home is something(someone) else.
Ein herzliches Dankeschön an Manuspudding für ihre Kommentare 💕
Als ich an diesem Abend zurückkehre, bin ich nicht alleine. Peke J hat beschlossen, seinen Menschen wieder zu besuchen und für einen Tag zu bleiben. Eine längere Zeit möchte er die weiße Schönheit nicht zurücklassen. Verständlich – an diesem Ort klebt Hoffnungslosigkeit an den ganzen mit Graffiti-verschmierten Wänden. Auf dem Rückweg haben wir noch einen kleinen Umweg genommen, um bei einer Imbissbude einen Stopp einzulegen. Laut Peke J würde man hier die köstlichsten Würste in ganz Tokio bekommen.
Als Mensch hätte ich mich nicht in diese verlassene Gegend getraut, aber als Katze fühle ich mich tapfer genug dafür.
Der Imbisswagen wirkt sehr schlicht und ist komplett weiß. Auf einer Stehtafel steht: „Frische Hotdogs – von Meisterhand für Sie gebrutzelt." Zwei hohe Tische sind wohl für die vorbeifahrenden LKW-Fahrer gedacht, die sich hier kurz eine Pause gönnen. Einer von ihnen mit einer Cap lehnt mit der Hand über den Tisch und verspeist genüsslich seinen Hotdog mit zu viel Senf für meinen Geschmack.
Peke J gibt ein lautes Mauzen von sich, als wir uns den von Neonlicht beleuchteten Stand nähern.
„Oh, wer ist denn da?", ertönt eine tiefe Männerstimme dahinter und ein dicker Kerl mit fettverschmierten, weißen Shirt und einer grünen Schürze beugt sich aus der Imbissbude. „Oh, mein Lieblingskater und..." Seine schwarzen, schlaffen Augen hängen an mir. „Was für eine Schönheit!", strahlt er plötzlich über das ganze Gesicht. Beschämt weiche ich seinem Blick auf und spüre das Glühen meiner Wangen. Das bestätigt mir, doch nicht zu diesen Exemplaren mit einem grimmigen Ausdruck zu gehören. „Habt ihr zwei Hunger?"
Der schwarze Kater bekräftigt sein „Ja", indem er ein höheres Mauzen anwendet.
„Einen Moment." Er zwinkert uns zu. „Ich habe gerade eben ein paar Frische gekocht."
In demselben Augenblick höre ich das bekannte Geräusch jaulender Motoren. Neugierig blicke ich zu den zwei Motorradfahrer. Sie biegen um die Ecke und bremsen wenige Meter vor dem Imbissstand abrupt ab. Peke J ist offenbar schreckhaft. Er springt mit sträubenden Haaren zur Seite und gibt dabei ein kleines, warnendes Fauchen von sich, als glaube er, einen Feind drohen zu müssen.
„Sag mir nicht, du magst keine Motorräder?", frage ich den Kater belustigt und beobachte die neuen Gäste. Ich kenne die beiden Jungs nicht, aber sie dürfen kaum älter als Baji und Chifuyu sein. Witzig, wie sie beide jeweils blonde Kontraste in ihren Haaren haben. Der eine ist größer als der andere, dafür hat der andere längere Haare und einen etwas sehr wilden Haarschnitt. Vorne kurz, hinten lang. Sie sind beide völlig in Schwarz gekleidet, bis auf ihre beigefarbene Bomberjacke.
Peke Js Anspannung schwindet. „Sie sind einfach furchtbar laut", beklagt er sich und setzt sich wieder neben mich, um mit mir gemeinsam die Neuankömmlinge zu beobachten. Eine Katze zu sein hat schon einen interessanten Vorteil: Man kann andere in Ruhe anstarren und sich ein Bild von ihnen machen, ohne dabei erwischt zu werden. „Und? Was glaubst du, wollen die hier?" Sein Grinsen ist fett und keck wie bei einem Spiel, woran nur Katzen teilnehmen können.
Ich lecke mir über das Näschen und bin sofort in diesem Spiel drin. „Lass mich mal kurz überlegen."
Die Neuankömmlinge gehen in gemütlichen Schritten zur Theke und der Größere lehnt sich lässig darüber. „Zweimal Pommes, bitte", nennt er seine Bestellung. Er hat auf den Handrücken Tattoos. Was sie genau darstellen, kann ich nicht erkennen. Bei dem anderen ist das Tattoo am Hals sichtbarer; ein Tiger.
„Kommt sofort", erwidert der Besitzer fröhlich und schmeißt eine Packung gefrorener Fritten in das kochende Öl.
„Danke", bedankt sich der Große und geht mit den anderen an den zweiten Tisch. „Du wirst überrascht sein, wie gut die Pommes hier sind."
„Mal schauen." Der mit dem Tigertattoo lässt seine gelben Augen über die schäbige Umgebung gleiten und scheint davon überhaupt nicht überzeugt zu sein. Er lehnt sich mit verschränkten Armen über das weiße Plastik und blickt seinem Gegenüber mit einer Mischung aus Respekt und Freundschaft hat. Wie seltsam. Einerseits schätzt er den anderen, andererseits bleibt er in seiner Nähe auch auf Abstand. „Ich dachte schon, die Spielhalle wäre abgefuckt." Beide fangen zu lachen an. So gekünstelt habe ich schon lange niemand lachen hören. Als wäre es bloß ein Versuch, um irgendwie von dem Schlechten abzulenken.
Das reicht mir. „Die beiden sind so heimatlos wie ich und haben daher keinen Drang, nach Hause zurück zu wollen."
„Heimatlos?" Peke J mustert mich und etwas in seinen bernsteinfarbenen Halbmonden gibt mir das Gefühl, als würde ich wie er plötzlich in Rätsel sprechen. „Du bist doch nicht heimatlos. Du hast doch ein Haus, eine Familie. Ein Plätzchen, wo es warm und gemütlich ist."
„Das ist es nicht", versuche ich wenigstens ihm mein Rätsel zu vereinfachen und spüre, wie mein Herz die Worte aufsaugt wie Uran. Das schwerste Element von allen im Periodensystem. „Es ist dort warm und gemütlich, doch es macht mich nicht glücklich. Es sind nur die vier Wände, die immer für mich erreichbar sind. Zu jeder Zeit. Aber es gleicht mehr einem Dach als einem Zuhause. Nur weil es ein Haus ist, muss ich mich dort nicht wie zu Hause fühlen. Zuhause ist das nicht. Zuhause ist da, wo man sich vollständig und aufgehoben fühlt. Zuhause ist da, wo ein gebrochenes Herz von einem anderem gestützt wird, um schwere Zeiten zu überstehen. Es müssen keine vier Wände sein, die einem das Gefühl geben, um vor allem auf dieser Welt geschützt sein. Zuhause ist das Plätzchen, wo man Fehler machen darf und wo einem verziehen wird. Zuhause, Peke J, ist da, wo du immer zurückkehren möchtest, aber weißt, dass es nicht zu jeder Zeit möglich ist. Doch das macht dieses Zuhause erst so besonders."
„Also ist Yukidaruma mein Zuhause?"
„Wo möchtest du denn gerade am liebsten sein?" Tränen sind da. In meinen Augen, ich kann sie spüren, aber sie können nicht heraus, weil es für sie keinen Weg nach draußen gibt. Sie sammeln sich in mir an. Wie diese tiefen Gefühle, die am Grunde meines Herzens verborgen liegen. Ich habe immer gedacht, weinen wäre schlimm – aber nicht weinen zu können ist grausam.
Er blickt mich erstaunt an. „Bei ihr."
„Dann ist sie dein Zuhause." Nicht weinen zu können ist deshalb grausam, weil man so praktisch dazu gezwungen wird, diese dunkle Energie in sich aufzufressen. Man erbaut sich sein eigenes schwarzes Loch, um von diesem schließlich verschluckt zu werden.
Er mag meine Tränen nicht sehen, aber er kann es spüren. Er hat diesen magischen Katzensinn dafür. Er reibt seinen Kopf mit einem aufmunternden Schnurren an meiner Schulter wie ein Tröstungsversuch. Sein Körper bebt so, dass ich fühlen kann, wie die Vibration und Wärme seines Schnurrens direkt in meine Brust wandert und dort sorgsam umfängt. „Und du, Saejin? Hast du dein Zuhause auch schon gefunden?"
„Ich hatte es gefunden – aber leider habe ich es zugelassen, dass man es mir wegnimmt. Meine Eltern, sie..." Ich blicke zu den beiden Jungs, wie sie stillschweigend ihre Pommes verschlingen und in einem kurzen Blinzeln glaube ich dort, Chifuyu und Baji stehen zu sehen. Aber sie würden lachen, sich über dies und jenes unterhalten und vermutlich die Nacht durchfahren, um den Sternen am klaren Himmel hinterher zu jagen. Sie würden aber niemals Tokio verlassen. Tokio ist ihre Heimat, und irgendwo in dieser Heimat haben sie auch ein Zuhause gefunden. „Sie haben es mir genommen", muss ich mir selbst eingestehen, und dieses Eigengeständnis ist entmutigend.
Es ist ein Beweis dafür, dass ich nicht besser wie die anderen bin. Auch ich habe Bajis Bemühungen in den Dreck geworfen. Ich habe es meinen Eltern ermöglicht, ein weiteres Mal für mich zu bestimmen. Ich bin eine gute Tochter, aber eine schlechte Freundin.
Plötzlich erhebt sich der Kleinere und steuert auf uns zu. Peke J stellt alle Haare auf und stößt ein bedrohliches Fauchen aus. Der Junge kichert unbeeindruckt, bevor er vor uns in die Hocke geht und seine gelben, großen Augen fixieren mich ausgiebig. Ich schlucke leer, aber seine Seele hinter den leuchtenden Wolfsaugen ist eindeutig leerer.
„Du siehst genauso wie die Katze aus, die er mir beschrieben hat", grinst er breit und legt den Kopf so schräg, dass ich es hören kann. Das Klingeln seines außergewöhnlichen Ohrpiercings – ein silbernes Glöckchen. „Du bist ganz schön weit weg von deinem Zuhause, oder nicht?" Er hebt seine Hand und will mich wohl berühren.
Mein Herz bleibt stehen.
Das Tigertattoo.
Tiger wie Tora.
Ist das Kazutora? Derjenige, dem Baji immer Briefe geschrieben hat?
„Fass sie nicht an!", knurrt Peke J und springt schützend vor mich. „Lass dich bloß nicht von diesem Typen umgarnen, Saejin. Der hat eine unheimliche Aura."
„Okay, okay. Ich lasse es ja schon." Der Junge schüttelt lachend den Kopf und klopft sich auf die Knie. „Er wird sich freuen, wenn er davon erfährt, dass ihr zwei Freundschaft geschlossen habt." Wie mit einem Blitzschlag ist sein Grinsen verschwunden. „Es ist nicht schön, was ihm widerfahren ist. Ich hätte es ihm gegönnt – ein Mädchen wie sie. Nun, was soll man sagen? Das Leben ist ein riesiges Arschloch." Nicht das Leben, aber die Liebe.
„Kazutora." Er ist es wirklich. Der Größere kommt zu uns hinüber und hebt vorwurfsvoll die Brauen hoch. „Was soll das? Du lässt mich wegen ein paar Katzen sitzen?", schnauzt er ihn verärgert an.
„Ach, komm schon, Hanma", seufzt Kazutora und richtet sich auf, „sei nicht so. Schließlich habe ich die Pommes mit meinen wenigen Pfennigen bezahlt."
Der Angesprochene – Hanma – verschränkt die Arme vor der Brust. „Ja, aber wir sind nicht wegen Katzen hier. Wir müssen über Valhalla reden. Über unser weiteres Vorgehen. Wann sollen wir sie herausfordern?"
Er zuckt mit den Schultern. „Das weiß ich noch nicht. Ich bin noch nicht lange draußen, aber es sollte in den nächsten Monaten passieren."
„Ich mag Halloween", kommt es von Hanma begeistert.
Kazutora stimmt mit ein. „Ich auch."
Sie wenden uns den Rücken zu und gehen zurück zu ihrem Tisch. Das nutzt der Imbissbuden-Besitzer aus, um vor uns einen Pappteller mit 2 großen Würsten hinzulegen.
„Lasst es euch schmecken", grient er summend, dann ist er auch wieder in seiner Küche und zündet sich erstmal eine Zigarette an.
Halloween ist meine vorletzte Woche. Wenn ich bis dahin nicht das schwarze Loch in mir zähme, werde ich an Keisukes Geburtstag tatsächlich sterben. Unsere Verbundenheit zieht immer mehr traurige Gemeinsamkeiten an. Ich habe Hunger, aber ich glaube nicht, dass ich damit das Loch in meinem Herzen stopfen kann. Aber womit dann?
„Wie hast du das mit „Aura?" gemeint? Stimmt es also? Ihr könnt gute und schlechte Menschen unterscheiden?" Kazutora ist bestimmt keiner von der schlechten Sorte, aber auch nicht von der Unschuldigen. Soweit ich es an der gleichen Bomberjacke wie Hanma sie trägt erkennen kann, gehören sie einer Gang mit dem Namen „Valhalla" an. Sind Gangs nicht Gruppen von heimatlosen Menschen, die versuchen, so ein gemeinsames Zuhause zu erbauen? Und: was hat diese Gang mit Mikey und seinen Freunden zu tun?
Peke J leckt sich hungrig über das Mäulchen und hört sich ganz ungeduldig an, während selbst mich der warme Geruch der Würstchen versucht anzulocken. Wie muss das erst für eine richtige Katze auszuhalten sein? „Nein, aber solche Typen begegne ich nicht zum ersten Mal. Das sind die, die dich später wieder aussetzen werden, weil sie nicht mit ihren eigenen Leben klarkommen und deswegen die Aufgabe nicht erfüllen können, sich um weiteres zu kümmern."
„Aber er wollte doch nur Hallo sagen."
Nun blickt er mich mit ernsten Katzenaugen an. „Vertrau nie, wirklich nie einen Fremden, der von Anfang nett zu dir ist, Saejin. Als Katze musst du das in deinem Hinterkopf bewahren. Sonst sitzt du ganz schnell in der Tötungsstation."
„Tötungsstation?", schlucke ich entsetzt.
„Ja, die Tötungsstation. Das Ende aller Streuner, die kurz vor dem Verhungern stehen und Schutz bei den Falschen suchen." Er beißt in die Wurst, als wäre damit das Thema beendet. Zum Glück. Mehr muss ich über die Tötungsstation nicht wissen. Es steht bereits alles in ihrem Namen: Tötungs-station. Ein unvorstellbar grauenhafter Ort, wo der Trieb des Tötens und des Überlebens aufeinander prahlen, aber man schon von vorne heraus weiß, wer gewinnen wird. Wer erlaubt uns so über die Wehrlosen und ihr Leben zu entscheiden? Wer erlaubt es uns, unsere Macht so einzusetzen, um in die Natur einzugreifen? Nur einer, und zwar wir selbst.
Das Leben als Katze ist weitaus gefährlicher. Man besitzt überhaupt keine Entscheidungsmacht über sein Leben. Das tut mir so schrecklich leid. Für Peke J, für Yukidaruma, für alle Katzen auf diesem Planeten.
Es wäre besser, wenn die Katze dieses Körpers nicht dazu gehören wird. Aber würde ich dann nicht dasselbe machen? Über ihr Leben entscheiden?
Nachdem Peke J auch meine Wurst genüsslich verzehrt hat, haben wir uns auf den richtigen Rückweg gemacht. Wir haben kein Wort miteinander ausgetauscht, wir haben den wolkenlosen Sternenhimmel über uns angesehen und uns vielleicht dieselbe Frage gestellt: Wieso bin ich in dieser Welt so klein?
Aber ich habe Peke J noch etwas sehr Wichtiges zu fragen. „Du, Peke J", fange ich an und folge ihm die Regenrinne zu Chifuyus Zimmer hinauf. „Wenn ich es schaffe, die Bedingung zu erfüllen, wird dieser Körper sich auflösen? Also die Katze dazu?"
Der Kater bleibt auf dem Balkongeländer stehen. „Nein. Sie wird weiterleben. Sowie du."
Erleichtert atme ich auf. „Puh, das freut mich."
Ein Kichern verlässt seinen Mund, als wir die letzten Sprünge hinter uns bringen. „Und wenn nicht? Was hättest du dann gemacht?"
Obwohl es schon spät sein muss, brennt in Chifuyus Zimmer überraschend das Licht. Er ist also noch wach.
„Muss ich das wirklich aussprechen?", flüstere ich gequält.
Darüber muss er den Kopf schütteln. Dieser verständnislose Ton seiner Stimme macht das schwarze Loch in mir nur noch größer. „Ich habe es dir schon einmal gesagt: Konzentrier' dich auf dein Leben, Saejin. Was ist, wenn du für jemand sein Zuhause bist? Dann nimmst du ihm dieses weg. Für immer. Ist das nicht egoistisch?"
Da hat er Recht. Und das macht mich fertig. Wieso ist eine Katze besser darin das Leben zu verstehen als ich? Unfassbar.
„Hast du einen Tipp für mich?", hake ich kleinlaut nach und habe das eigenartige Gefühl, als wäre ich noch nicht bereit dafür, zurück in meinen Käfig zu steigen. Warum denke ich so über Chifuyus Zimmer? Und wieso möchte ich lieber einige Stockwerke höher klettern – zu Keisuke? Was bilde ich mir da eigentlich ein? Mein Zuhause habe ich verloren, das weiß ich – und doch ist mein Herz ganz anderer Meinung.
Das ist es.
Mein Herz ist die Nadel meines Kompasses.
Es weiß, wo mein Nordpol liegt – aber ich kann dorthin nicht hingehen, ohne einen weiteren Frühling dafür aufzugeben.
Der schwarze Kater schaut mich überrascht an. „Du fragst mich – ein Kater – nach einem Tipp, wie man lebt?" Er lacht so darüber wie über einen schlechten Witz, schallend und überwältigt. Meine richtigen Wangen färben sich puterrot unter ihrer wolligen Schicht. Dann starren seine Halbmondaugen so tief in meine Seele, als würde er bereits jedes meiner Geheimnisse kennen und wissen, was am Grunde meines Herzens wirklich schlummert. Dem muss ich nicht widersprechen, es ist wirklich so. „Ich glaube, genau das ist das, was man nicht machen soll. Zu versuchen zu leben. Man soll es einfach machen, ohne darüber nachzudenken. Leben und probieren. Rückschläge wird es immer geben, aber das eigene Leben nur einmal. Natürlich als Mensch. Ich habe meine sieben Leben noch."
Mit diesen Sätzen und seinem typischen, frechen Kichern am Ende nimmt er den letzten Sprung vom Geländer und landet auf der Fensterbank vor Chifuyus Zimmer.
Ich wünsche mir, ich könnte die Zeit nochmal zurückdrehen, dann hätte ich schon viel früher angefangen, mich mehr zu trauen. Mehr Risikos einzugehen. Letztlich bin ich wie meine Eltern: Ich verziehe mich in meine dunkle Kammer aus Struktur und Vertrautheit, die ich auch als „Zimmer" beschreiben kann, um mich vor solchen Rückschlägen zu verstecken. Das ist falsch gewesen. So was von falsch.
Wieso bin ich ein derartig großer Angsthase?
In der Öffnung des Fensters hält Peke J einige verlorene Herzschläge inne. „Oh, sieh' einer an. Wir haben heute wundervollen Besuch", strahlt er erfreut und zögert nicht länger, um hinein zu klettern.
Besuch? Das kann nur Keisuke sein.
Genau. Keisuke. Er würde über mich lachen, würde er meine Gedanken jetzt hören. Er würde mich mit seinen tiefen Gebirgsaugen und ihren Kupfertupfen in das Gesicht sehen und untypisch ernst dreinblicken, nur um mich daran zu erinnern, dass ich es kann, wenn ich es wirklich möchte.
Ich kann über Schatten springen.
Das erste Mal erscheint immer am schwersten zu sein – doch die Male danach sind umso unbedenklicher. Also werde ich das erste Mal hinter mich bringen. Ich atme tief ein und aus, öffne einer der vielen Kammer, vermutlich die tiefste und größte von allen, in meinem Herzen und lasse es heraus. Das knisternde Feuer, welches Keisuke und mich verbindet. Es ist wie die kinetische Magie zwischen uns, aber weil er besonders ist, ist es ein Feuer.
Dasselbe ungestüme Feuer wie es in seinem Herzen flimmert.
Augenblicklich stürme ich durch den Schlitz. Mein Herz hämmert wie verrückt, und ich kann es kaum erwarten, ihm von meinem heutigen Abenteuer zu erzählen. Er ist es nämlich. Schon die ganze Zeit über.
„Kleine Saejin!" Da ist er. Er und seine samtige, tiefe Stimme.
Ich springe ihn förmlich in die Arme, als er hastig vom Bett aufsteht. Er fängt mich überrumpelt mit beiden Händen auf und presst mich an seine Brust wie die natürliche Zusammenfügung von Universum und Schwerkraft. Er riecht so schön. So schön nach Milch mit warmer Honig und regennassen Wiesen. Ich fange einfach zu schnurren an und fühle es, wie er es mal wieder schafft, mich zusammenzuhalten. Fühle, wie sich etwas in mir vervollständigt, das mich in den letzten Stunden so unbewusst geplagt hat wie ein Parasit, dessen Auswirkungen ich nun entdeckt und überraschend bekämpft habe.
Ich bleibe frei.
Der Käfig ist verschwunden.
Was bleibt, sind die tobenden Feuerfunken in meiner Brust.
„Endlich bist du wieder bei mir!", flüstert er glücklich und vergräbt seine Nase in meinem weichen Fell, um mich so richtig wahrzunehmen. Als bräuchte er das, um sein Traum von der Realität unterscheiden zu können.
Ich schließe mit wohliger Wärme im Bauch die Augen und mag es, wie offen er mir zeigt, dass wir einander brauchen. Das ist noch eine weitere gute Seite an meiner Tat: Ich erkenne immer mehr Gründe, wieso es er ist und nicht der Käfig.
„Ich bin so froh, wieder bei dir sein zu können, Keisuke. Ich habe dir so viel zu erzählen – und ich glaube, am besten wird dir die Stelle mit Kazutora gefallen. Ach, und noch was: Ich möchte doch keine Astronautin mehr werden. Ich möchte zu einer starken und selbstbewussten Person werden, die sich für die Schwächeren einsetzt. Genauso wie du." Das spreche ich nicht aus. Es sind Gedanken, die ich lediglich mit meinem flattrigem Herzen teile. Lass uns weitere Abenteuer erleben, ja? Gemeinsam. Sobald ich wieder bei dir bin – im Ganzen.
Baji setzt sich mit mir zurück auf das Bett. Neben ihm ist Peke J auf Chifuyus Schoß und blickt mich mit großen Halbmondaugen an, dass sie beinahe zwei Vollmonde ergeben.
„Ist er es?", wispert er aufgeregt, „ist er dein Zuhause?"
Ich sehe in Bajis flammenden Kupfertupfer und sehe dort die Sonne, von deren Anziehungskraft ich mich nicht lösen kann und möchte. Nicht nur meine Gedanken kreisen sich andauernd um ihn, auch mein Herz. Es kann sich seiner Umlaufbahn nicht entziehen. Er, Baji Keisuke, ist meine persönliche Sonne.
Und...
„Ja, er ist mein Zuhause."
Mein Zuhause.
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