the mess I left behind.
„Man kann es wirklich als ein Wunder bezeichnen." Der Arzt vor mir in seinem weiß-stickigem Kittel dreht sich auf seinen Stuhl zu mir herum und lächelt mich beherzigt an. „Obwohl du fast 2 Monate im Koma gelegen bist, hast du davon keine gesundheitlichen Schäden erlitten. Dein Hirn weist nichts davon auf." Er fasst sich an das Kinn. „Abgesehen von deiner Hand natürlich."
Ich fühle mich schrecklich benommen von allem. Ich verstehe nicht so ganz, was passiert ist und bin nicht in der Lage dazu zu begreifen, ob ich träume oder wirklich wieder in meinem Menschenkörper zurück bin.
„Was ist mit meiner Hand?", spreche ich es in Gedanken aus wie ich es als Katze gewöhnt bin, aber komischerweise kommt kein Laut aus meinem Mund.
Aber der Arzt scheint mir die Frage schon anzusehen. „Wir haben wirklich unser Bestes gegeben." Seltsam, wie schnell er diese schützende Haltung einnimmt, als hätte ihn jemand anderes schon versucht, vom Gegenteil zu überzeugen. „Aber der Nervenschaden ist einfach zu groß. Wir können in diesem Fall nichts tun, Saejin. Du wirst zwar durch die Physiotherapie lernen, besser damit umzugehen, doch eine vollständige Genesung ist medizinisch unmöglich. Es tut mir leid." Er senkt den Blick, und sein Mitgefühl ist keine Täuschung, weil kein Arzt würde in der nächsten Sekunde auf einmal aufstehen und sich als weitere Entschädigung verbeugen.
Ob Traum hin oder her, ich mag es nicht, wenn sich meinetwegen jemand schlecht fühlt.
„Schon gut", versuche ich ihn zu besänftigen, „manchmal können wir die Dinge nicht mehr ändern, die bereits geschehen sind." So richtig mit dem Sprechen habe ich es noch nicht heraus.
Doch der Arzt nimmt einen ruhigen Atemzug, dann nickt er der Krankenschwester an meiner Seite zu. „Du solltest dich erstmal ausruhen. Wir besprechen alles weitere, wenn deine Eltern hier sind."
Ein knappes Nicken meinerseits, bevor die Krankenschwester mich in dem Rollstuhl zurück in das Zimmer schiebt, wo sie mich auch herausgeholt hat. Sie ist wirklich hübsch mit ihren braunen Augen und den violett-gefärbten, glatten und schulterlangen Haaren. Ihr Septumpiercing passt zu ihrer feinen Nase und dem schmalen Gesicht. Sie erinnert mich ein wenig an eine Schlange, aber eine harmlose Variante.
„Ich muss dir ja etwas gestehen", sagt sie und grinst mich mildernd an, während sie mich zurück ins Bett stützt. Sie ist größer als ich, und ich fühle mich furchtbar gebrechlich, dass ich gerade über jede Hilfe froh bin. „Ich bin echt neidisch auf dich, dass du mit so vielen heißen Jungs befreundet bist."
Ich lege den Kopf schief und blicke sie perplex an, nachdem ich zurück in das große Kissen geplumpst bin. „Was heißt hier viele?", forme ich stumm.
Meine Verwirrung bringt sie zum Kichern. „Du bist die erste Komapatientin, die ich kenne, die nicht mehr weiß wie man richtig sprechen kann."
Besser gesagt: Ich habe überhaupt keine Ahnung, was hier eigentlich abgeht.
Mit einem Seufzen stemmt sie eine Hand in die Hüfte und beißt sich unsicher in die Unterlippe. „Glaubst du, du kannst deinen gutaussehenden Besuch trotzdem empfangen? Die werden mir bestimmt sonst das Wartezimmer auseinandernehmen, zumindest einer davon sieht verdammt verdächtig nach einem Schläger aus. Aber der ist auch so ein Hottie, bei dem würde ich das sogar durchgehen lassen."
Besuch hört sich gut an. Vielleicht könnte mir das Klarheit darüber verschaffen, wo ich bin und was ich hier zu suchen habe. Also nicke ich.
„Supi, dann gebe ich denen mal Bescheid." Sie stellt meinen Rollstuhl in die Ecke und verlässt das Zimmer.
Endlich bin ich allein.
Schon seitdem ich in diesem Zimmer aufgewacht bin, hat man mich keine einzige Sekunde aus den Augen gelassen. Der Arzt hat mich sofort untersucht, die nicht mehr notwendigen Geräte abgeschaltet, bis auf die Infusion in meinem linken Arm. Möglicherweise ist sie daran schuld, warum mein Verstand wie benebelt ist. Warum ich es nicht schaffe, zwischen Realität und Traum zu unterscheiden. Und möglicherweise liegt es auch an der fehlenden Erinnerung daran, wie ich es tatsächlich zurückgeschafft habe. Oder vielmehr: was der Auslöser dafür gewesen ist. Der Tierarzt hat damals nichts von einem Gedächtnisschwund erwähnt, er hat sofort gewusst, wieso er wieder ein Mensch geworden ist.
Aber wieso dann nicht ich?
Das erschwert es mir, es zu begreifen. So richtig. Als wäre ich irgendwie noch im Nebel der letzten Wochen gefangen.
Selbst wenn ich zu mir hinab sehe und keine zwei weißen Tatzen erhasche, bin ich mir noch nicht hundertprozentig sicher, ob es real ist. Selbst wenn ich versuche, mit der Hand nach etwas zu greifen, spüre ich nichts. Keine Finger. Nichts. Nur Taubheit. Meine Augen schweifen von der Ansammlung mehrerer persönlicher Gegenstände auf der Fensterbank ab und stoppen wieder da, wo die Taubheit am größten ist: bei meiner rechten Hand.
Ich ziehe scharf die angestaute Krankenhausluft ein.
Meine Hand ist voller Narben. Und nicht einfach nur Narben: Sie sind tief, so tief wie Furchen. Rot und hässlich. Ich versuche einen Finger zu bewegen, irgendeinen, doch da ist nichts. Die Synapsen sind weg. Da ist kein Gefühl, keine Verbindung, nur ein Nichts. Ein verdammtes Nichts. Mein Arm zittert, als ich ihn langsam hochhebe und mir meine Hand direkt vor das Gesicht halte. Jetzt konzentriere ich mich nur noch darauf. Versuche, sie zu einer Faust zu ballen, aber nichts. Versuche, meine Finger zu spreizen, aber nichts. Versuche, meinen Zeigefinger in einem Kreis zu bewegen, aber nichts.
Nichts, nichts, nichts!
Ich sehe meine rechte Hand vor mir, aber ich spüre sie nicht wie ein weiterer, kaputter Teil von mir. Aber ein Unterschied bleibt: mein Herz kann ich fühlen. Und da stürmt etwas auf, das in mir den verzweifelnden Wunsch erweckt, das hier wäre nur ein dummer Traum.
Was hat das für mein Leben zu bedeuten?
Ich fühle etwas Heftiges in meinen Adern pulsieren, wie ein Adrenalinstoß. Jegliche Benommenheit wird abgestoßen wie ein Meteorit, der alles in seinem Umfeld zerschmettert. Plötzlich bin ich hellwach, doch meine Hand ist und bleibt tot.
Tot.
Mir wird schlagartig übel.
Das kann nur ein Traum sein. Bitte. Lass es nur ein verdammter Albtraum sein.
Meine Panik ist absurd, schließlich hätte auch ich sterben können. Nicht nur meine Hand. Verdammt, ich bin so glimpflich davongekommen und trotzdem kommt mir meine Zukunft leer und düster vor. Ich werde nie mehr so malen können wie davor, werde niemals mehr eine Hand richtig halten können, weil... Ich weiß nicht, was ich lieber möchte: komplett tot sein oder für immer ohne meine Magie leben zu müssen.
Sind sie deswegen nicht hier? Schämen sich meine Eltern für ihre geschädigte Tochter? Ein dicker Kloß in meinem Hals nimmt mir die Entscheidung ab, zu weinen oder zu kotzen. Ich drehe durch. Dafür habe ich die letzten Wochen so verbittert gekämpft? Für ein Leben ohne Kunst? Ohne Magie, die ich mit anderen so gern geteilt habe?
„Saejin!" Ehe mich ein Heulkrampf überfällt, hat ein süßlich-riechender Blondschopf mir die Arme um den Hals gelenkt und presst mich so an sich, dass es ein harter Kampf ist, nicht nachzugeben, mich meinem neuen Schicksal hinzugeben, um wieder in diese Welt eingefügt zu werden. Sein feuchtes Gesicht verschwindet an meinem Hals. Dort zieht er kräftig die Luft durch die Nase ein, als wäre da ein Duft, den er sehr, sehr gerne mag, aber der nur in meiner Nähe wahrzunehmen ist. „Endlich... endlich bist du wach!", flüstert er so leise, als hätte er seine Stimme irgendwo zwischen Türschwelle und Bettkante verloren. „Ich... Ich kann es nicht fassen, du..." Weiter kommt er nicht, denn sein Schluchzer überschlägt sich. Seine Arme beben, als er mich an sich zieht und wimmert. Es ist das erste Mal, dass mich die Geborgenheit seiner Nähe nicht binnen Sekunden erreicht.
Das ist seltsam. Ich will mich vergewissern, dass er echt ist, und nehme meine linke Hand, um meine Finger ganz vorsichtig in seinen blonden Strähnen zu vergraben. Oh. Sein Undercut muss unbedingt wieder rasiert werden, er ist viel zu lang geworden. Aber... kann ich das noch? Meine linke Hand... Sie ist noch da. Sie kann ich noch spüren und bewegen. Aufregung und Hoffnung nimmt mich ein, als ich mit meinen Fingern kleine, beruhigende Ovale auf seinem Hinterkopf zeichne. Tatsächlich. Das kann ich noch. Ich kann noch andere berühren sowie ich es möchte. So zärtlich, so offen wie mein Herz, das ich nicht vor ihnen verberge. Ich kann sie noch halten, kann sie an mich binden und kann es verhindern, dass sie brechen; und wenn doch, kann ich sie so wieder zusammenfügen.
Chifuyu knickt unter meiner Zuneigung ein wie übermächtiger Schauder, der ihm jegliche Anspannung entzieht. Als hätte er fast vergessen, wie meine Berührungen auf ihn wirken. Sein Körper schlafft ab, wohliger Frieden kehrt in ihm ein, den er sich in den letzten Wochen so sehr gewünscht hat. Achtsam lässt er sich gegen mich fallen, völlig meiner Nähe und Berührung ergeben wie an einem Platz, wo er endlich wieder verletzlich sein kann. Er hört nicht zu weinen auf, doch es stört mich auch nicht, denn ich kann es spüren, wie er ihn nur hinausspült. Der entsetzliche und zerrende Schmerz meiner Abwesenheit, der endlos tief in seine Seele gekrochen ist. Nun ist die Ursache fort. Die Welt scheint sich augenblicklich zu verbessern. Nicht nur für ihn.
Ich will etwas sagen, irgendetwas, am besten seinen Namen, aber dann nehme ich eine unruhige Bewegung am Ende des Krankenbetts wahr. Sofort schnellt die Kompassnadel in meiner Brust in eine bestimmte Richtung und mein Atmen verliert an seine Lebensnotwendigkeit. Es gibt nur eine einzige Person, die gerade jetzt bei ihm sein kann.
Aber er ist keineswegs voreilig. Er steckt seine angespannten Fäuste in seine Lederjacke wie ein Versuch, sie vor mir zu verstecken. Aber er scheint nicht zu bemerken, dass ich ihm mittlerweile beobachte und meine Augen nicht so schnell von ihm nehmen kann und werde. Seine langen Beine tragen ihn zum großen Fenster, seine zerzausten, dennoch seidigen Haare versperren mir die Sicht in sein Gesicht und seine Kupferfunken. Ich muss es nicht sehen, um in seinem Bann gezogen zu werden. Die Vorstellung seines unerschöpflichen Feuers ist genug, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er wird zum Ziel meiner Anziehung.
Kurz wage ich es, doch weiter zu gleiten. Zu seinem lockeren, schwarzen Longsleeve. Zu der Kette mit dem silbernen Schlüsselanhänger, die er offensichtlich darüber trägt. Ich träume nicht. Die letzten Wochen sind echt gewesen. So echt wie er jetzt im Raum steht und mein Herz innerhalb eines Augenblicks für sich beansprucht. Ich bin knapp vor einem Supernova-Moment, aber diesmal halte ich es aus. Diesmal kann ich es richtig fühlen. Dieses Kribbeln der Sternschnuppe in meinem Magen, das schwummrige Gefühl, und diese starke Anziehung zu ihm. Alles um mich herum verschwimmt, außer er. Als würde ihn ein magischer Schimmer umgarnen.
Er dreht den Kopf zu mir. Unsere Blicke treffen sich, und da...
„Keisuke."
Oh. Sprechen kann ich also doch.
In einem bahnbrechenden Herzschlag stürzt das Sonnensystem zusammen und baut sich zu dem auf, das tatsächlich mein Universum darstellt.
Denn es ist Keisuke.
Er ist der Grund, wieso ich gekämpft habe.
Er und sein wildes Feuerherz.
Nicht meine Kunst oder Magie.
Auf einen Schlag kommen alle Augenblicke zurück, die wir zusammenverbracht haben und die ich weggesperrt habe, weil ich es nicht für richtig hielt, in jemand verliebt zu sein, der meinetwegen sich selbst aufgibt. Mittlerweile weiß ich, dass das nur ein Zeichen von Liebe ist. Man gibt sich nicht direkt selbst aufgibt, man nimmt diesen schweren und natürlichen Schutzfilter von seinem Herzen, der uns vor Schmerz bewahrt, weil wir bereit dazu sind, von dieser einen Person verletzt zu werden. Aber gleichzeitig verlassen wir diesen Schutz, weil wir genauso gut wissen, dass wir bei dieser Person so sein können wie bei keinem anderen. Wir möchten bei ihr echt sein und hoffen, dass sie auch diese Echtheit lieben wird.
Als Katze habe ich viele dieser Seiten von ihm gesehen. Sie haben dazu beigetragen, dass ich mich ein zweites Mal in ihn verliebt habe.
Ein Leben ohne Magie kann ich hinnehmen, aber keines ohne ihn.
Er legt den Kopf etwas schräg und grinst mich auf seine typische, verstohlene Weise an. „Ich bringe dich also wieder zum Reden?"
Wie habe ich bloß so hysterisch sein können? Es hätte nicht perfekter verlaufen können. Es ist mir egal, wie verrückt es im Nachhinein erscheint, denn ich weiß, dass es wahr ist. Dass ich eine Katze gewesen bin und zu mir zurückgefunden habe, um festzustellen, dass der wilde Schlag meines Herzens alleinig dem unzähmbaren Flammen seiner Kupferfunken gewidmet ist. Mir ist meine Hand plötzlich so unwichtig, dass ich sie nutze und nach ihm ausstrecke, eine kleine Aufforderung, zu mir zu kommen, weil mir das wilde Lodern seines Feuers bereits die Stimme und jegliche Vernunft gestohlen hat.
Er wartet nicht und kommt hinüber. Ich erwarte nicht von ihm, dass er sie nimmt, weil mir bewusst ist, dass sie sich nicht so anfühlt wie die, die über Chifuyus Rücken tätschelt, dass sie hässlich und verstümmelt ist, ein sichtbarer Makel – doch seine Finger umschließen sie mit einer Achtsamkeit, die mich von dem Gegenteil überzeugt. Mein Herz bleibt stehen. Ich kann ihn spüren. Seine Nervosität, seine Wärme; seine rauen Finger wie sie sich fest um meine schließen, als würde er selbst in diesem Moment sich vervollständigen. Als wäre die Schwerkraft zurück in sein Universum gekehrt, um ihn zu stützen.
Natürlich. Wie habe ich das vergessen können?
Er ist mein Universum, und ich seine Schwerkraft.
Solange er meine Hand hält, finde ich sie nicht schlimm. Es zählt nur, ihn zu fühlen. Egal, wie und wodurch.
Ohne weitere Aufforderung setzt er sich an die andere Kante und legt meine Hand auf seinem Schoß ab. Aber er lässt sie nicht los, ein behutsamer Druck in seinen Griff gibt mir das beruhigend schöne Gefühl, er würde es kein zweites Mal zulassen, dass ich mich im Weltall verliere. Ein weiteres Mal scheinen wir beide nicht ertragen zu können.
„Hallo, Saejin", sagt er mit rauchiger Stimme und sein Antlitz wirkt zwar müde und geschockt, aber es bleibt ein unbeschreiblich schönes Kunstwerk.
„Hi, Keisuke", erwidere ich schüchtern.
Chifuyu stützt sein Kinn auf meiner Schulter ab. „Ich hab's gewusst", schnieft er und seine Gletscher sind flüssiges, grünes Eis, als ich zu ihm schiele, „wir werden dir wieder deine Stimme geben. Wir haben schließlich an dich geglaubt. Die ganze Zeit haben wir an dich gedacht und uns gewünscht, du würdest aufwachen. Wir hatten so eine Scheißangst, dich verloren zu haben."
Aber das haben sie nicht. Ihretwegen ist unser Sonnensystem von keinem schwarzen Loch eingesogen worden. Sie haben mich zusammengehalten. Ununterbrochen. In den ersten und letzten Wochen als meine Zeit in Katzengestalt. Sie haben ein schimmerndes Kaleidoskop aus neuen Augenblicken gebildet. Der Tag in der Schule nach meinem Unfall, wie Keisuke sich für mich eingesetzt hat. Wie er mich als seine Katze umsorgt hat. Wie er an mir festgehalten hat und in der Schule ein deutliches Zeichen dafür gesetzt hat. Wie er und Chifuyu füreinander da gewesen sind. Wie Chifuyu erkannt hat, dass die Katze nichts für den Unfall kann. Wie er den Mut gefasst hat, sich für seinen besten Freund einzusetzen und in den Krieg gegen meine Eltern zog. Wie er und Keisuke zusammen auf dem Dach gesessen sind, und es sich so vertraut und wundersam angefühlt hat, als wäre ich bei ihnen gewesen. Irgendwie.
Diese Erinnerung drängt sich am meisten hervor. Ausgerechnet die, die am schmerzvollsten ist.
Die beiden Jungs blicken mich aufmerksam an. Da liegt ein Ausdruck in ihren hübschen Gesichtern, den ich nicht beschreiben kann, aber sie sehen mich so an, als wäre irgendetwas wieder zwischen ihnen vollständig. Und es ist schön. Und da ist Glück und Vertrauen und unser Sonnensystem. Ein Licht funkelt in ihren Augen, das mit meiner Anwesenheit wieder zurückgekehrt ist, und ich kann es nicht messen, weil es einfach mehr als Licht ist. Es ist mehr als das, und nur wir wissen über seine Bedeutung Bescheid.
Ich erwidere ihr kleines Lächeln auf den Lippen, wodurch ich sie gleichzeitig schmecke. Meine Tränen. Tränen der Freude und des Wiedersehens. Sie sind wie all die düsteren Gedanken und Empfindungen der letzten Wochen, die endlich von mir loslassen.
Etwas spannt sich um uns wie ein Zauber, und es ist faszinierend und stark. Die letzten Lasten weichen, und dann...
Dann knallen unsere Stirn zusammen. Wir stoßen so heftig zusammen, dass es fast wehtut, aber das bekümmert niemand. Ihre Arme legen sich um meine Hüfte, meine drücken die beiden Jungs sehnsüchtig so gegen mich, dass ihre Nähe und Wärme mich lückenlos einnimmt. Wir drücken uns so fest aneinander, dass ich nicht weiß, wie wir uns noch jemals wieder voneinander lösen sollen. Aber ich möchte das gar nicht. Ich schließe die Augen und kann nicht sprechen, doch unsere Berührungen und Atemzüge sind wie eine andere Sprache, die für uns ausdrückt, wie sehr wir einander vermisst haben und wie wir ohneeinander nicht sein können und wollen.
Ich habe es tatsächlich geschafft!
Ich bin zurück. Ich bin wieder ein Mädchen. Ich kann sie wieder halten – in meinen Armen.
Weil ich es immer noch nicht so ganz begreifen kann, halte ich sie noch fester. Ein einziger Gedanke glüht wie eine weitere Flamme in mir auf: Ich will sie nicht nochmal im Stich lassen. Ich will nur noch das Mädchen an ihrer Seite sein, welches in ihnen ihre einzigartigen Helden gefunden hat. Keine Ritter in schillernden Rüstungen, aber Helden, die genauso menschlich, gebrochen und manchmal vom Leben verlassen sind wie ich. Aber wir haben uns, um die Einsamkeit niemals in unseren dunklen Zeiten über uns siegen zulassen. Ich mag vielleicht der kleinste und zerbrechlichste Planet in unserem Sonnensystem sein, aber das scheint für die zwei in Ordnung zu sein. Wir haben alle unsere Aufgabe zu erfüllen.
Er, Keisuke, die Sonne, die uns immer zusammenführen wird.
Er, Chifuyu, der Mond, der auch in den dunkelsten Stunden mit seinem strahlenden Licht für uns da ist.
Ich, Saejin, der Planet, der zwischen ihnen kreist und darauf achtet, dass sie sich nicht in ihrer Aufgabe verlieren.
Chifuyu und ich lassen die vielen, unterschiedlichen Gefühle heraus, unsere Tränen vermischen wie verschiedene Flüsse, die am Ende zu einem gigantischen und wunderschönen Meer aus Trost und Zärtlichkeit zusammen verlaufen. Keisuke hält uns beide währenddessen schweigend, aber mit Fürsorge in seinen Armen zusammen. Sein Duft nehme ich am stärksten wahr, und es fällt mir erst auf, dass mein Kopf sich selbstständig gemacht hat und nun bei seiner Brust ruht, als Chifuyus nasses Gesicht gegen meine Schulter stößt. Doch das hält ihn nicht davon ab, sich an mich zu klammern.
So bleiben wir eine Weile in unserer Seifenblase. Nur wir drei sind dort. Nur wir drei nehmen uns gegenseitig wahr, ahmen den leichten Atemzug unserer Sonne nach. Wir können es buchstäblich fühlen. Das Schließen der Lücke in unserer Brust. Ein kurzes, zartes Ziehen wie eine Tür, die achtsam und endgültig zugezogen wird, und dann ist es vorüber. Der anhaltende Schmerz ist vorüber. Einfach so. Eine Leichtigkeit legt sich über uns, über den Raum, über die gesamte Welt.
Das ist nicht einfach ein Wiedersehen.
Es ist ein Wiedersehen, das noch in der Gegenwart und der Zukunft greifbar sein wird, und es ist garantiert eines, das uns noch enger zusammen schmiegt. Plötzlich ist das nicht nur ein Wiedersehen, daraus bildet sich noch ein neuer Zeitabschnitt. Ein neuer Abschnitt für unsere Leben und unsere Freundschaft. Wie ich diesen neuen Abschnitt nennen soll, kann ich noch nicht sicher sagen, aber ich weiß, dass es nur noch besser werden kann. Und ich jede neue Sekunde davon genieße.
Irgendwann müssen wir uns voneinander lösen, weil die Hitze, die wir zusammen ausstrahlen, nicht länger auszuhalten ist. Doch das hält sie nicht davon ab, jeweils eine Hand von mir in ihre zu nehmen und zu drücken. Obgleich es nicht das erste Mal ist, wird mir ganz heiß. Ich sehe zwischen ihnen her, und ich frage mich, was passieren muss, damit ich es endgültig realisiere.
Keisuke lacht leise, als könnte er das fragwürdige Gekritzel über meinen Kopf schweben sehen. „Soll ich dich piksen?", bietet er mir grinsend an.
Ich schüttle den Kopf. „Es ist nur verrückt. Das alles."
Wenn die Umstände anders gewesen wären, wenn ich nach einem schweren Unfall nicht aus dem Koma erwacht wäre, hätte ich ihnen ohne Nachdenken von den letzten Wochen erzählt. Aber so würden sie mich vermutlich für geistesgestört erklären und glauben, die Motorhaube hätte mir doch den Verstand weggepfeffert. Dann kann man mich gleich an die Irrenanstalt weiterreichen.
„Haben dich die Ärzte schon über den Unfall aufgeklärt?", fragt Chifuyu auf der anderen Bettkante. Die Besorgnis in seinem Blick überrascht mich. Ich bin aus dem Koma erwacht und trotzdem findet er noch etwas, worüber er sich sorgen machen kann? Du bist zu gut für diese Welt, Chifuyu, ehrlich.
„Ich weiß, dass es verdammtes Glück ist, dass ich noch alle Körperteile und ein funktionierendes Hirn habe. Er hat mich als ein Wunder beschrieben", erwidere ich und meine Stimme sinkt einige Oktaven tiefer. Ob sie von meiner Hand wissen? Wie bei einem Autounfall – wie ironisch – schaue ich zu meinem halbtoten Körperteil. Halbtot, da ich Keisukes Nähe und Zittern spüren kann. So intensiv wie nichts anderes in diesem Moment.
Seine große Hand bedeckt sie so, dass ich nichts von den hässlichen Furchen entdecken kann. Wenn ich sie nicht schon anders gesehen hätte, könnte ich daran glauben, sie wäre normal, weil so wirkt sie in seinem Griff. Normal. Unbeschadet. Vollkommen. Als wäre meine Hand niemals für das Malen bestimmt gewesen, sondern für ihn. Und es ist ein übermächtiger Gedanke, der alle anderen bösen Geister ausblendet.
„Nein, warum es eigentlich erst so weit hat kommen müssen", folgt es verletzt von Chifuyu. Was soll das denn jetzt?
Geschockt wende ich mich an. „Ich habe einer Katze das Leben gerettet." Und dafür die Chance bekommen, meines wieder in Ordnung zu bringen. Doch das behalte ich für mich. Das wäre überstürzt, unüberlegt. Es könnte alles wieder ruinieren.
Seine Schultern beben, und sein Gletschereis bricht etwas auf, als wäre er erneut den Tränen nahe. „Warum?"
„Wieso ist das so wichtig?", will ich verwundert wissen und beiße mir auf die Zunge, als sich seine Nägel hilflos in meinen Handrücken bohren.
„Damit ich dich beim nächsten Mal aufhalten kann!" Sein lauter Ton und das Aufbrechen seines Herzens schlagen in mich ein wie ein eiskalter Blitz. Nicht nur ich fahre verwundet zusammen.
„Chifuyu", flüstere ich, doch er lässt mit einem Mal meine Hand los.
„Die letzten Wochen haben mich ausgeraubt!" Sein Kopf fällt schluchzend auf meinen Schoß und seine Hände krallen sich in meiner Decke fest. „Sie haben mir alles abverlangt! Ständig hatte ich nur noch dieses Bild von dir vor meinen Augen, wie du auf der Straße liegst. Bewegungslos! Das... Das hat mich wahnsinnig gemacht, Saejin, verstehst du?!" Sein Schreien sackt in ein Wimmern über, sein sich verkrampfender Brustkorb und schnappartiger Atem lässt mich befürchten, dass er gleich hyperventilieren wird.
Keisuke will schon reagieren und stützt sich vor, da streichle ich dem Blonden bereits durch das Haar und wandere zu seiner rot-glühenden Wange ab, um die dort fallenden Zeichen seines gebrochenen Herzens aufzufangen.
„Es tut mir leid, Chifuyu", wispere ich und fühle mich schrecklich. Die furchtbaren Bilder ihrer Schattentage kehren zurück, die mich innerhalb eines Herzschlags entmächtigen. „So unendlich leid..."
Auf einmal hebt er den Kopf an und starrt mich mit einem Gletscher an, in dem kein einziger Strahl von Sonnenlicht tanzt. „Mach das bitte nie wieder!", krächzt er und schnieft, „ich verspreche dir auch, immer pünktlich zu sein! Aber, bitte, tue uns das nicht nochmal an! Der Gedanke, dich zu verlieren, ist unvorstellbar und grausam."
Sein Blick ist wie ein offenes Buch, weil er bemüht sich kein bisschen darum, seine Gefühle zurückzuhalten. Wir beide wissen, was er bezwecken möchte, und in einigen Situationen wäre es unangemessen, dass er mir die vergiftete Klinge, die ich ihm durch meinen Unfall in die Brust gestoßen habe, nun zurückgibt. Auf dieselbe brutale Weise und mit denselben Effekt.
In dieser Situation kann ich die vergiftete Klinge allerdings abfangen.
Was ich sagen soll und was nicht, sind zwei verschiedene Dinge. Und ich tue keines von beidem. Ich nicke nur und bereite mich auf das Nächste vor, denn Chifuyu ist keineswegs zornig auf mich. Er ist verletzt, und er geht damit so um wie es von ihm gewöhnt bin. Weshalb ich ihn und die Klinge nicht aufhalte.
Keisuke weiß das auch. Bevor ich aber bei ihm reagieren kann, steht er schon. „Ich werde uns etwas zu trinken holen, damit hier mir keiner von euch Heulsusen dehydriert", meint er mit seiner dunklen Stimme. Dann verlässt er das Zimmer. Und mit ihm schwindet der Zauber, die Seifenblase zerplatzt, und da... da ist dieser einschlagende Schmerz. Rasant erklimmt er sich zurück an die Spitze der Gefühle.
„Tue uns das bitte nie wieder an, Saejin. Bitte. Nicht nur ich hatte dumme Ideen im Kopf, Baji-san hat sich deinetwegen fast in Gefahr gebracht." Bloß ein kratziges Flüstern eines zerschmolzenen Gletschers, doch der letzte Satz drückt die Klinge durch mein Herz und es ist zäh, versucht sich zu wehren. Chifuyu rutscht zu mir herüber – bis seine Arme mich einhüllen und gemeinsam in dieses tiefe Loch ziehen. „Wir brauchen dich. Ich, Baji, deine Eltern. Wir alle haben dich vermisst." Winselnd versteckt er sein mittlerweile rotes Gesicht an meinem Schlüsselbein und sein Weinen hat keinen Ton. Der Schmerz hat keinen Ton. Ich kann seine Existenz nicht leugnen, meine Hände finden ihren Weg an seinen Rücken und versteifen sich dort, weil es ist kaum auszuhalten.
Keisukes verletzlichste Worte schallen durch die Stille.
„Aber jemand zu lieben, der nicht da ist und die Möglichkeit besteht, dass er das nie wieder tun wird, ist wie Sterben im wachen Zustand."
Diese Worte kann ich nicht vergessen.
Sie sind der letzte Stoß, und plötzlich gehört die Klinge wieder ganz allein mir.
Es ist ein entschieden grausames Gefühl, mit einem Nachdruck, der immer zu spüren sein wird. Wir haben viele schöne Dinge, die uns als Freunde eng miteinander verbindet, aber dieser Schmerz gehört eher zur gnadenlosen Sorte. Es ist nicht das Wiedersehen, das enger zusammenschweißt, es ist der Schmerz und die Angst, ohne den anderen leben zu müssen.
Jetzt verstehe ich, wieso er so verletzt ist. Ich habe es zugelassen, dass wir unsere Freundschaft mit Schmerz verbinden.
„Es tut mir so leid, Chifuyu." Aber mir ist bewusst, dass ich mit diesen Satz niemals das ausdrücken kann, wie dieses Gewissen in meinen Adern brennt wie heißes Öl. Der Schmerz wird niemals verschwinden. Wir müssen nun damit klarkommen. Das muss die eigentliche Herausforderung sein. Etwas Schönes darin finden, um ihn an seinem Einfluss zu berauben. Er darf nicht zwischen uns stehen, das dürfen wir nicht billigen. Wir scheinen bereits auf der Suche zu sein, aber es ist eine Tortur, die uns an die neue Grenzen bringt.
Ich erlaube es ihm, meine Hand zu halten und strenge mich dabei an, ihm durch meine Zuneigung das Gefühl zu geben, dass er nicht allein ist. Lasse es zu, dass er sich verzweifelt an mir festhält und dass seine Tränen den Krankenhauskitteln ruinieren. Zum Glück – wenigstens wird er so zu etwas Persönlichem. Und ich lasse es zu, dass er all das Gebrochene und Angeknackste gegen mein Schlüsselbein lagert und dort auch herauslässt. Weil er das braucht. Ich selbst kann nur so von meinem eigenen Schmerz ablenken. Vielleicht nehme ich seinen deswegen instinktiv wahr – weil ich gut darin bin, meinen zu verdrängen, aber dabei seine hässliche Grimasse nicht vergessen habe. Er braucht meine Nähe, ich brauche seinen Schmerz, um mir zurückzurufen, was ich angerichtet habe. Wie viele Schutzwälle ich gebrochen habe, um Herzen so sehr zu brechen wie die meiner engsten und einzigen Freunde.
„Saejin", flüstert er gedämpft meinen Namen. Er bewegt sich so, dass seine Stirn geschwächt gegen mein Schlüsselbein lehnt. Unsere verknoteten Hände unter seinem Blick. Da und dort landet eine Träne auf meiner Haut und wird von dieser abgestoßen wie ein neuer Schutzfilter. Sein Druck gibt nach, der Schmerz hat ihn die letzte Energie gekostet. „Darf ich dich etwas fragen?", fragt er mich nach einer kurzen Pause, als er wieder so an Kraft erlangt hat, dass er mir ins Gesicht sehen kann.
„Klar darfst du das." Ich lächle traurig und hasse es, wie ich nicht dazu in der Lage bin, ihm mit der anderen Hand die Tränen wegzustreichen. Jede einzelne von ihnen, die mir gewidmet ist. Jetzt, wo der Zauber auch sie verlassen hat, fange ich an sie immer weniger auszustehen.
„Woran hast du gedacht?" Er schluckt und verzieht seine Lippen. „Du weißt schon, als du..."
„An euch", schneide ich ihm ins Wort, ohne darüber überlegen zu müssen, worauf er anspielt. Es ist glasklar.
Er blinzelt und erstarrt. „Und als du aufgewacht bist?"
Ich entledige mich seiner Hand, allerdings aus dem Grund, um sie behutsam gegen seine Wange zu lehnen. Mein Lächeln kippt.
„An euch."
Seine Augen schließen sich bei meinem kreisenden Daumen. Wie ein Fächer fängt er die letzten Reste seines Leidens auf und lässt sie verschwinden. „Das ist gut", sagt er mit schwacher Stimme, als hätte er die letzten Stunden nur geschrien. Er schmiegt sich meiner Berührung entgegen, als wäre sie das einzige, was ihn in diesem Augenblick daran hindert, zu zerbrechen. In Ganzem.
„Deshalb bin ich zurückgekommen", entgegne ich und lehne mich so weit zu ihm vor, dass meine Nasenspitze in seinem mittlerweile dunkelbraunen Ansatz versinkt. „Wegen euch. Ich möchte alt werden – mit Keisuke und dir. Ich möchte nicht länger das Weltall bereisen und die Welt von da oben sehen, denn meine Welt seid ihr zwei. Ich möchte der Nebencharakter in euren Geschichten sein, der euch im Hintergrund immer anfeuert und niemals aufhört, an euch zu glauben. In euren tiefsten Punkten möchte ich bei euch sein und euch dabei mit Stolz beobachten, wie ihr wieder zu euch findet, weil für mich seid ihr nicht nur Freunde, ihr seid Vorbilder. Aber ich werde euch auch unterstützen, egal, wann und wo. Ich möchte für euch da sein. Für den Rest meines Lebens."
„Aber warum hast du das getan? Wenn du bei uns sein möchtest?", fragt er und holt tief Luft.
„Weil ich es für richtig hielt", gestehe ich es und es ist mehr ein Würgen, weil ich mich so anstrengen muss, um mein Herz nicht in einem Zug hinaus zu kotzen. Es tut weh. So beschissen weh. „Und ich habe gedacht, ihr würdet dasselbe an meiner Stelle machen. Ich... Ich wollte ein Leben retten. Genau wie ihr meines gerettet habt."
„Fuck...", murmelt er und vergräbt sein feuchtes Gesicht hingebungsvoll in meiner Handfläche wie in ein Kissen, das ihn einhüllt und von der unfairen Außenwelt abschattet. Wenigstens kann ich so fühlen, dass er da ist; dass meine Nähe nicht an Wirkung verliert; dass ich für ihn da bin und er in dieser gewogenen Sicherheit an Seelenfrieden findet. „Hältst du es immer noch für richtig?" Sofort beißt er sich auf der Zunge, nachdem er diese Frage gestellt hat. Als befürchtet er, damit ein Gewitter zu beschwören, das weder er noch ich zähmen kann.
Doch ich lächle nur schwach und seine blonden Strähnen kitzeln mich, als er leicht gegen mich schwankt. „Ich bereue nur den Schmerz, den ich in euren Herzen verursacht habe. Ich habe etwas von euch verlangt, das ich euch niemals zurückgeben kann."
„Du reichst." Das kommt so schnell von ihm, dass ich mir seine Worte erst bewusst werde, als er sich aus meiner Woge gewunden hat und mich ansieht. Er schenkt mir sein wärmstes Lächeln und lockt mich so in sein Sonnenlicht, das mich halbwegs blendet. Er drückt meine zittrige Hand, und es ist eine bittere Erkenntnis, dass sein Licht mich auf die Knie zwingt. Es ist zu tief. Zu hell für sein Sonnenlicht. Wieso bin ich nicht immun dagegen? Wieso schaut er mich so an? So... mit dieser glühenden Intensität? „Dich lebendig vor mir zu haben reicht mir."
Es braucht einen Moment, bis ich anständig Luft geholt habe.
Er beugt sich vor und einen holprigen Herzschlag lang ruhen seine Lippen auf meiner Stirn. Es passiert so schnell, dass ich überhaupt nicht darauf reagieren kann. „Baji-san wird das auch so sehen – und wenn nicht, werde ich diesem Dickkopf in den Arsch treten." Er lacht und währenddessen fällt sein Kopf zurück an meine Schulter, als hätte er in den letzten Minuten beschlossen, dort für den Rest des Tages zu verweilen. „Ach, Saejin...", seufzt er und sein Grinsen ist warm und entspannt, „in deiner Abwesenheit hat sich dein komplettes Leben verändert. Aber das, das soll er dir selbst sagen. Ich bin nur froh, dass du wieder da bist. Wohlauf. Bei uns."
Stimmt. Beinahe hätte ich es vergessen: ich bin als das Mädchen gestorben, das in Chifuyu verliebt gewesen ist, und als das Mädchen aufgewacht, das ihr Herz an seinen besten Freund mit dem wildem Feuerherzen verloren hat.
Es ist nur ein Kuss auf die Stirn gewesen. Nichts Dramatisches oder Tiefgehendes. Nur ein Kuss der Erleichterung, der überlappenden Emotionen. Oder? Nein, ich soll darüber nicht weiter nachdenken. Aber wie – wenn die Stelle, die er mit seinen Lippen berührt, nicht aufhört, zu brennen? Wie eine allergische Reaktion auf etwas, das nicht mit meinem Herzschlag harmonisiert? Die Flamme in mir flackert wie bei einem Gewitter, das er doch noch beschworen hat, aber es ist keine Gefahr für das Feuer meiner Gefühle. Kein Regen dieser Welt kann es löschen.
Meine Liebe für Keisuke ist endlos.
Wo bleibt er? Dafür, dass er nur etwas zu trinken holt, braucht er abnormal lang. Hat ihn etwas aufgehalten? Vielleicht meine Eltern? Wieso sind sie nicht da? Das ist das schrägste an allem, und ich bin erleichtert darüber, was Anderes gefunden zu haben, worüber ich mir den Kopf zerbrechen kann, bis er zurückkehrt.
„Chifuyu?" Ich blicke zum Blondschopf und warte auf eine Reaktion. Es vergehen 10 Sekunden, Minuten, und dann spreche ich lauter mit einer Reibeisenstimme: „Chifuyu?!" Doch wieder nichts. Er muss eingeschlafen sein, stelle ich grummelig fest und graule ihn liebevoll die Haare. Ach, Fuyu, was will dein Herz wirklich? Scheiße, und schon denke ich daran zurück. Hat ja super geklappt. Diese flüchtige Berührung hat nichts zu bedeuten. Zumindest für mich. Aber für ihn? Steckt da mehr dahinter? Das macht gar keinen Sinn. Wieso sollte er so für Keisuke und mich gekämpft haben? Seinetwegen steht Keisuke zu seinen Gefühlen mir gegenüber. Er ist bei meinem Dad gewesen, um ihn um eine neue Chance zu bitten, er hat ihn meinem Manga gegeben, er hat...
Oh, scheiße.
Er hat mich geküsst. Letzten Sommer.
Unser allererster Kuss.
Dieser Gedanke treibt das Blut in meine Wangen. Ist er etwa... in mich verliebt? Unmöglich. Ich nehme meine Hand aus seiner Haarpracht und fasse mir an die eigene, nun glühende Stirn. Die Erinnerung kommt wie ein Schutzreflex, wie er zu gegeben hat, dass ich wie eine Schwester für ihn bin. Das ist nicht mehr oder weniger als Freundschaft, aber eine engere Bindung, die solche Berührung grundsätzlich erlaubt. Das ist doch eindeutig.
Mensch, Saejin, du bist eine bescheuerte Gurke. Hör auf, immer von dem Schlimmsten auszugehen!
Vorsichtshalber schüttle ich die restlichen Gedanken daran von mir ab, bevor ich meine Lider schließe und mein Gesicht in seinem blonden Schopf kuschle. Auch in mir gibt etwas nach, ein bestimmter Teil, der sich bei seiner Nähe aufgehoben und sicher fühlt. Gerade will ich nicht weiter darüber nachdenken oder irgendetwas anderes es ermöglichen, diesen Moment zu ruinieren.
Gerade will ich ihn nur so festhalten, dass er ohne die Angst, mich nochmal zu verlieren, aufwachen wird.
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