old pain washed away.
„Ich dachte schon, ihr wollt mich mästen." Kazutora schenkt uns allen drei einen garstigen Blick vom großen Esstisch aus.
„Ein paar Pfunden schaden dir nicht", scherzt Keisuke und grinst ihn an. Es ist erstaunlich, wie einfach er damit den Raum erhellt, als würde er bewusst die Strahlen seiner inneren Sonne nach außen absondern.
„Ich bin kein Tier, das sich für den Winter fett anfressen muss." Kazutora stiert ihn dunkel an. Er vernichtet geradewegs jeden Strahl.
Keisuke spannt sichtlich den Kiefer an. „Sei kein Miesepeter", brummt er, „in der Grotte, wo du gewesen bist, gab es bestimmt nicht so etwas."
Genau darum ist die Sonne unseres Universums gefährdet, weil Kazutora eine Finsternis in sich beherbergt, dem selbst ein Inferno wehrlos ausgeliefert ist.
„Die ein oder andere Ratte war gar nicht schlecht", entgegnet dieser gleichgültig. Seine Wolfsaugen sehen mich an, so durchdringend, dass ich mich furchtbar ertappt fühle, obwohl ich nichts angestellt habe.
„Bei uns gibt es keine Ratten", sage ich und baue mir in der Schnelle einen Schutz auf, „aber ich kann dir bestimmt eine draußen fangen, wenn du möchtest."
„Nein, danke." Er schüttelt den Kopf, das Klingeln seines Ohrringes geht mir bis tief unter die Haut. Wie die kleinen Fühler einer Kakerlake kriecht es mir über den Rücken, mein Atem geht abgehackter, als sich die Hitze über den Rest meines Körpers ausbreitet. „Du könntest aber..."
„Wo ist ihr Dad?", unterbricht ihn Chifuyu und hört sich aufgewühlter an als er wohl bedenkt hat, denn Kazutora verzieht die Wolfsaugen so finster, als würde er ihn kurzerhand rügen wollen.
„Er hat sich den Finger am heißen Öl verbrannt und ist kurz ins Bad geflüchtet", erklärt er ihm spitz. Wie ich es vorhergesehen habe.
Chifuyu wirkt nicht überzeugt von dieser Antwort, verzieht misstrauisch das Gesicht, aber er nimmt den Platz neben ihn ein. „Dann ist ja alles gut."
„Genau", erwidert Kazutora.
Sie sehen sich an, Blitze scheinen aus ihren Augen zu springen. Etwas spannt sich zwischen ihnen an, wie kurz vor einem lauten und heftigen Sommergewitter, dass den gesamten Himmel aufrüttelt. Sie sind nicht bei Keisuke gewesen, als ich mit meinem Dad gekommen bin. Wo sind sie dann gewesen? – und was ist passiert, warum sie sich so anschauen, fast zähnefletschend, dass selbst ich kaum richtig atmen kann, ohne dabei den Dunst ihres Zorns einzuatmen?
Ich werfe den Blick zu Keisuke. Vielleicht übertreibe ich nur und die zwei sind schlecht gelaunt, da sie, wie wir alle anderen, Hunger haben. Aber er wirkt nicht weniger skeptisch als ich. Drei Sekunden lang, dann grinst er die Unruhe fort.
„Sieht echt gut aus", kommentiert er das Essen wie man es über das Wetter macht, aber nicht auf diese hilflose Weise. Mehr auf eine ernste Weise. Wie eine verhüllte Warnung. Seine Kupferfunken starren seine Freunde an. Die zwei, die sie nicht überhören sollten. „Findet ihr nicht auch?" Oh, sein scharfer Ton ist nicht ungefährlich. Er kann die Stimme erheben und seine Macht sehr wohl benutzen, wenn die Situation es von ihm so verlangt.
„Ja, schon." Auch, wenn Kazutora physiaklisch nicht länger dazu gehört, tut er es pyschisch auf vertiefste Art dennoch. Keisuke ist der letzte und stärkste Zweig, der ihn immer an Toman bindet, so stark, dass er wieder seine nichtssagende Mimik aufsetzt wie ein Wall, der seine emotionalen Ausbrüche abfängt. „Wenn sich die Dame des Tages nicht bald hinsetzt, wird es nicht mehr so gut sein", sagt er trocken und lehnt sich lässig im Stuhl zurück.
Sofort strecke ich ihm die Zunge heraus, worauf er wieder so provokativ grinst, dass ich ein Fauchen hinunterschlucken muss wie Blei. Ich weiche ihm wieder aus und betrachte besser das Werk von meinem Dad und mir für eine Minute.
Die Vielfältigkeit des Essens ist akkurat in roten Schalen angerichtet, beinahe wie aus einem Ghibli-Studio-Film entsprungen. Ich bin schon immer neidisch darauf gewesen, wie gut das Essen in Chihiros Reise ins Zauberland aussieht. Und nun habe ich etwas in dieser Richtung vor mir. Unglaublich, was wir in den letzten Stunden geschafft haben. Gemeinsam. Wie eine neue Einheit unserer Familie, die auch die Zeiten ohne meine Mam überstehen kann.
„Also – was verbirgt sich noch hinter diesem Treffen?", nutze ich diese neue Gelegenheit und verstecke die Schachtel hinter meinem Rücken, als sich alle Blicke auf mich richten.
„Dreh' dich mal um", antwortet mir Chifuyu von ihnen.
Sein Lächeln ist weich, doch sein Gletscher umgibt eine harte Eisschicht, die ich vorerst nicht erreichen kann. Er ist niemand, der sich ohne Grund mit jemand streitet. Sein Gerechtigskeitssinn ist der ausgeprägste Strang seines Herzens. Bemerkt er es vielleicht auch? Die Finsternis, die von Kazutora aus direkt in ihn wandert wie das Wasser, das bei einer Ebbe zurück in den stürmischen Ozean fließt. Das Problem ist, es ist nur kein Wasser – sondern pechschwarzes, dickflüssiges Öl. Eine vernichtende Gefahr für jedes Leben im Ozean.
Ich unterdrücke diese einschüchternde Vorstellung und drehe mich um. Hinter mir steht ein weiterer, kleiner Tisch. Als ich die Küche verlassen habe, hat er dort noch nicht gestanden. Mein Dad muss dafür verantwortlich sein. Vermutlich mit der Hilfe von ihnen. Mehrere Geschenke stapeln sich in türkisfarbenes, einheitliches Papier, auf denen ich glaube Schmetterlinge in allen Farben zu erkennen.
„Für wen sind die?", frage ich verwundert und kneife die Lippen zusammen, als ich auf dem Tisch zu gehe. Natürlich sind sie für mich, aber ich will das nicht glauben. Es ist wie ein wahrgewordener Traum. So einen Geburtstag habe ich mir schon immer gewünscht, jedes Mal, wenn ich die Kerzen meines Kuchens ausgepustet habe. Bei mir daheim, mit meinen engsten Freunden und meiner Familie. Ich dachte immer, umso kräftiger ich puste, umso eher würde mein Wunsch in Erfüllung gehen. Ein Geburtstag, der von Kindheit auf für mich ungreifbar erscheint hat, weil nie jemand zu mir nach Hause wollte. Zu mir und meinen toxischen Eltern.
„Die sind für dich, kleines Dummerchen", strahlt Keisuke an meiner Seite, als könnte er sich keinen Meter von mir lösen. Er hätte sich schon längst an den Tisch sitzen können, zu seinen Freunden. Stattdessen ist er lieber bei mir, so nah und bedürftig, dass ich spüre, wie er vorsichtig mit den Fingern über meinen Handrücken streicht. Wie ein Nachprüfen, dass ich noch da bin, hier in diesem Moment, und ihm noch nicht davon geschwebt bin. Aber wo soll ich hingehen, wenn er mein Zuhause ist und ich dort mein Für-immer verbringen möchte? Mit ihm?
Mir fehlen die Worte.
Ein Geschenk sticht aus dem Berg hervor. Es ist klein und weiß, nicht größer als meine Hand. Ich lege meine Schachtel ab, um es besser betrachten zu können. Von wem wohl dieses ist? Auf jeden Fall ist er nicht in dem Plan meines Dad eingeweiht worden.
„Das ist von Kazutora", klärt mich Keisuke auf, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Was? Überrascht sehe ich zum Wolfsjungen und muss mit den Tränen kämpfen. Ich habe wirklich Angst davor loszuweinen – es wäre das schlimmste, an diesem Abend zu einer flennenden Gurke zu werden, bloß, weil ich so tief berührt bin, als würde eine Bedrücktheit von mir abgeschält werden, die bis jetzt eine belanglose Gewohnheit gewesen ist. Sich zwischen Trauer und Wut gequetscht hat wie ein fast unsichtbarer Spreißel.
Dann ist eben niemand zu meinem Geburtstag erschienen, dann haben sie in der Grundschule eben meine Einladungen nach der Schule in den Mülleimer geworfen und dann, in der Mittelschule, haben die Eltern sich alle möglichen Ausreden ausgedacht, warum ihre Kinder nicht zu mir kommen können. Grippe, wichtiger Termin, andere Familienveranstaltungen. Ich bin so blindgläubig gewesen und habe angenommen, darüber stehen zu können – doch tatsächlich hat es etwas in mir gebrochen und verschoben, das mich dazu gezwungen hat, zu einer Einzelkämpferin zu werden. Genauso wie meine Eltern.
Wie ein gebrochener Knochen wächst diese entstandene Lücke in mir in diesem Augenblick zusammen. Er renkt sich ein, nicht tadellos oder vollständig. Ein Bruch verheilt nie glatt, pyschische Narben sind nicht ohnehin für viele unsichtbar, aber für den Träger die bittersten. Es ist ein sanftmütiges Ziehen, das kitzelnd von den Zehen bis durch die Magengrube verläuft und mir liebevoll die Luft wegschnürt.
„Danke", flüstere ich, kämpfe gegen mein wässriges Lächeln an und drücke das Geschenk gegen meine flattrig-schlagendes Herz, „damit meine ich euch alle. Danke, dass ihr hier seid. Das ist der beste Nach-Geburtstag, den ich mir wünschen kann."
„Gern geschehen, Saejin." Chifuyu widmet mir einen tröstenden Blick und ein schönes, warmes Lächeln voller Sonnenkraft, als scheint er zu verstehen, wie ich mich in diesem Moment fühle. „Ich bin mir sicher, dir wird unser Geschenk gefallen."
„Klar wird das", stimme ich freudig zu, höre mich etwas heiser an, als hätte ich bereits stundenlang geweint. „Schließlich ist es von euch, meinen zwei Helden."
Unerwartet wird er rot und senkt beschämt den Kopf, so dass ihm die blonden Strähnen über die Gletscheraugen fallen wie ein dichter Vorhang. Aber ich muss sie nicht sehen, um zu wissen, dass ich einen Volltreffer gelandet habe. Seine Reaktion hat mir bereits das gezeigt, was ich bewirken wollte. Auch er scheint allmählich zu verstehen, dass sie mir alles bedeuten – und wie überwältigend dieses Gefühl ist, einem wichtiger zu sein als sein eigenes Leben.
„Saejin", flüstert Keisuke sanft.
Eine softe Berührung an meiner rechten Hand bringt mich dazu aufzublicken. Ich bin doch froh, mich im Badezimmer gegen einen Verband entschieden zu haben. So kann ich ihn spüren, und dieses Gefühl ist besonders. Und es gehört nur mir.
„Dafür musst du uns nicht danken. Du hast uns eingeladen und wir sind gekommen, das ist ganz normal." Leider nicht für mich, aber diese Altlast möchte ich ihn nicht aufzwingen und schweige. Denn sie wird sowieso im Verlauf des Abends keine Rolle mehr spielen.
Keisuke verschnürt unsere Finger fest miteinander und sieht mich an. Es ist ein kurzer Moment, wo ich nur sein loderndes Feuer wahrnehme und nichts Anderes. In seinem Ausdruck von Aufrichtigkeit und Zuneigung zergehe wie Wachs, das bei der Gewaltigkeit seiner Flamme jede Schicht meines seelischen Schutzes herunterbrennt. Was er sieht, ist niemand anderes fähig zu sehen. Und ich wünsche mir inständig zu wissen, was er am Abgrund meiner Selbst findet, das ihn so an mich kettet.
Dann presst er einen zuckersüßen und langen Kuss gegen meine Stirn.
„Alles Gute zu deinem nachträglichen Geburtstag, Prinzessin." Seine Worte hören sich atemlos an, als hätten ihm die weichen Berührungen und sein zu tief gewagter Blick die Luft aus den Lungen gestohlen. „Ich habe noch etwas Anderes für dich vorbereitet, aber das wirst du erst nach dem Essen bekommen. Oder wie soll ich es besser umschreiben? Du wirst es später erleben."
Rasant sammelt sich mein kochendes Blut in meinem Gesicht an und Keisuke gibt ein sachtes Lachen von sich. „Ich...", murmle ich, kann aber nur schwer meine Stimme finden.
„Keine Sorge, so schlimm ist es nicht", sagt er aufgeregt, drückt meine Hand und neigt den Kopf so schräg, dass seine strahlende Kupferfunken mir den eigenen Verstand verdrehen. Ich will etwas sagen, nicht wieder gleich abdriften – da nimmt die Stimme meines Dads all den Schimmer aus diesem Raum.
„Jetzt können wir aber endlich anfangen", lächelt er und setzt sich gegenüber von Chifuyu an den Tisch, ehe er sich zu uns lehnt. „Kommt ihr?"
„Endlich." Keisuke zieht mich an der Hand mit sich, aber ich wäre ihm sowieso ohne Widerspruch gefolgt. Egal, wohin.
Ich suche mir den Platz zwischen ihn und Chifuyu aus, eine andere Wahl wäre mir gar nicht geblieben, da er von sich aus schon den letzen Stuhl auf der anderen Seite gewählt hat. Jetz fällt mir auch die seltsame Anrichtung der Sitzmöglichkeiten auf. Mein Dad hat keinen anderen Stuhl bei sich, wobei ich weiß, dass wir mehr haben – doch, als hätte er damit gerechnet, dass niemand bei ihm sitzen will, hat er diese auf meiner Seite verteilt.
Kurz überlege ich, ihn zu fragen und gleichzeitig anzubieten, dass ich mich zu ihm setze, als er beginnt, das koreanische BBQ für die Jungs zu erklären. Offenbar macht ihm diese Position nichts aus. Ob es etwas damit zu tun hat, weil Mam nicht bei uns sein kann? Oder glaubt er, ich würde mich an seiner Seite nicht so wohlfühlen? Das ist Schwachsinn, allerdings kann ich in seinen Kaffeeaugen nicht wirklich lesen, was er denkt. Er mag es nicht im Mittelpunkt zu stehen, aber wenn es darum geht, Traditionen und Wissen weiterzugeben, ist er Feuer und Flamme.
Da mir die Vorgehensweise bekannt ist, höre ich nicht wirklich zu. Ich mustere nochmal Kazutoras Geschenk, das Papier, das sich so hart und wideranstrebend anfühlt wie einfaches Schreibpapier. Es ist auf der Unterseite mit Tesa zusammengeklebt worden, es ist nicht gradlinig und präsize gefaltet worden wie wohl die anderen Geschenke. Man kann erkennen, dass er einige Versuche gebraucht hat, bis es wirklich gehalten hat. Da und dort hängt ein Stück ab, aber nicht weit genug, um den Inhalt preiszugeben. Immerhin hat er sich bemüht. Auf seine Weise.
Baff darüber, dass er und mir überhaupt ein Geschenk mitgebracht hat, schiele ich zum Wolfsjungen. Als könnte er Blicke aufspüren, treffen seine Augen in wenigen Sekunden auf meinen. Stumm scheint er mich zu fragen: „Was ist los? Noch nicht genug über Mode geschwätzt?"
Ich beiße mir in die Zunge und versuche ihm durch bloßen Blickkontakt meine Dankbarkeit zu zeigen, indem ich lächelnd das Geschenk ein wenig anhebe.
Als würde er meine Sprache nicht verstehen, wandern seine Brauen in die Höhe. Das Gelb seiner Augen wird klarer vor Aufmerksamkeit, doch so ganz will er nicht kapieren, was ich ausdrücken möchte. Er runzelt die Stirn. Das ist wie in der Schule, wenn man seinen Sitznachbar unbedingt etwas mitteilen will, aber keinen Ärger vom Lehrer kassieren möchte. Mein Dad wird mich nicht bestrafen, aber ich glaube, Kazutora möchte in keinster Weise ins Rampenlicht gehoben werden.
Er ist wie ein Schatten. Still, kalt, undurchschaubar. Aber einst ist dieser Schatten ein Licht gewesen, das von der Dunkelheit in seinem zertrümmerten Herzen verschlungen worden ist. Er ist noch nicht vollkommen verloren, davon bin ich felsenfest überzeugt.
„Danke", forme ich wortlos mit den Lippen und hoffe, dass er es möglicherweise nun verstanden hat. Unruhig rutsche ich leicht hin und her, bis er sich bewegt.
Er zuckt mit den Schultern und wendet sich ab. Da kann ich es plötzlich auffangen: die Ansätze seines böshaften Grinsens, die zuckende Biegung seiner Mundwinkel. Er hat mich verarscht! Von Anfang an hat er gewusst, was ich von ihm wollte. Dieser geschmacklose Vollpfosten!, explodiert es in meinen Gedanken.
„Wer ist ein geschmackloser Vollpfosten?", fragt Dad verblüfft nach einer Stille, die mir gar nicht so knapp vorgekommen ist.
Verdammt. Ich habe meine Gedanken laut ausgesprochen. Nein, genauer genommen: ich habe geflucht. Am Esstisch. Zum ersten Mal. „Niemand", seufze ich kleinlaut mit dem schamroten Kopf sinkend in den Armen. Als könnte mich das noch vor irgendwas bewahren, ich bin Kazutora mitten in die Falle getappt!
Der Übeltäter lacht am anderen Ende des Tisches auf, schadenfroh wie je und eh. Darauf muss Chifuyu neben mir schnauben wie ein verärgertes Tier. Ganz gleich, worüber sie vorher miteinander zu zweit geredet haben, ich bin zweifelsohne ein Gesprächsthema gewesen. Warum? Worüber haben sie geredet, eher sogar: diskutiert?
„Ich wusste gar nicht, dass du so gut darin bist, dir neue Freunde zu machen, Kazutora", entlockt es Keisuke sarkastisch.
Als sein Arm leicht gegen meine Schulter stößt, wage ich es den Kopf anzuheben. Mit ihm fühle ich mich selbstbewusster, mutiger. Schon immer. Böse funkel ich den Wolfsjungen an und verkneife mir ein weiterer, fieser Kommentar zu seinem Aloha-Hemd.
„Du weißt doch", kontert Kazutora und grinst an mir vorbei, „ich mache mich auf eine ganz besondere Art beliebt." Ja, auf die feine Arschloch-Variante.
„Tja, kleine Schildkröte", mein Dad entgeht mein Unbehagen nicht und fängt zu scherzen an, „das kommt davon, wenn man nur pubertierende Jungs zu seinem Geburtstag einlädt. Einer ist immer schlimmer als der andere."
Schlägt er sich gerade auf ihre Seite? Ich starre auf den kochenden Hot Pot und stelle mir vor, für einen Augenblick darin verschwinden zu können. „Dann sitze ich lieber mit 10 Katzen an einem Tisch als mit Kazutora-kun."
Jetzt müssen alle in Gelächter ausbrechen, sogar Kazutora.
„Ja, wieso ist hier eigentlich keine Freundin von dir?" Neckt er mich wirklich noch weiter? Beinahe hat es so ausgesehen, als hätte er mir zu gezwinkert, aber das ist kompletter Schwachsinn.
Ich kann ihnen schlecht erzählen, dass meine einzige Freundin eine verliebte, dreifarbige und quietschende Glückskatze ist, weshalb ich einen Gegenangriff starte. „Wieso? Du bist der perfekte Ersatz. Du kennst dich offenbar mit Mode aus, deine Haare sind lang genug, dass wir uns später gegenseitig Zöpfe machen können – und ich kann dir einer meiner Ohrringe ausleihen, so als Freundschaftsohrring. Natürlich in Pink. Ein Palmenblatt habe ich nicht im Angebot."
Schlagartig läuft er rot an, ob vor Scham oder Zorn, ist mir gleich. Für hat mich bloß eine Sache gezählt: ihn zum Schweigen zu bringen. Das ist wie ein Sechser im Lotto.
Keisuke lacht kopfschüttelnd und legt sich mittels Stäbchen einer der Rinderstücke auf den Hot Pot. „Das ist gemein von dir gewesen, Saejin. So kenne ich dich gar nicht."
Auch Chifuyus Mimik hat sich in den letzten Minuten verändert, sein Eis ist wortwörtlich gebrochen. Er blickt mich so aufrichtig an, dass mir seine Zustimmung sogleich ins Auge sticht, als würde er mir sagen wollen: Das hast du gut gemacht, er hat's verdient. Da sind wir einer Meinung.
„Sie ist eben so schlagfertig wie ihre Mutter", meint mein Dad stolz, bevor er beschließt: „lasst uns anfangen."
„Ich bin eben nicht mehr das kleine, verängstigte Mädchen, dessen Manga ihr damals auf der Bank gefunden habt. Inzwischen kann ich zurückbeißen", werfe ich noch in die Runde und kräusle die Nase.
„Das glaub ich dir aufs Wort, Saejin", lächelt Chifuyu und seine Schulter boxt gegen meine, „wer es so lange mit Baji-san aushält, hat schon von Natur aus einen dicken Pelz."
„Tsk", kommt es vom Angesprochenen. Er streicht sich mit der freien Hand die langen Strähnen aus dem Gesicht und segnet seinen Freund anschließend mit einem dreisten Grinsen. „Du bist auch nicht unbedingt ein Schmetterling, Chifuyu."
„Vielleicht." Er hebt den Kopf leicht zur Seite und schürft die Lippen. „Ich bin auf jeden Fall mehr Schmetterling als du. Du bist eher eine lästige Motte. Hast du dich erstmal eingenistet, bekommt man dich wieder nur schwer los."
„Ist das so?" Keisuke lacht, ehrlich und dunkel. „Dann bin ich gerne eine Motte, wenn ich dir so richtig auf den Sack gehen kann."
Chifuyu stimmt mit seinem Lachen ein.
Die zwei haben sich wirklich gut, nahezu perfekt, beschrieben. Der wunderschöne im Tageslicht flatternde Schmetterling, der sich von süßen Nektar ernähert, und die mysteriöse Motte, die intelligent und gerissen genug ist, um nur in der Nacht zu erscheinen, um Feinde zu vermeiden. Die extraordinäre Schönheit der Motten ist lediglich in der Nacht zu betrachten. Was deshalb bloß die zu sehen bekommen, die sich vor der Dunkelheit nicht fürchten.
Ein Schmetterling hingegen wird schon von Grund auf als „schön" empfunden. Wenn ich Chifuyu eine bestimmte Art von einem Schmetterling zu ordnen würde, wäre er ein Malachit. Passend zu seiner außergewöhnlichen Augenfarbe. Träumt man von einem grünen Schmetterling, so deutet er eine drastische, doch positive Veränderung an. Mit ihnen ist alles bessergeworden. Das sollte unverändert bleiben.
„Oh nein, sie hat diesen Denker-Blick aufgesetzt", sagt Chifuyu aus dem Nichts.
Irritiert richte ich den Blick auf und sehe ihn durch mürrische Schlitze an. „Welcher „Denker-Blick?", bohre ich nach.
„Immer wenn du über etwas zu sehr nachdenkst, driftest du darin irgendwann komplett ab wie in einem Labyrinth ohne Ausgang", erklärt er mir und legt sich nebenbei verschiedenes Gemüse und gebratenes Fleisch auf den Teller. „Und dann ist es so, als würden wir gegen eine Wand reden. Wie gerade, wo dich Baji-san gefragt hat, ob du keinen Hunger hast – oder ob er dir helfen soll."
„Oh." In meinem Kopf kommt mir die Zeit und Welt viel langsamer und stiller vor als sie tatsächlich ist. Entschuldigend blicke ich Keisuke an. „Tut mir echt leid, das wollte ich nicht. Aber ich brauche keine Hilfe beim Essen." Dann nehme ich in meine linke Hand die Stäbchen an meinem Platz und positiniere sie richtig. „In den letzten 2 Wochen habe ich schon einiges gelernt", erläutere ich zufrieden und mit einer klaren Brise von Zuversicht, „es ist alles nur Umstellung, aber das kriege ich schonhin." Schließlich bin ich für eine ganze Weile in dem Körper einer Katze gewesen, beende ich es in Gedanken.
„Also kommst du mit der Pyschotherapie gut klar?", fragt Keisuke vorsichtig wie bei einem Thema, das er ungern ansprecht.
„Manchmal fühle mich wie ein Kleinkind, das nochmal von Grund auf bestimmte Dinge lernen muss. Sie sind zwar fest in mir verankert, aber meiner linken Hand fehlt etwas die Motorik dafür." Mit den Stäbchen hole ich mir bisschen Kimchi auf den Teller. Die Schärfe wird mir dabei helfen können, diesen sich bildenden Knoten in meinen Magen loszuwerden. Mittlerweile weiß ich, dass ich ohne eine funktioniere, rechte Hand leben kann – aber nicht ohne die Jungs an meiner Seite.
„Es hätte schlimmer sein können", erinnert mich Chifuyu sanft. Er meint es nur gut, – aber der Gedanke an meine kaputte Hand und die zugehängte Einschränkung schraubt sich rapid durch den höchsten Berggipfel meiner Gefühlswelt. Ein inneres Chaos entfacht.
Bevor ich ihm antworte, schiebe ich mir eine Portion Kimchi in den Mund. „Ich weiß", und nochmal viel leiser: „Das werde ich nicht vergessen können, kein einziges Mal." Die kribbelnde Schärfe beruhigt meinen Gaumen, eine riesige Welle von Erleichterung erhebt sich aus der Tiefe. Aber das Chaos pulsiert wie ein neuer Herzschlag unter meiner schwitzigen Haut.
„Wie oft musst du denn zur Therapie?", fragt Keisuke neben mir mit hochgezogener Braue und mustert mein Gesicht. Er scheint bereits etwas zu ahnen.
„Mittwoch und Freitag", antworte ich ihm, muss nicht mal nachdenken, weil sich diese Tage in mein Hirn gefressen haben wie ein Wurm in einen Apfel. Wieder landet eine knappe Ladung Kimchi in den Mund. Bald wird die Taubheit meine Zunge erreichen, und hoffentlich noch viel, viel weitergehen. „Wieso?"
„Ach", seufzt er und fährt sich mit der Hand über die Haare, als könnte er wahrnehmen, wie das Chaos kurz davor ist auszubrechen, „Chifuyu und ich haben mit dir etwas vor." Danach verheddern sich seine Fangzähne in seiner Unterlippe. Aber ich kann keine Zeichen von Nervosität in seinem Gesicht ausmachen.
„Wie? Was habt ihr vor?", stammel ich verblüfft.
Er sieht mich an, ein wenig aufgeregt, ein wenig besorgt – bevor er sich an meinen Dad wendet. Sie tauschen einen kurzen Blick aus, mein Dad nickt knapp, woraufhin Keisuke aufsteht und zu den Geschenken geht. Seit wann kommen sie so gut mteinander aus? Irgendwie finde ich das gruselig.
„Wir haben das hier für dich", kündigt er fröhlich an. Mit einem großen Geschenk, das wie ein Bonbon verpackt ist, kommt er zurück.
„Oh, das..." Das überrumpelt mich. Die Essstäbchen über den Teller gelegt, schiebe ich den Stuhl mit den Füßen so zurück, dass er es mir direkt auf den Schoß stellen kann. Kazutoras Papierkunst habe ich noch retten können, indem ich es rasch auf den Tisch untergebracht habe. „Das ist echt groß", staune ich mit flatterndem Herzen und hebe es leicht mit den Oberschenkeln an, denn es birgt einiges an Gewicht, „...und schwer."
Chifuyu grinst breit. „Das muss es auch sein."
„Wieso?", frage ich piepsig und zupfe nervös an den abgebildeten Schmetterlingen. Keiner von ihnen kommt an die seltene Anmut eines Malachits heran.
„Mach es auf, dann wirst du es sehen", fordert mich Keisuke sanft auf und stellt sich so hin, dass sein Arm über meine Lehne ragt.
Ich werde rot und bin erleichtert darüber, meinen Scham durch den Blick auf das Geschenk etwas verbergen zu können. Diese Masse der Aufmerksamkeit macht mich schrecklich nervös, im Mittelpunkt zu stehen ist einer der schlimmsten Dinge, die es gibt. Wenigstens ist das Chaos in mir zur Ruhe gekommen.
„Okay." Nach einem langen Luftschnapper reiße ich das Paket auf. Die neonpinke Räder fallen sofort auf.
„Ein... Skateboard?"
Keisukes Arm fällt auf meine Schulter. „Vielleicht schaffst du es damit, uns beim nächsten Rennen einzuholen."
Wenn wir uns direkt nach der Schule verabredet haben, haben wir immer darum gewettet, wer schneller beim Manga- oder Bubble Tea Laden ist. Mit meinem Fahrrad habe ich es bis heute noch nicht geschafft, trotz den vielen Abkürzungen, die ich mir in den letzten Jahren gemerkt habe. Es trifft mich wie ein widerspenstiger Messerstich mitten ins Herz: Fahrradfahren gehört zu einer der unzähligen Dinge, die mir absofort verwehrt bleiben. Es sind noch einige mehr, die sich hinter diesem dornigen Gestrüpp von Unmöglichkeiten zurückgezogen haben. Sie werden immer weiter voranwachsen, mit jedem weiteren Mal, wo mir bewusstwird, dass das oder dies nicht geht, weil ich offiziell ein Handicap besitze.
Betroffen streiche ich mit den Fingerkuppen über das blanke, hochwertige und feste Holz. „Aber ich kann damit nicht fahren", gebe ich zu und traue mich nicht, jemand von ihnen anzusehen. Nicht, wenn mir bewusst ist, wie traurig ich gerade aussehen muss. Noch trauriger als an den Geburtstagen davor, mit ausgeblasenen Kerzen und einem unerfüllten Wunsch, der seit Jahren derselbe geblieben ist.
Wäre heute mein richtiger Geburtstag, hätte ich mir zum ersten Mal etwas anderes gewünscht. Er wäre nur unerfüllt geblieben.
„Mach dir darum keinen Kopf." Keisukes samtene Stimme wird kratzig. Die Reaktion auf ihr Geschenk hat er sich wahrscheinlich anders vorgestellt. „Ich werde dir das Skateboard fahren beibringen. Das gehört zum Geschenk dazu."
„Und", fügt Chifuyu strahlend hinzu und lehnt sich leicht zu mir, „haben wir eines ohne Muster ausgesucht, damit du es dir nach deiner eigenen Vorstellungskraft bemalen kannst. Die Farben dafür hat schon dein Dad besorgt."
Es ist wirklich eine schöne Geste von ihnen. Sie versuchen mir diesen Weg zu vereinfachen, mit allen Mitteln und vor allem mit Güte, aber eigentlich müssten sie das nicht, weil sie in keiner Schuld stehen. Sie haben den Unfall nicht verursacht. Eine Zeit lang habe ich es im Krankenhaus versucht, sie von diesen Gewissenbissen zu lösen, aber allmählich glaube ich, dass das eine weitere unmögliche Sache ist. In diese Richtung werde ich zwar nichts mehr sagen oder versuchen, doch ich habe mir an dieser Stelle zu Herzen genommen, diese Vorwürfe auf eine andere Weise zu vertreiben.
Mit meiner gesunden Hand greife ich nach Chifuyus, den anderen Arm hebe ich an. Sobald ich am Handgelenk Keisukes weiche Haare spüren kann, senke ich ihn und stelle mir vor einige Herztrommelschläge vor, wie sich seine einzelnen Strähnen anfühlen, wie sich um die Lücken meiner Finger wirren und darum spinnen wie ihre Liebe um mein blutendes Herz. Die Blutung hört augenblicklich auf, ein harmonischer Schimmer von Sonnenlicht und Feuerfunken prasselt darüber wie warmer Sommerregen, der in einer weichen Strömung den Dreck des letzten Sturms wegspült.
Ich schließe die Augen, versinke in dieses erwärmende Gefühl. Es schwindet schnell, gerade habe ich noch gehofft, die Zeit würde stehenhalten. Aber das tut sie einfach nicht.
„Ihr hättet mir nichts schenken müssen. Ihr wisst, dass ihr mir genügt. Gesund, dickköpfig und nicht zu bremsen." Tränenschmeckend lächle ich die zwei abwechselnd an und wische mir mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen.
Jedes Mädchen träumt mal von einem stattlichen Prinzen auf einem Schimmel, der sie aus ihrem Turm befreit und mit ihr in den Sonnenuntergang reitet, der Glücklichsein und Liebe verspricht. Ich brauche so einen Prinzen nicht, brauche keinen anbrechenden Sonnenuntergang, der mich in mein Happy End entführt; weil ich habe Chifuyu und Keisuke bei mir. Sie sind die Vervollständigung meines Lebensgerüst, meines Widerstands, von dem bislang allein mein Herz gewusst hat, bis ich ihnen begegnet bin. Da hat es mir es signalisiert: Sie sind der Turm zu meiner Dame.
Mit ihnen werde ich jeden Kampf gewinnen.
Chifuyu kichert und drückt meine Hand fester. „Nichts da, Saejin. Diese Ausrede gilt schon lange nicht mehr. Außerdem hast du den größten Dickkopf von uns drei."
Empört öffne ich den Mund. „Ich dachte, das ist meine Geburtstagsparty?"
„Du hast angefangen", lächelt er unschuldig zurück. Das Strahlen seiner Gletscheraugen blendet mich, dass ich leicht die Augen zusammenkneife. „Wer austeilen kann, muss auch einstecken können."
„Ungerecht – dabei sollte ich doch wie eine Prinzessin behandelt werden!" Theathralisch ziehe ich einen Schmollmund.
In sich hineinlachend schlingt Keisuke seine Arme von hinten um mich, seine Wange schmiegt sich an mein glühendes Ohr. „Keine Sorge, der bekommt später noch eine ordentliche Abreibung von mir", flüstert er so rauchig wie er mein Herz am schnellsten zum Rasen bringt, „ich werde diesen vorlauten Schmetterling fangen und ausstopfen. Nur für dich." Sein zarter Kuss gegen meine Schläfe fordert mich indirekt dazu auf, zu ihm zu sehen.
Ein kleiner Funke seines ungezügelten Seelenfeuers ist genug, um ein zischendes Feuerwerk in meinem Herzen freizusetzen. „Das ist sehr lieb von dir, aber ausgestopfte Tiere sind nicht so mein Ding."
Abermals lacht er.
Wenn es ein dunkles Licht geben würde, dann würde es in diesem Moment in seinen Kupferfunken leuchten wie eine verirrte Sternschnuppe. Sie gehört dort nicht hin, aber irgendwie hat das Schickal sie dahin geführt und nun möchte sie nirgendwo anders mehr sein. Als er mein Lächeln erwidert, explodiert sie wie das Feuerwerk in meinem Bauch. Knisternd zerschmelzen die Funken in der steigenden Flamme meiner Gefühle. Er trägt diesen weichen Ausdruck von Freude und Hingabe, der mich von jeder Sorge und Angst enteignet.
Meine Hoffnung ist nicht meilenweit entfernt. Sie ist da, in seinem und meinem Blick. Ich frage mich, ob ihm bewusst ist, dass dieser Blick, den er auf diese intime Art mir widmet, sterblich ist. Wie er. Er könnte diesen Oktober sterben, und ich gewollt mit ihm. Allein zu sterben ist grausam, doch mit ihm wäre selbst der Tod ein unvergessenes und wildes Abenteuer. Das beste von allen. Er hält meine Seele für immer am Faden der Existenz, gebunden an ihn.
Als er verstummt, sieht er mich so zerrissen an, als könnte er die schweren Worte in meinen Augen bereits lesen.
Ich weiß, dass du kein normaler Junge bist, trotzdem liebe ich dich und werde dich nicht weniger lieben, wie du es glaubst, wäre es angemessen für dich. Lass mich dir helfen, bitte.
So gerne hätte ich sie ausgesprochen, doch mein Herz ist zu gebrochen.
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Hello.
Ich musste das Kapitel leider splitten - sonst wäre es einfach zu viel geworden.
Daher kommt gleich im Anschluss die andere Hälfte.
Ich wünsche euch allen ein gutes Wochenende. ☆
Sternige Grüße
Sternendurst
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