."

„Er hat mir echt nichts getan", versichere ich ihm mit einem nervösen Lächeln, „wir haben uns gut unterhalten."

„Gut unterhalten, ja?" Argwöhnisch kneift er die Kupferfunken zusammen, seine Hand wandert zu meinem Rücken und mit einem Ruck drückt er mich gegen seine Brust. Überrumpelt entfällt mir der Sauerstoff, mein Herzschlag schlägt im selben Tempo wie die Schallgeschwindigkeit. „Vorher habt ihr euch noch gegenseitig die Haare vom Kopf gefressen, und jetzt seid ihr beste Freunde geworden? Schon verdächtigend." Ich hätte nicht erwartet, dass Keisuke selbst in Kazutora eine Gefahr sieht.

Kazutora stöhnt auf. „Alter, es ist nichts vorgefallen – außer, dass sie mir einer ihrer Blumen geschenkt hat."

„Ich habe von ihr keine Blume bekommen", brummt er verdrießlich.

„Du bist verliebter noch unausstehlicher als schon davor", murrt der Wolfsjunge gereizt.

Keisuke setzt ein großes und amüsiertes Grinsen auf. „Für einen Moment hast du es mir wirklich abgekauft, ich habe dir die Angst schon in deinem dämlichen Gesicht ablesen können." Wohl oder übel sind Kazutora und ich auf ihn reingefallen. Erleichtert lockere ich mich in seinen Armen.

Sein Geschenk habe ich noch auf dem Tisch in der Küche liegen, besser genommen, liegen gelassen. „Ich habe auch etwas für dich", meine ich kleinlaut und will mich etwas von ihm entfernen, aber dann schiebt er mich schon mit beiden Händen an den Schultern von sich.

„Wieso?" Er sieht mich ungläubig an, ein süßer, pinker Schimmer ziert seinen Nasenrücken und einer seiner spitzen Eckzähne ragt aus seinen Lippen, was im perfekten Kontrast zu der Unruhe in seinen Kupferfunken steht. „Es gibt dafür keinen Anlass."

Entzückt von seinem Fangzahn lächle ich. Irgendwie lässt es ihn weniger wild aussehen, wären da nicht sein welliges, rabenschwarzes Haar und dieses mitreißende, stürmische Feuer hinter seiner Kupferfunken. „Doch. Aber das werde ich dir morgen erklären. Wann soll es denn losgehen?"

Seine Stimme wird samtiger. „Abends ist es am besten."

„Gibst du mir einen Tipp?" Nun drehe ich den Spieß um, ein verschwörerischer Ton in meiner Frage niedergelegt.

Spielerisch schnippt er mit dem Finger gegen meine Stirn. Ich blinzle, mehrmals. Bei meinem verdutzten Blick ziehen sich seine Lippen belustigt auseinander. „O nein, Saejin, ich lasse mich nicht um den Finger wickeln. Wenn du mir nicht den Grund nennst, werde ich dir auch keinen Tipp geben. Klarer Deal, oder?"

Bockig kreuze ich die Arme und gehe so weit zurück, bis ich beim Wolfsjungen anhalte. „Gut, dann müssen wir beide eben warten. Auf morgen Abend", sage ich noch besonders trotzig.

Keisuke kann nicht anders, lehnt den Kopf in den Nacken und fängt laut zu lachen an. Es ist so unfassbar, so unfassbar schön und bahnbrechend, als hätte der Sonnenschein einen Klang. Und es ist sein Lachen. Es fällt mir schwer, meine Maskerade beizubehalten, denn ich würde diesen Moment gerade liebend gern einfrieren, an mich drücken wie eine Umarmung und nie wieder loslassen.

„Ich möchte trotzdem wissen, warum er eine Blume bekommt und dein Freund nicht", meint er folgend außer Atem und durchschneidet innerhalb eines Schritts die Distanz zwischen uns. In unserem Universum ist es unmöglich, die Umlaufbahn des anderen zu umgehen, wir werden immer zu ihm zurückgezogen.

Mitten meines Augenrollers versuche ich ihn an der Schulter Richtung Hauseingang zu schieben, aber er ist wie ein Fels in der Brandung. Mein Puddingarm ist unbrauchbar. „Sei nicht so eifersüchtig, Keisuke. Ich kann dir für unser Date morgen gerne einen Blumenstrauß besorgen, selbst wenn das nicht mein Job ist."

„He", beschwert er sich und stemmt sich mit den Füßen in den Boden, so dass ich kurzerhand zurück gegen seine Brust stolpere. Er fängt mich direkt auf, wie ein angeborener Reflex. „Wer sagt, dass Männer keinen Blumenstrauß wollen?"

„Na gut, du bekommst einen." Mit der Hand drücke ich mich leicht von ihm, aber der holprige Schlag seines ungezähmten Feuerherzens pocht unter meiner Berührung. Wir sehen uns an. Als würde ich so als seine Glut ihn stärken, wird das Leuchten seiner Kupferfunken kräftiger, intensiver und eine neue Flamme zündet darin, die er mir bis jetzt vorenthalten hat. Sie ist bronzefarben, hingebungsvoll, gerissen und für mich bestimmt.

„Wie lange wird das jetzt gehen?" Kazutora wedelt mit der Chryrsantheme vor unseren Nasen.

Keisuke löst sich von mir, um ihn keine Sekunde später in den Schwitzkasten zu nehmen. „Pass auf, mein Freund, ich nehm' dir gleich deine Blume weg. Sie ist schließlich von meinem Mädchen."

Meinem Mädchen. Er hat das wirklich ausgesprochen. Sofort pulsiert das Blut in meinem Kopf.

„Das ist keine Blume, das ist eine Chrysantheme", kläre ich ihn auf und fasse mir an die Brust, weil gerade kann ich zwischen einem Schmetterling und einem Herzen dahinter nicht unterscheiden. Aber beides versucht mit heftigen Schlägen aus dem schwarzen Loch zu flüchten, das sich über diesen Augenblick ausdehnt wie ein klebriger Ölfleck. „Und sie ist für Kazutora."

Wenn heute mein echter Geburtstag wäre und ich die Kerzen meines Kuchens ausblasen müsste, hätte ich mir gewünscht, in die Zukunft sehen zu können.

Dann hätte ich erkannt, dass die Schlange bereits zu gebissen und ihr tödliches Gift übertragen hat.

Auf ihn.

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