he's the destiny I didn't know I needed
✾ ∂αмαℓѕ
Der Strudel drängt sich vor, bringt eine Erinnerung aus der Finsternis hervor, die sich kurz nach meiner ersten Begegnung mit Chifuyu und Keisuke abgespielt hat.
Die Panik, nicht nächstes Schuljahr im Astronomie-Club aufgenommen zu werden, ist in dieser Zeit mit jeden weiteren Tag angestiegen. Doch noch schlimmer ist sie zunehmende Angst gewesen, dass Kira irgendwo in der Ecke auf mir lauerte, um mir eine reinzuwürgen. Seitdem Keisuke ein Teil der Kunst-AG geworden ist – auf eine sehr ungemütliche Weise -, versuchten mich schon ihre bloße Blicke zu töten. Sie schien nicht nur darüber verärgert zu sein, dass er die ganzen Werke anderer vor ihren Augen eigenständig abgefackelt hat, nein, da war noch eine andere Sache, die sie so zornig machte. Von der ich natürlich nichts wusste.
Kira ist, was andere betrifft, ein Plappermaul, aber über sich selbst gibt sie kaum bis gar nichts Preis. Bis auf den zähen, doch drohenden Hinweis, dass ihr „Papa" ein sehr mächtiger Mann sei. Bestimmt Politiker oder Bürgermeister. Irgendetwas, das in ihr den Glauben erweckt, es würde alle daran hindern, sie anzupöbeln. Was auch grandios gewirkt hat, nur ein einziger unserer Schule ist aus diesem Fragment gefallen.
Keisuke Baji.
Ein flaumiges Gefühl kreiste schon seit meiner letzten Begegnung mit ihm in meinem Magen, weshalb ich mich hoffnungsvoll in die endlose Weite unseres Weltalls stürzte, um es nicht über mich einbrechen zulassen. Dafür gab es keinen besseren Ort als die Bibliothek, die mit unserer Schule in einem verbunden war.
Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich auf diese Weise meine Angst irgendwie loswerden, und drückte den Stapel von Bücher enger an mich. Die Gänge mussten für Hobbits erschaffen worden sein, so schmal war die Distanz zwischen den Regalen und den Lernplätzen. Draußen war ein sonnenhafter Frühlingstag, viel zu früh, um sich überhaupt auf etwas im nächsten Schuljahr vorzubereiten, doch mein Perfektionismus im Streberdasein ließ sich davon nicht abschütteln. Besser ich stürzte mich ins Lernen als in irgendeine ungewollte Schlägerei. Kira traute ich nun jeden Scheiß zu. Insgeheim hoffte ich, sie wäre wie die anderen und würde lieber die Sonne ärgern als mich.
Als ich aber mit dem Blick über die leeren Stühle schweifte, bot sich mir ein noch unvermuteter Anblick. Einerseits schaltete sich bei mir gleich ein Fluchtinstinkt ein und ich wollte auf der Stelle kehrtmachen, andererseits fragte ich mich, was er bei diesem Wetter in der verstaubten Bibliothek trieb. Das war noch nicht mal alles, er setzte dem ganzen noch etwas zu und hatte sich seltsam verkleidet. Wie ein Streber aus einem alten Manga.
Seine schwarzen, langen Haare hatte er zu einem strengen Zopf gestriegelt wie ich es nur von meiner Mutter kannte, eine breite und eckige Brille auf der perfekten, geraden Nase, und seine Schuluniform wirkte wie angeklebt, frisch und ordentlich gebügelt. Das war schräg. Chifuyu hatte mir schon mal davon erzählt, dass Keisuke ein Jahr sitzengeblieben war und allgemein nicht gerade ein guter Schüler war (was mehr daran lag, dass er Schule als nicht allzu wichtig erachtete), aber er hatte nichts davon erwähnt, dass er sich wie ein Streber verkleidete.
Ich blinzelte einige Male, um sicher zu gehen, dass ich nicht mittlerweile halluzinierte – aber er blieb dort am Ende der Lernplätze in der Ecke sitzen, als würde er sich verstecken, den Blick streng über ein Papier hängend und neben sich ein kleines Büchlein aufgeschlagen.
Mir schlug es wirklich dann ins Bewusstsein, dass es Keisuke Baji war, als ich beobachten konnte, wie angespannt seine spitzen Fangzähne in seiner Unterlippe kauerten. Doch all das Dämonische, was ihn so mysteriös und gefährlich aussehen ließ und mich vor ihm warnte, wurde von seinem schmierigen Auftreten komplett in den Hintergrund gedrängt. Wenn ich ihn nicht schon in seiner wahren Form gesehen hätte, hätte ich ihn wirklich für einen Streber gehalten. Einer von dieser widerlichen, schmeichelnden Sorte – und hätte so einen großen Bogen um ihn gefahren.
Jetzt hatte diese Verkleidung einen noch größeren Reiz in mir erweckt, mehr über ihn zu erfahren. Meine Stimme der Vernunft riet mir davon ab, doch ich konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. Jeden verdammten Tag schwebte eine Mini-Kopie von ihm in meinen Gedanken und diese war so laut, dass sie es sogar schaffte, mich vom Lernen abzuhalten.
Diesmal aber war es die echte Version von ihm.
Ich ging vorsichtig zwischen die Stühle zu ihm und glaubte, wenn es weiter so still blieb, könnte er mein Herz beben hören. Meine Vernunftsstimme fragte mich entsetzt, was ich eigentlich hier trieb – aber ich wusste selbst nicht, was ich tat. Ich wurde einfach von ihm angezogen wie von einem kraftvollen Magnetfeld, gegen das ich noch so ankämpfen konnte, ich kam nicht dagegen an.
Nun stand ich direkt neben ihn – und brachte kein einziges Wort über meine Lippen. Ich war ein furchtbarer Angsthase. Ein Schisser. Ein dummes, schüchternes Mädchen, das sich endlich mehr trauen sollte.
Schweigend begutachtete ich das kleine Buch neben dem Papier. Ein Rechtschreibbuch, wie man Kanji richtig schrieb. Hatte die Bibliothekarin nicht erst erwähnt, sie würde schon seit Längerem eines vermissen? Nachdenklich fuhren meine Augen bereits weiter, stoppten bei dem Wort, das er gerade versuchte, zu schreiben. Das war nicht richtig, fiel mir sofort auf.
Plötzlich schnaubte er und ließ den Kugelschreiber los. „Was ist eigentlich dein Problem, mann? Hast du noch nie einen Streber gesehen, oder was?"
Ich zuckte und musste mich zusammenreißen, um meine Bücher nicht alle fallen zulassen und blitzartig wegzustürmen. Sofort bereute ich es. Das war eine dumme Idee von mir.
„Ich..."
Er hob den Kopf an und seine Augen trafen direkt auf meine. Als würde er die Röte auf meinen Wangen kopieren, schoss ihm selbst das Blut ins Gesicht. Dass er so perplex über unsere Begegnung war, erkannte ich daran, dass es ihn nicht interessierte, als die Brille von seiner Nase rutschte. Aber ich wollte so schnell wie möglich den Blickkontakt beenden, dass ich versuchte, irgendwie mit den Büchern mich hinzubeugen, um seine Brille aufzuheben.
Ein fataler Fehler wie sich herausstellte.
„Oh verdammt..." Natürlich verlor ich sie aus der Kontrolle. Sie plumpsten alle mit einem Schlag zu Boden. Aber das war nicht das größere Übel: Einer der dicken Wälzer (Eine kurze Geschichte der Zeit) von Stephen Hawking landete direkt auf seiner Brille. Ich hörte das unvermeidbare Geräusch, wie das Plastik knirschte wie ein quietschender Schmerzensschrei, ehe es schlagartig still wurde. Reflexartig schnellte ich nach oben, die Augen zusammenkneifend. Scheiße, scheiße, scheiße!
Nicht Kira würde mir den letzten Gnadenstoß verpassen, sondern er.
Aber dann lachte er.
„Das war dann wohl eine kurze Geschichte einer Brille."
Irritiert schlug ich die Lider auf.
Er grinste mich an. „Willst du dich vielleicht setzen?" Sein Lächeln wurde schiefer, sein Kinn kippte leicht zur Seite, als er mit der Hand auf den freien, linken Platz neben sich klopfte.
Ich strich mir nervös eine Strähne hinter das Ohr. „Aber deine Brille..."
„Die war grottenhässlich, findest du nicht auch?" Er blickte mich direkt an, und mir wurde fürchterlich heiß bei dieser Intensität seiner bronzefarbenen Augen. Ich wusste nicht, wieso sie so leuchteten; weil sie das Sonnenlicht reflektierten, oder weil darin ein Feuer tobte, dessen Warnung an meiner Faszination unbeachtet vorbeiging. Ich glaubte, er bemerkte mein Starren, weil auf einmal wich er aus und beugte sich zu den Büchern vor meinen Füßen, um sie nach und nach auf den Tisch vor sich abzulegen. Seine kaputte Brille schob er dabei flüchtig mit der Schuhspitze weiter unter seinen Stuhl, als hätte er nicht vor, sie wieder aufzuheben. Dabei fiel mir auf, dass er trotz alle dem noch seine Lederschnürstiefel trug wie ein versteckter Hinweis auf seine rebellische Seite.
„Zerbrich dir nicht den Kopf wegen so einem wertlosen Gegenstand." Nun sah er mich wieder an, seine Mundwinkel hoben sich amüsiert in die Hohe, sodass ich den perfekten Blick auf seine Fangzähne bekam. „Du bist gut in Japanisch, oder? Dann könntest du das wiedergutmachen, indem du mir dabei hilfst." Er deutete mit seiner Hand auf das Papier vor ihm, sein Arm ruhte lässig auf der Lehne.
Ich nickte wie aufgefordert, immer noch festsitzend in meiner eigenen Verwirrung. „Das klingt fair", erwiderte ich dann, und schließlich überwand ich mich dazu, mich neben ihn zu setzen. Mein Herz schien mir gleich aus der Brust zu springen, weswegen ich mich vorlehnte und seine bereits geschriebenen Wörter betrachtete. Der Schutz meiner Haare half mir dabei, dass er nicht sehen konnte, wie meine Wangen glühten, als er mich so unbefangen von der Seite studierte, als müsste er sich wieder jeden Winkel meines Gesichtes einprägen. Habe ich heute mit dem Cat-Eyeliner übertrieben?
„Dein Kanji..."
Er hob seine Brauen. „Was ist damit?"
Ich schluckte mein explodierendes Herz hinunter. „Bist du dir sicher, dass das nicht ein Grundschüler geschrieben hat?"
Jetzt seufzte er aus und fixierte einen Punkt an der Decke, die spitzen Enden seiner Eckzähne lugten zwischen seinen Lippen hervor. „Nein, ich bin einfach schlecht. Aber es ist wirklich wichtig, dass ich diesen Brief schreibe – und man ihn lesen kann." Er hörte sich komisch rauchig an.
Meine Vernunft verabschiedete sich in den Urlaub. Eine letzte Warnung, mich nicht auf ihn einzulassen, dann hatte ich schon in seine Augen gesehen und die Flammen darin verbrannten das letzte bisschen Gefühl von Angst. „Ist der Brief für eine wichtige Person?", fragte ich vorsichtig.
„Ein guter Freund." Etwas in seiner Samtstimme hörte sich eine Spur zu hoch an, das Feuer flackerte, und ich glaubte sogar auf eine schmerzliche Art.
Ich wollte nicht weiter bohren und ihn damit eventuell verletzen. So viel Vernunft besaß ich dann doch. „Okay, ich helfe dir. Was..." Bevor ich überhaupt aussprechen konnte, hatte er den Stuhl an einem Bein gepackt und mit einem Ruck näher zu sich herangeschoben.
„Du musst mir nur bei der Schreibweise helfen." Er war so dicht, dass ich einen anderen Weg suchte, um meine Anspannung zu verbergen.
Also streckte ich ihm die Zunge heraus, bevor ich mich zurück an sein Chaos wandte.
„Ich hatte auch nicht vor, zu deinem Ghostwriter zu werden, Baji-san." Baji-san. So nannte ihn immer Chifuyu, wenn er über ihn redete. Er redete viel über ihn, warum ich mittlerweile verstanden hatte, dass er ihn auch auf eine bestimmte Art und Weise bewunderte, die ich persönlich nicht nachvollziehen konnte.
Aber, ich bewunderte ihn auch; verboten, heimlich. Ein Geheimnis nur zwischen meinem Herzen und mir.
„Keisuke", lächelte er verschmitzt und reichte mir seinen Füller, „du darfst mich Keisuke nennen, Saejin." Wie er meinen Namen mit seiner samtigen Stimme aussprach, überfiel mich mit einem Mal mit einer kribbelnden Gänsehaut. Seine Lippen dehnten sich weiter aus, als würde ihn etwas an meinem Namen gefallen. Oder meinem Gesicht, weil er mich wieder so betrachtete, als hätte ich von uns beiden ein unbeschreibliches Kunstwerk als Gesicht. Dämliche Hirngespenster.
Mit heißen Wangen schaffte ich lediglich ein Nicken und fuhr schnell zurück zum leeren Blatt Papier, versuchte, sein Kanji zu enträtseln, während ich doch viel lieber dieses geheimnisvolle Glühen seiner Kupferfunken enträtseln wollte.
„Magst du Green Day? Das ist so eine Band, die..."
Er beendete seine Worte selbst, als ich meinen schwarzen iPod aus meinen Cardigan fischte und ihm das letzte Lied zeigte, was gespielt worden war. Boulevard of Broken Dreams von Green Day. Mein iPod gehörte zu diesen Dingen, über die ich als einzige eine Gewaltmacht besaß. So konnte ich die Musik hören, die mir auch wirklich gefiel, ohne dass man es mir aufzwang. In dieser Zeit fühlte mich unheimlich verbunden mit diesem Song und dieser Band, weil sie das aussprach, das ich selbst nicht in Worte fassen konnte und durfte.
Ich war eine sehr gute Weile mit meinem Schatten alleine gewesen, seitdem ich aber Chifuyu fast täglich in der Schule antraf und meine freie Zeit mit ihm verbrachte (oft bei ihm und seinem Kater Peke J), fühlte es sich so an, als würde das weiche Licht seiner Gletscher meinen Schatten vertreiben. Aber bei Keisuke war es mein pulsierendes Herz, das plötzlich in einen ganz anderen Takt schlug. Ein aufregender, kribbeliger Takt, der die dort gefangene Einsamkeit mit einer berauschenden Aufregung ablenkte.
„Musik ist immer gut, um sich zu konzentrieren", schmunzelte ich schließlich verlegen und hielt ihm den anderen Kopfhörer hin. „Wir sollten nur nicht zu laut sein, um einen Rausschmiss zu vermeiden."
Er nahm ihn mir ab, ein breites Grinsen zupfte an seinen Mundwinkeln. „Ich habe schon das höchste kassiert: Hausverbot."
Ich blickte ihn entgeistert an, was aber nur für einen Augenblick hielt, denn dann fand ich das alles plötzlich hochamüsant. Er musste lebensmüde sein, wenn er die Bibliothekarin so herausforderte. Ich schätzte sie nämlich so fies und intelligent wie Rosa aus Monster AG ein. Ich wettete, sie versteckte sich irgendwo hinter den Regalen und wartete nur darauf, den Burschen mit einem Buch abzuwerfen.
Als würde ich mich das beunruhigen, wagte ich es tatsächlich, in den Regalen nach ihr zu sehen. Ich wurde eindeutig paranoid. „Ist das also eine Tarnung? Deine Ich-leck-allen-Lehrern-den-Arsch-Erscheinung?", versuchte ich mich von meiner eigenen Verrücktheit abzulenken.
Er musste lachen, und irgendwie freute ich mich darüber, dass ich für sein Lachen verantwortlich war. Es fühlte sich noch viel besser an als mit guten Noten nach Hause zu kommen. Es war ein wohliges und warmes Gefühl, das ich so noch gar nicht erfahren hatte. Es blühte in mir auf wie eine Knospe, und ein Gold schimmerte durch mein sonst so graues Leben, um es in ein Licht zu tauchen, das nicht hätte greifbarer sein können. Und mir wurde sofort bewusst, dass ich mehr davon wollte. Mehr von seinem Lachen, mehr von diesem schönen Gefühl, dass mein Herz so zum Stocken brachte, weil es fühlte sich so echt an. Echter als alles, was ich bis jetzt gefühlt hatte.
„So wirkt das also auf dich." Plötzlich hob er seine Hand an, wanderte zu seinem strengen Zopf und zog sich das Haargummi heraus, bevor er sich den Kopf schüttelte, um seine wilden Locken über seine Schulter fallen zulassen.
Ich verkrampfte mich ruckartig und vergaß erneut dabei Luft zu holen.
Wie auch beim ersten Mal war ich so fasziniert davon, wie perfekt sie sein Gesicht einrahmten, dass mir dabei nicht auffiel, wie seine Kupferfunken es genauestens aufnahmen. Erst, als ich denselben roten Schleier um seine Nase erhaschte wie auf meiner und sich unsere Augen ineinander verankerten, strömte eine fieberhafte und ertappte Hitze durch meinen ganzen Körper wie ein Warnsignal.
„Besser?", fragte er mit seiner Samtstimme und seine Eckzähne verhedderten sich in seiner Unterlippe, während er sich einzelne Strähnen aus dem Gesicht schob.
Mein Herz stolperte bei seinem schrägen Grinsen. „Besser."
Wir sahen uns direkt an, eine Stille zwischen uns, die so natürlich war wie die in unserem Universum, und, wenn ich nicht befürchtete, ohnmächtig zu werden, hätte ich mich für den Rest des Tages in seinem flammenden Herbstgold verloren. So musste ich zu unserer beiden Frustration den Blick abwenden, zurück auf den Tisch starren, aber mein Herz, so gut wie ich es einschätzen konnte, würde nicht so schnell von seinem Weltallausflug herunterkommen.
Ganz gleich, ob mir auf einmal so schwindelig war, ein komisches, aber gutes Schwindeln, konnte ich mich auf die eigentliche Aufgabe konzentrieren. Ich schaute mir die falsch geschriebenen Wörter an, wies ihn daraufhin und zeigte ihm auf dem Papier, das er mir gegeben hat, wie es richtig geschrieben wird. Er hörte und sah mir aufmerksam zu, und da wusste ich schon, dass dieser Brief eine noch größere Bedeutung für ihn hatte als bloß für einen guten Freund. Dieser Jemand war ihm ungemein wichtig.
Bei einem Wort musste ich aber straucheln.
„Kazu-Tora?", sprach ich es laut aus, um irgendwie ein Gefühl dafür zu bekommen wie ich es immer bei fremden Wörter versuchte (besonders bei Japanisch, schließlich war es nicht meine Muttersprache), „ein Tiger?"
Keisuke – ich mochte es, ihn so zu nennen, weil ich sonst niemand anderes kannte, der ihn so nennen durfte, diese klitzekleine Vorstellung, die einzige zu sein, gefiel mir sehr und änderte etwas in mir, das jetzt noch nicht begreifbar war – lachte leise. Mit seinem Zeigefinger drehte er so an dem Kabel meiner Kopfhörer, dass ich mich zu ihm weiter lehnen musste, damit mir mein Stöpsel nicht aus der Muschel glitt. Ob er das so beabsichtigte, konnte ich nicht aus seinen Augen lesen, weil ich kannte Menschen, die das auch vor Aufregung taten. Aber trotzdem half mir das nicht dabei, meinen Puls zu beruhigen.
„Das ist der Name von meinem Freund. Kazutora – ohne eine große Pause dazwischen", klärte er mich locker auf, und ich fragte mich, wo und wann diese Hemmungen zwischen uns verschwunden waren, die noch vor wenigen Minuten wie kleine, fassbare Moleküle in der Bibliothek schwirrten. Hemmungen, die uns daran gehindert hatten, dem Gegenüber Details über einen zu verraten, die die Schwelle von einer einfachen Schulfreundschaft überschritten.
„Also ist der Brief für ihn?", zog ich daraus einen logischen Schluss.
Er atmete so aus, dass seine warme Brise gegen meine Wange blies und augenblicklich zum Sammelpunkt sämtlichen Blutes wurde. Es fehlten nur noch Zentimeter und meine Stirn würde seine Wange bald treffen, wenn er nicht damit aufhörte, das Kabel zwischen uns zu winden.
„Genau." Ich dachte nicht, dass er noch etwas sagen würde, dass das Thema hier wieder enden würde, aber unerwartet erzählte er weiter, und so schweifte ich mit dem Blick zu ihm, um ihn mein aufrichtiges Interesse zu zeigen. „Wir hatten eine schwierige Zeit, die uns für immer miteinander verbunden hat. Er hat nicht gerade ein gutes Leben, aber ich habe ihm versprochen, immer an seiner Seite zu sein, egal, durch welche Hölle wir noch gehen müssen." Er machte eine kurze Pause und sah mich an, als würde er etwas prüfen wollen. Doch dann musste er schmunzeln, als hätte seine vorherige Sorge, die ihn zum Unterbrechen verleitet hatte, verlassen.
Irgendwas in meinen Augen musste dafür verantwortlich sein, und ich fragte mich, ob er vielleicht glaubte, mich würde er nicht interessieren. Aber ganz im Gegenteil: Er war viel besser, interessanter und spannender als ein Buch über alles aufsaugende, schwarze Löcher in unserem stummen Universum. Wäre noch genug Platz zwischen uns, hätte ich mein Arm auf dem Tischpult und mein Kopf auf meiner Hand abgestützt, um ihn weiter zu zu hören, da er aber das Kabel nicht losließ, musste ich in dieser seltsamen Position verharren. Kurz dachte ich darüber nach, mein Kinn auf seiner Schulter zu lehnen, und dann war ich so schockiert über mich und diesen verrückten Impuls, dass ich für einen Moment den Atem anhielt.
Ein Moment, in dem er weitersprach.
„Er kann gerade nicht bei mir sein, und eigentlich bin ich froh darüber, dass er nicht mehr bei sich daheim sein muss, aber dort, wo er jetzt ist, ist es auch nicht unbedingt besser. Deshalb schicke ich ihm diese Briefe und erzähle ihm von banalen Dingen, wie zum Beispiel, was ich heute gegessen habe. Schräg, oder?" Er grinste mich unsicher an und fast meinte ich die dort diesen Schmerz von vorher in seinen Augen aufblitzen zu sehen.
„Schräg wäre es, würdest du ihm gewisse Bilder schicken", versuchte ich diesen Schmerz schnell auf seinen Kupferfunken zu verbannen und lächelte ihn zaghaft an. Ich wollte schon wegweichen, falls ich zu viel gewagt hatte, doch da drehte er einmal so an dem Kabel, dass ich unverhofft mit der Stirn gegen seine Schulter knallte. Jetzt begriff ich, dass das da keine Nervosität mitspielte. Mein Herz raste so, dass ich mich plötzlich wie benommen fühlte und verspannte.
„Kann es sein, dass du dich selbst verkleidest?", hakte er nach und dieser Ton von Spott entging mir nicht. „Oder wohin ist das Mädchen verschwunden, das sich beinahe in die Hose gemacht hat, als ich ihren Manga in der Hand hatte?"
„Ich habe mir nicht in die Hose gemacht!" Ich plusterte meine Wangen auf und war froh darüber, dass er mir gerade nicht ins Gesicht sehen konnte. Möglicherweise vertiefte ich mich auch auf eine ungesunde Weise in seinen angenehmen Duft von regennasser Wiese. „Vielleicht habe ich aber genau das gebraucht", flüsterte ich gegen den Stoff seines Hemdes und seufzte aus, aber meine Brust verkrampfte sich nur noch heftiger. „Jemand, der meinen Mitschülern zeigt, dass sie nicht mit allem durchkommen. Und vielleicht glaube ich, ein gutes Mädchen spielen zu müssen, weil ich so erzogen worden bin."
Dass ich so ehrlich war, überraschte mich nicht; immerhin konnte ich in seiner Nähe kaum über richtig oder falsch grübeln. Es zählte nur, in seinem fesselnden Feuer zu verglühen, nicht gänzlich, aber so weit, dass er ebenso sich so wenig von mir lösen konnte wie ich mich von ihm. Wenn ich dafür brennen musste, es wäre mir egal, solange er nicht damit aufhörte, mich zum Mittelpunkt seines Universums zumachen.
„Meine Mutter würde mich auch köpfen, wenn ich dieses Jahr nochmal wiederholen muss." Sein Samt nahm eine sanfte Mischung aus Verständnis und Kummer an. „Wenn ich mich so anziehe, habe ich das Gefühl, zumindest mehr als vorher zu verstehen."
„Du weißt, dass du dir das nur einbildest. Unser Gehirn ist sehr leicht zu manipulieren." Endlich hatte ich genug Mut angesammelt, um zu ihm zu schielen. Meine Brust platzte fast, während sich unsere Augen unaufgefordert prompt trafen. Sein Kupfer leuchtete auf, beinahe, als hätte er darauf gewartet, dass ich ihn wieder anschaute. Unmöglich, zu sagen, was er über mich dachte, aber ich nahm an einen Flug von Beachtung in seinen Gesichtszügen wahrzunehmen.
„Wer ist von uns beiden jetzt der wahre Streber?" Seine Brauen schossen neckisch in die Höhe, und für einen Moment schwiegen wir, sodass man nur die kraftvolle Stimme von Avril Lavigne „Complicated" singen hörte. Sie sang darüber, wie kompliziert man sich das eigene Leben machte, wenn man versuchte, jemand zu sein, den man nicht war. Dass es zum Leben nun mal gehörte, zu fallen, zu kriechen und zu zerbrechen. Bei Keisuke hatte ich plötzlich dieses Bedürfnis, genau das zu sein: mein nicht verstecktes Ich.
Aber warum? War es deshalb so, weil nichts in seinen Augen davon sprach, dass er mich verurteilte? Mein Fallen und meine Fehler hinnehmen würde, weil er das Leben bereits verstand und wusste, dass keine Seele rein war? Sowie Avril Lavigne? Er hatte dieses besondere an sich. Diese Außergewöhnlichkeit, die heutzutage zu aussterben drohte, weil niemand sich traute, aus den Primärfarben zu seiner eigenen Farbe zu werden. Jeder versuchte, ein rot oder blau zu sein – aber kein violett oder orange. Doch er war ein geheimnisvolles Tiefblau, und mit jedem weiteren Herzklopfen nahm diese Farbe mehr von mir ein, dass ich glaubte, sie würde danach suchen.
Nach meiner echten Farbe.
„Bücher konnte mir bis jetzt noch keiner wegnehmen, Freunde aber schon", unterbrach ich sicherheitshalber die Musik und überwand mich dazu, zurück in meinen Stuhl zu fallen. Dass mein Stöpsel daraus fiel, wurde nun unwichtig für mich. Wichtiger war es, nicht gleich komplett meine Seelenfarbe preiszugeben.
„Du kommst aus Südkorea, oder?", fragte er nach, aber ich nahm es ihm nicht übel, dass er es nicht wusste. Über mich erzählte man sich genauso viel Schlechtes wie über ihn, nur eben in verschiedenen Weisen. Er, der Rowdy, der nicht zurückschreckte, jemand zu verprügeln. Ich, die Koreanerin, die einfach nicht hierhergehörte. Langsam wurden mir immer mehr Gemeinsamkeiten klarer, und das sollte mich erschrecken, aber irgendwie genoss ich es, dieses flüchtige Zugehörigkeitsgefühl. Seine Nähe fühlte sich vertrauter an als es wahrscheinlich sollte, und es war mir egal. Nur er nicht.
„Ja, aber dort hatte ich auch nicht wirklich Freunde", gestand ich und biss mir in die Wange.
„Warum nicht?" Er hörte sich zu besorgt für jemand an, der andere grundlos vermöbelte.
Und ich fühlte mich zu wohl in seiner Nähe, um nicht hierher zu gehören. „Das ist kompliziert."
Er lehnte sich vor und hielt mir grinsend meinen verlorenen Ohrstöpsel hin. „Ich habe alle Zeit der Welt für eine lange Geschichte." Spielte er gerade wieder auf „Eine kurze Geschichte der Zeit" an? Oh man, wieso war er bloß so hinreißend für einen teuflischen Dämon?
Dennoch konnte ich meine Zweifel nicht zurückhalten und wich seinem glühenden Kupfer auf, indem ich wieder auf die Tischplatte starrte. „Das ist nur verschwendete Zeit."
Er schnaubte aufgebracht. „Du machst mich echt wahnsinnig, Saejin."
Ich glaubte, mich verhört zu haben, und blickte ihn skeptisch an. „Was?"
„Wenn du glaubst, ich möchte das nur aus Höflichkeit wissen, schätzt du mich sehr falsch ein."
Ertappt wanderte ich mit dem Blick zu dem weißen Stöpsel in seiner Hand. „Warum dann?"
„Du erinnerst mich an Kazutora", meinte er und verzog das Gesicht, sein Samt nahm an Geschmeidigkeit ab, „als ich ihn kennengelernt habe, ist er immer sehr zurückhaltend und verunsichert gewesen. Aber in unserem Freundeskreis ist er mit der Zeit richtig aufgeblüht, und, mann, hatten wir einen Spaß zusammen." Mein Lächeln fühlte sich eigenartig an, aber es musste an dem Pein darin liegen. Den Pein, nie zu erfahren, wie es war, in solch einem Freundeskreis zu sein. Keisuke schien dies sofort aufzufallen, denn seine Stimme wurde weicher, vorsichtiger, als wolle er mir diesen Schmerz nehmen. Aber das konnte er nicht. Dafür hatte ich ihn zu spät kennengelernt. „Ihr zwei würdet euch gut verstehen", sagte er und neigte den Kopf so schief wie sein Grinsen, „aber du scheinst offenbar vor Tigern Angst zu haben."
Ich rollte mit den Augen und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Sehr witzig." Dann drehte ich mich von ihm weg. „Ich brauche niemand, der aus Mitleid mit mir befreundet ist, bloß, weil ich das arme und einsame Mädchen aus der Schule bin."
Es war still, zu still, dass ich befürchtete, ihn wirklich mit meinen Worten verletzt zu haben, und ich wollte mich schon entschuldigen, als er mir plötzlich den Stöpsel direkt an das Ohr hielt. Ich lauschte gespannt, konnte fühlen, wie mein Herz so gegen meine Brust stolperte, dass ich den Aufprall gegen meinen Arm spürte, und dann prustete ich schon los.
„Was willst du damit ausdrücken?", fragte ich ihn und gab nach. Ich konnte ihn nicht einfach den kalten Rücken zeigen, das erschien mir nicht richtig. Also wandte ich mich zu ihm herum, und sein Grinsen steckte meine Lippen auf magnetische Weise rasant an.
„Vielleicht ist ja Magie der Grund", spielte er auf seinen gewählten Song „A Kind Of Magic" von Queen an und zuckte gelassen mit den Schultern.
Fassungslos schüttelte ich den Kopf. „Du machst mich wahnsinnig, Keisuke."
Schlagartig zog er die Brauen zusammen. „Das darfst du nicht sagen."
„Hä? Warum das? Hast du etwa das Urheberrecht für diesen Satz?"
„Ein Urheber-was?", brummte er perplex.
Ich kicherte und nahm ihm schließlich den Stöpsel aus der Hand. „Durch das Urheberrecht sind deine eigenen Ideen geschützt. Man spricht auch von geistigem Eigentum", erklärte ich ihm und legte mir symbolisch einen Finger an den Kopf. „Wenn ich jetzt etwas malen würde, ist es quasi meine Schöpfung. Das macht mich zum Urheber meines Kunstwerkes. Nur ich darf darüber entscheiden, kein anderer."
„Zählen wir nicht auch zu Schöpfungen?" Er musterte mich neugierig.
Ich musste an meine Eltern denken und wie sie über mich bestimmten, als wären sie meine Urheber. Schließlich waren sie so gesehen meine Schöpfer – aber das gab ihnen nicht das Recht, alle meine Entscheidungen ohne mich zu treffen. „Würdest du deine Mutter für dich entscheiden lassen?", entgegnete ich ihm und war auf seine Antwort gespannt.
Er verzog seine Mimik zu einer unlesbaren Grimasse. „Auf gar keinen Fall."
„Siehst du?" Es fiel mir schwerer nicht seufzen zu müssen als ihn mit meinem Anflug von Schwermut anzusehen. „Wir können nur das schützen, was wir selbst kreieren."
Er räusperte sich, als wäre es ihm unangenehm, dass ich so viel wusste – und er nicht. Aber mein Wissen hatte keinen schönen Hintergrund, dass ich darauf stolz sein konnte, oder sich jemand anderes deshalb schämen musste. „Du solltest mit der Nase mehr an die frische Luft als sie hinter Bücher zu vergraben", sprach er das aus, was ich mir am meisten wünschte: Freiheit
Es war unmöglich, den grauen Schleier meiner Betroffenheit aufzuhalten. „Ich weiß."
Auf einmal legte er seinen Kopfhörer auf den Tisch und erhob sich voreilig vom Stuhl. „Lass uns das ändern. Heute noch. Da gibt es so..."
„Ich kann nicht", stoppte ich ihn, bevor meine Frustration ihr Höhepunkt erreichen und mich Tränen unaufhaltsam überfallen würden, weil ich mich selbst gerade am wenigstens ausstehen konnte, weil ich es nicht ertrug, ihn enttäuschen zu müssen. Nicht, wenn sein Gesicht dabei so strahlte, als würde er es für richtig halten, mit mir seine Zeit zu verschwenden.
Er sah mich verdattert an. „Wieso nicht?"
Ich packte meinen iPod zurück in meinen Cardigan. „Mein Dad holt mich demnächst ab."
Die Falte zwischen seinen Brauen wurde tiefer. „Du kannst ihm doch einfach sagen, dass du noch was vorhast. Du bist keine 6 mehr."
Jetzt kratzte er wirklich an meiner Frustration, dass ich schmerzhaft lachen musste. Als wäre es ein so schlimmes Geräusch wie Nägel auf einer Tafel zuckte er zusammen. „So leicht ist das mit meinen Eltern nicht. Außerdem holen sie mich jeden Tag ab, weil sie über Kira Bescheid wissen und nicht wollen, dass mir etwas zustößt." Das war nicht mal gelogen. Meine Eltern hatten schon eine andere Schule, eine Privatschule für künstlerische Talente, in Erwähnung gezogen, falls tatsächlich etwas vorfallen sollte. Die Schule würde selbstverständlich noch im Nachhinein verklagt werden.
Seine Stimme nahm eine dunkle Wendung an. „Was sollte dir denn bitte zustoßen?", wollte er beunruhigt genauer wissen.
Kurz kniff ich die Lippen zusammen und stapelte meine Bücher wieder aufeinander, ehe ich die nächsten Worte über mich brachte. „Hab' gehört, dass Kira einen älteren Bruder hat, der offenbar nicht zurückschreckt, auch Mädchen zu schlagen. Und da sie ziemlich sauer auf mich ist, weil ein bestimmter Junge ein paar Kunstwerke verbrannt hat und nun zur Kunst-AG gehört, ist die Wahrscheinlich lebensbedrohlich hoch, dass ich sein nächstes Opfer werde."
Jetzt sprühte sein Kupfer zornige Funken, sein Kinn neigte sich stolz hoch. „Tsk, den werde ich mir vorknöpfen. Wenn ich mit dem fertig bin, wird dir Kira deine Bücher höchstpersönlich hinterhertragen." Dieser Umschwung seiner Persönlichkeit war erstaunlich. „Dir wird niemand mehr wehtun, Saejin", fügte er fast wie ein verbotenes Flüstern hinzu, doch ich hatte ihn verstanden und riss überrascht die Augen auf. War das sein Ernst?
„Aber das musst du nicht", widersprach ich nervös und stand auf, weil mich plötzlich eine fieberhafte Anspannung packte. Ich suchte nach etwas in seinem Gesicht, das mir helfen konnte, zu verstehen, was er vorhatte oder überhaupt dachte, doch da war nichts von Unsicherheit zu finden.
„Ich möchte es, Saejin", entgegnete er und brachte damit mein Herz wild zum Klopfen. Ich hatte keine Ahnung, was ich dazu sagen sollte, weil ich kannte das nicht. Kannte es nicht, wie es war, wenn es da jemand gab, der mich so beflügelte wie er. Dann stahl sich ein gerissenes Grinsen in seinem ohnehin schon schönen Antlitz. „Da hast du deinen richtigen Grund", wisperte er samtig und sein tiefgehender Blick verriet mir, dass er etwas in mir sehen konnte, was sonst niemand sah. „Ich möchte dich beschützen."
Mein Atem stockte. „Aber du kennst mich nicht mal."
„Das ist mir nicht wichtig. Ich möchte nicht nochmal den gleichen Fehler wie vor Jahren machen und dazu beitragen, wie jemand in eine Dunkelheit fällt, die ich hätte aufhalten können." Plötzlich hielt er mir seine Hand hin. „Ich möchte nicht, dass du dich weiter verkleidest. Diese Saejin, die ich hier für eine kurze Zeit erleben durfte, finde ich, muss auf alle Fälle beschützt werden. Ich möchte noch mehr von dieser Saejin kennenlernen, das ist mir wichtiger. Ihre Musik gefällt mir schon mal."
Ich starrte seine Hand an. Es kostete mich einiges, um nicht loszuweinen und mich als jämmerliche Heulsuse zu outen. Vor Freude und Herzaufbrechen. Ein befreiendes Herzbrechen, weil mit einem Mal erreichte das Tiefblau sein Ziel und es spülte alles von der falschen Farbe heraus, die mich umgeben hatte wie ein dicker Kokon. Er brach auf, was mich normalerweise in Panik versetzt hätte, aber es fühlte sich so richtig an, als hätte das Mädchen, das sich in dem Kokon verbarg, nur auf diese Gelegenheit gewartet. Als wäre es von dem glühenden Herbstgold in Keisukes Kupferfunken angezogen worden, und ich musste endgültig den Verstand verloren haben, weil ich nicht daran zweifelte.
Keisuke hatte eine Wirkung auf mich, deren Ausmaß erst gerade angefangen hatte, sich zu offenbaren.
Er lächelte mich an, irgendwie schüchtern und irgendwie entschlossen. „Also – lass mich dich beschützen, Saejin. Und keine Sorge, selbst wenn du mir widersprichst, werde ich es trotzdem tun."
Kein Wort.
Nur eine allessagende Berührung.
Meine Hand in seiner.
Seine Funken gingen in Flammen auf und ein Feuer entfachte in seinem Kupfer, von dem ich mir wünschte, dass es niemals aufhörte, zu brennen – denn, so albernd es sich vielleicht anhörte, hatte ich die Befürchtung, dass, sobald dieses Feuer erlosch, auch dieses Mädchen verschwand, das gerade zu sich fand.
„Hey, da bist du ja. Du musst mir helfen, Baji-san. Saejin, sie ist verschwunden. Ich glaube, Kira..." Chifuyu kam zu uns hinüber und hielt abrupt inne. „Oh, Saejin, du bist ja auch..." Er kam nicht weiter, denn ich splitterte auf einmal viel zu schnell auf. So schnell, dass mein Kopf schluchzend gegen Keisukes Brust landete und dann floss unbeschreiblich viel Schmerz aus mir heraus, der sich unbewusst in den letzten Jahren gebildet hatte. Nun, wo dieser Kokon, der mich behütete hatte, nicht weiter existierte, überfiel mich die rasante Angst vor dem, was in dieser Welt auf mich wartete. Mein Herz fühlte sich leichter, freier an, und ich wusste, dass ich mich allmählich in das Leben tasten musste, das ich schon so lange wollte, aber so wusste ich auch, dass ich damit nicht allein war.
Keisuke war da.
Chifuyu war da.
„Hast du wieder irgendwas Dummes angestellt?", fragte dieser wie eine besorgte Mutter und schien bereit zu sein, seinen besten Freund mit dolchenden Blicken zum Mond zu jagen.
Doch Keisuke legte seine Arme um mich und zog mich behutsam an sich, als könnte er mein Brechen spüren, aber er schien auch als einziger zu wissen, wie man mich wieder zusammenfügte. Und irgendwie war ich glücklich und erleichtert darüber, dass es Keisuke war, weil bei ihm schienen gebrochene Herzen wie meines richtig aufgehoben zu sein. Er hielt mich auf eine Art fest, wie ich noch nie festgehalten worden war. Als könnte er alles von mir abschatten.
„Nein, das nicht", antwortete er und stützte sein Kinn auf meinen Haarscheitel ab.
Ein wunderschönes Kupfer bahnte sich durch das Schwarz meiner Gebrochenheit und holte mich zu sich, das letzte Stück Kokon bröckelte von meiner Seelenfarbe ab.
„Was dann?", fragte der Blonde angespannt.
Ich spürte den warmen Atem seines sanften Lächelns an meinem Haaransatz. „Nur Kunst, Chifuyu. Ich hab' gerade mein erstes, geistiges Eigentum kreiert, das ich unbedingt schützen werde. Vor allem."
Da wusste ich es bereits schon.
Keisuke war mein Schicksal.
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