falling and rising again.


Ich kann nicht sagen, wie ich erwartet habe, Keisuke wiederzusehen - nachdem er seine Familie verraten hat. Vielleicht habe ich gedacht, er würde irgendwo zwischen den anderen Mitgliedern sitzen, sich selbst hassen, immer mehr und mehr, bis seine Selbstverachtung über unsere Liebe gesiegt hätte, oder vielleicht wäre er schon gegangen, würde irgendwo eine ganze Einbahnstraße von Autos anzünden, um seinen Schmerz bildlich darzustellen. Würde irgendwo warten, gebrochen und enttäuscht, aber er würde auf mich warten, wissend, ich würde ihn zusammenhalten, als seine Schwerkraft. Mein Herz hätte mich zu ihm geführt, und vielleicht hätte ich es ihm endlich ausgeschüttet. Vielleicht hätten wir uns geküsst, lange genug, um den Schmerz zu betäuben, lange genug, um die Dunkelheit in uns zu verdrängen, zu belächeln - denn sie würde unsere gemeinsame Flamme nicht unterdrücken können.


Aber er ist noch hier.


Er ist hier und schlägt auf Chifuyus Gesicht ein. Er zerstört es, er zerstört ihn und gleich alles mit, was er mit ihm verbindet. Bewegungslos liegt er unter ihm, kaum ein Atemzug betätigt, drescht Keisukes Faust auf ihn ein und raubt ihn ihm. Sein Blut sind feine, klebrige Sprossen in Bajis Gesicht. Es ist so kalt, so emotionslos. Sein Feuer ist verglommen.


Die Hölle, fällt es mir dazu ein, das ist die Hölle.


In seinen zusammengebundenen Haaren schimmert es wie einer der Scherben, die mein Herz schneiden. Das Band, unser Schicksalsband. Dass er es in diesen Moment trägt, zeigt mir, dass er an mich denkt, dass er immer noch der ein und derselbe Keisuke ist. Auch, wenn mein Herz ganz hart schlägt, hat es kurz vor Freude gestolpert und sich aus dem Wirbel des Entsetzens winden können. Aber nur kurz.


Die versammelten, jungen Männer in einem Kreis verteilt feuern ihn grölend an. Sie fordern ihn auf, ihn umzubringen. Seinen eigenen Vize-Kapitän. So soll er ihnen seine Treue gegenüber Valhalla beweisen. Von Gangangelegenheiten und Ritualen weiß ich wirklich nichts, aber ich weiß ganz genau, wie ich mein Lieblingsporträt zu lesen habe. Sie können nicht das sehen, was ich gerade in Keisukes leeren Augen aufsauge wie sein Sternenstaub, um nicht den Jungen hinter dieser grausamen Düne zu vergessen. Was sie sehen, spielt keine Rolle, sie sehen das, was sie von ihm verlangen. Ein Verräter, ein Monstrum.


Ich sehe so viel mehr.


Die Verzweiflung und Angst, die in seinen harten Zügen gezeichnet ist; das qualvolle Flickern eines brechendes Herzens, wie eine schwach glühende Glut in seinen stillliegenden Kupferaugen. Das unmerkliche Zögern seiner Hiebe, sein verkrampfter Brustkorb; als würde er nicht die Luft einatmen wollen, die voll mit den Partikeln von Elend und Blut seines besten Freundes ist. Wieso macht er das? Was liegt ihn an Valhalla, dass er nicht nur einen Verrat begeht - aber ebenso gleich seinen besten Freund die jahrelange Bindung aus den eigenen Eingeweiden prügelt?


Ich möchte schreien. Ich möchte zusammenbrechen. Ich möchte aufwachen, mit tobendem Herzschlag und der Sicherheit, dass es bloß ein weiterer Albtraum aus Mamorus Fäden ist. Aber ich funktioniere nicht.


„Krankenwagen." Das Wort ist ein zerfetzter Atemzug, ohne wirklich zu atmen.

Kazutora blickt zu mir hinab, seine Wolfsaugen ohne ein Flackern, ohne ein Zucken. Eiskalt. „Nicht jetzt", erwidert er.


Meine Finger krallen sich in seinem Oberarm, so fest, dass ich entweder einen fiesen blauen Fleck hinterlassen werde oder sein Blut so abschnüre, dass sein Arm abstirbt. Wie meine gesamte, zerrüttende Seele von mir in diesem einem Augenblick abgeschliffen wird. „Doch, jetzt", forme ich flehend, „jetzt, bitte."

„Nein."

Schmerz. Ich bin darin eingehüllt. Bade darin. Bin darin begraben.

Keisuke steht auf, die angeschwollenen Knochen außer Acht gelassen wandert er mit der Hand zu seinen Haaren und löst das Band. Er bindet es sich um das Handgelenk, seine Fingern zittern so, dass es erst nach dem dritten Versuch hält. Dann richtet er den Blick auf die drei jungen Männer auf dem hohen Podest vor ihm.

„Und? Ist das ausreichend für euch?", fragt er in die Runde, „werde ich jetzt ein Mitglied von Vallhalla?"

Kazutora tritt hervor, ich weiche zurück und schwinde zwischen hohen Schultern und breiten Körpern, um unentdeckt zu bleiben.

„Ich würde sagen, dass es mehr als genug ist..."

Ich habe genug gehört, genug gesehen - und will bloß noch fort. Aber nicht ohne Chifuyu.
Sie reden weiter, so vergnügt und belanglos, als wäre in diesem Augenblick nicht das gesamte Fundament eines jungen und feuergefangenen Mannes zusammengestürzt. Als hätten sie nicht einen dicken Kratzer in meinem Universum gesetzt. Ein Kratzer, der sich in ein alles vernichtendes, schwarzes Loch verwandeln könnte.

Nach einem sicheren Platz suchend, quetsche ich mich durch die adrenalingeladene Ansammlung und finde mich bald in einer schwach belichtenden Nische wieder. Etwas wie ein kleiner Gang, an dem die Wände mit unleserlicher Graffiti beschmiert sind. Ein Symbol erkenne ich jedoch ohne Mühe: der kopflose Engel. Das Symbol Valhallas. Eine Abrissbirne wäre besser gewesen. Mit ihr haben sie mehr Gemeinsamkeiten als mit einem Engel.

Mit einem Ächzen falle ich auf die Beine und ziehe die Knie an meine Brust. Meine Finger zittern, als ich sie zu Fäuste balle und tief einatme. Ich benötige das jetzt; ein Breakdown. Ein Augenblick, eingehüllt in Stille und Menschenleere, um nicht der geballten Macht der letzten Minuten unterlegen zu sein. Das, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, muss ich erstmal verdauen. Darf mich davon nicht in irgendeine falsche Richtung führen lassen.

Ich muss durchhalten. Für Keisuke. Er hat bestimmt einen plausiblen Grund, wieso er dieses Aufnahmeritual so hinnimmt, um in Valhalla einsteigen zu können. Aber... wieso muss er Chifuyu so scheußlich wehtun? Nicht nur körperlich, auch seelisch. Ich glaube, es irgendwie spüren zu können. Etwas verändert sich in unserem Universum, die Drehungen des Mondes und der Sonne gehen in verschiedene Richtungen und - nein - ich darf mich jetzt nicht hineinsteigern. Meine Universumsjungs sind mein einziger Lichtfunken in meiner Dunkelheit. Der zündende Funken meines Willens, meiner Träume, meines Lebens.

Dieser Ort hier, diese Gewalt hier - ist das die dunkle Seite, von die Keisuke immer gesprochen hat? Die dunkle Seite, wo ich nicht hingehöre? Vor die er mich beschützen will? So unrecht hat er gar nicht. Ich gehöre dort nicht hin, aber zu ihm und Chifuyu. Dort will ich bleiben. Für immer. Also ist es meine Aufgabe als ihr kleiner Planet, die Schwerkraft der beiden wieder auf eine Linie zu bringen.

Zuerst muss ich Chifuyu in ein Krankenhaus bringen, dabei darf mich Keisuke keinesfalls erwischen. Wenn er mich bei Valhalla entdeckt, wird auch der letzte Fade seines Gleichgewichts reißen. Und alles, worüber ich nachdenke, ist, dass wir manchmal glauben, zu explodieren, zu fallen, zu versinken und dass wir manchmal glauben, niemand könnte uns retten, weil wir ihnen nicht diese Seite von uns zeigen wollen. Ehe wir es bemerken, haben wir uns von allem abgekapselt und atmen durch eine Hülle aus, der wir nicht entfliehen können. Doch ich fühle mich nun bereit dazu, meine dunkle Seite mit ihnen zu teilen.

Sie sollten endlich verstehen, dass ich wie sie kein Teil des Lichtes bin und mehr von Schatten angezogen werde. Was tatsächlich in unserer Brust und Augen flimmert, ist unsere Bindung und die Stärke, die wir einander geben. Nicht wir allein, wir zusammen. Wir haben dieses Sternenleuchten erschaffen, das uns alle an der Oberfläche hält. Unsere Verbundenheit füllt unser Universum mit Materie.

Entschlossen stütze ich mich an der rauen Wand ab und versuche die Bilder von Keisukes quälenden Ausdruck aus meinem Kopf zu verbannen. Es ist ihre Schuld, dass er so leidet. Sie haben ihn dazu gezwungen.

„Hey, was machst du denn hier?" Dasselbe könnte ich sie fragen... Mein Herz poltert schmerzhaft gegen meine gereizte Brust, als ich die Person vor mir mustere. Sie ist die junge Krankenschwester mit den violetten Haaren. Wieso ist sie bei Valhalla? Sie ist außerdem nicht allein. Bei ihnen sind zwei weitere Mitglieder von Valhalla. Sie tragen Chifuyu, offenbar bewusstlos, an Arme und Beinen. Sie hält ihnen eine Tür auf und lenkt sie dort hinein, ohne den Blick von mir abzunehmen. „Legt ihn bitte auf die Matte. Um den Rest kümmere ich mich." Sie wirkt aufgelöst, aber bemüht sich darum, mir ein kleines Lächeln zu widmen. „Komm mit, Saejin. Hier drin wird dich keiner finden. Und es gibt Jasmintee."

Schon als ich meinen besten Freund gesehen habe, habe ich bereits beschlossen, bei ihm zu bleiben und nicht ohne ihn diese Hölle zu verlassen. Ich nicke. „Okay", sage ich noch und folge ihr in den Raum.

„Danke, Jungs", bedankt sie sich bei den beiden Gangmitgliedern und schließt die Tür hinter sich. Sie seufzt aus, ihr Lächeln wirkt verkrampft, als sie auf die Matratze mitten im Raum zu geht. Er muss eine alte Küche gewesen, viel davon ist nicht zurückgeblieben - bis auf einen brummenden Kühlschrank und eine zerkratzte Theke mit einem schlicht silberfarbenen Wasserkocher. „Dann kümmern wir uns mal um deinen blonden Freund hier, hm?"

„Wie... steht es um ihn?", frage ich luftanhaltend und bleibe nicht auf der Stelle, stattdessen setze mich auf die andere Seite der Matratze. Sofort greife ich nach Chifuyus Hand und lege sie mir auf den Schoß. Ich bin viel zu aufgewühlt, den Tränen zu nahe, um jetzt ruhig zu stehen.

„Besser als er aussieht", antwortet sie mir, während sie einen kastanienbraunen Koffer auf dem Boden öffnet und verschiedene Utensilien hinauskramt. Bandage, Salbe, Faden, Naht... Sie scheint auf solche Fälle vorbereitet zu sein. „Seine Nase ist nicht gebrochen", klärt sie mich auf und tastet vorsichtig über Chifuyus geschwollenes Gesicht, „aber sein Auge hat es schlimm erwischt. Das wird ein heftiges Veilchen."

Erleichtert drücke ich seine Hand fester. Vielleicht spürt er es, dass er nicht allein ist und findet zurück in die richtige Umlaufbahn. Zurück zu mir. „Wieso ist er nicht wach?"

Sie grinst und fängt an, mit einem in Desinfektionsmittel getränkten Tuch das Blut aus seinem Gesicht zu wischen. Mit jedem weiteren Wischer werden die Prellungen deutlicher, die Keisukes Faust dort hinterlassen haben. Mir wird speiübel, als sich die Bilder seiner Schläge in meinem geistigen Auge drehen wie ein Mosaik.

„Das ist er doch. Könntest du uns den Tee machen? Dann kannst du ihm eine Schmerztablette geben. Mit Tee gehen die dicken Dinger leichter runter, glaub' mir."

Er ist wach? Verunsichert sehe ich direkt zu seinen Augen und mein Herz stolpert, weil ich glaube, zu erkennen, wie seine Lider leicht flattern. Das schwache Schimmern eines schmelzenden Gletschers funkelt durch seine Wimpern, aber es fällt ihm offenbar an Kraft, um sie ganz zu öffnen. „Gehörst du zu Valhalla oder warum machst du das?", will ich von ihr wissen, löse mich nur erschwert von Chifuyus Hand und richte mich auf, um anschließend den Wasserkocher an der Spüle aufzufüllen.

„Mein älterer Bruder hat zu einer Gang gehört. Bei einem Kampf ist er ums Leben gekommen, weil niemand von ihnen hat Erste-Hilfe leisten können. Seine Blutung hätte nur gestoppt werden müssen, bis ein Krankenwagen dagewesen wäre..." Sie hält kurz inne und das Rauschen des Wasserkochers steigt auch in meinem Bauch an. „Seitdem habe ich beschlossen, meine Dienste verschiedenen Gangs anzubieten. Damit kein weiterer Bruder eine traurige Schwester zurücklassen muss."

Weil ich nicht weiß, was ich dazu sagen soll oder wie ich ihr am besten ausdrücken soll, dass ich diesen Schmerz des Verlusts in ferner Zukunft verstehen könnte, konzentriere ich mich darauf, wenigstens ein Herz leichter zu machen. „Das ist wirklich mutig von dir", erwidere ich ihr und überlege, in welchem Regal sich die Tassen verstecken. „Bist du denn nicht sauer?"

„Sauer?", wiederholt sie verblüfft.

Ich finde die Tassen direkt im Regal über die Spüle und fülle sie mit dem heißen Wasser auf. Aber das ist leichter als getan, wenn meine einzig funktionierende Hand so schlottert, dass ich mich anstrengen muss, um nichts zu verschütten. Oder mich zu verbrennen. „Ja, auf diese Gang... Dass sie nichts unternommen haben, dass sie dafür verantwortlich sind, warum dein Bruder jetzt... tot ist." Über die letzten Worte stolpere ich nur.

„Sie sind wie eine Familie für ihn gewesen", meint sie zwar, aber ihre Stimme hört sich nicht mehr so fröhlich an. Mehr gekränkt, einsam. „Wie könnte ich auf die Personen wütend sein, die meinen Bruder so glücklich gemacht haben? Glücklicher als seine eigentliche Familie?"
Ich schlucke und schüttle sogleich den Kopf. „Es tut mir leid. Ich hätte dich das nicht fragen sollen. Das sollte mich eigentlich nichts angehen."

„Ach was, Saejin." Sie sieht mich warmherzig an und nimmt mir ihre Tasse Tee ab, nachdem ich sie ihr herübergebracht habe. Auch mir entweicht ein leichtes Lächeln, Chifuyus Gesicht mag geschwollen und fleckig sein, aber ich erkenne wieder mehr von meinem besten Freund. Mehr vom Frühlingsjungen, mehr von Wärme und Heimat. „Ich bin wütend gewesen. Sehr sogar. Die ersten Tage habe ich wirklich damit gekämpft, nicht die Polizei anzurufen und sie alle zu verpetzen."

Mit meiner Tasse setze ich mich zurück an meine vorherige Position. „Was hat dich aufgehalten?"

„Die Tatsache, dass er auch ihr Bruder gewesen ist. Sie haben genauso wie ein Tier unter seinem Verlust gelitten wie ich. Und sie haben das Geld für seine Beerdigung zusammengekramt, was wir nicht gehabt haben. Ihretwegen hat er den Platz auf dem Friedhof bekommen, von dem er immer gesprochen hat. Darum habe ich es sein gelassen."

Mein Herz wird tonnenschwer, weil ich Keisuke vor mir sehe und wie er mit Tränen in den Augen anvertraut, dass er Schokokuchen sehr gerne mag. Und ihn nur an seinem Geburtstag möchte. Wenn ich ihn nicht rette, wird er niemals mehr die Kerzen eines Kuchen ausblasen... „Du hast mir nie deinen Namen verraten, als ich im Krankenhaus gewesen bin", richte ich mich zurück an sie und kann mich von dieser traurigen Illusion befreien.

Sie hebt den Blick an, ihre Lippen zucken, als wüsste sie nicht, ob sie lieber lachen oder doch weinen soll. „Tomoko."

„Tomoko", wiederhole ich und sehe sie aufrichtig an, „wieso erzählst du mir das alles so frei?"
Ihre Schultern zucken, die Wärme ihrer Schokoaugen dimmt ab. „Du hast auch nicht viele Freundinnen, oder? Als du im Krankenhaus gewesen bist, hat dich keine einzige Freundin besucht. Viele meiner alten Freundinnen haben sich von mir abgewandt, als ich mir Haare gefärbt habe und es sich herumgesprochen hat, dass ich mit „gefährlichen" Gangs abhänge." Sie betont das Wort „gefährlich" und bewegt dabei ihre Finger wie zwei Hasenohren, schnaubend und augenrollend. „Als würde ich sie auf sie hetzen, wenn sie irgendwas falsches tun."

Ich blicke sie überrascht an und fühle mich gleichzeitig fürchterlich verwundet. Verwundet, weil sie mitten ins Schwarze getroffen hat. Ich hätte nicht gedacht, dass ich sie so schnell mögen würde und dass es doch so wehtut, weil ich genau verstehe, wie sie sich fühlt und was sie so sehnsüchtig möchte.

Eine andere Person, der man alles anvertrauen kann, ohne dass sie dafür ihre Angst, ihre Vergangenheit und ihre Dunkelheit kennt. Fürs Erste nicht. Aber mit der Zeit würden wir uns immer mehr öffnen, möglicherweise sitze ich meiner ersten, richtigen Freundin gerade gegenüber und wir wissen es noch nicht, können es aber schon fühlen. Das achtsame Einfiedeln unserer gemeinsamen Geschichten.

„Meine Schulkameraden verabscheuen mich", erzähle ich ihr im Gegentausch offen und fixiere mich mit meinen Augen auf ihre Hände. Sie quetscht eine große Pille aus einem Blister. „Keisuke und Chifuyu sind meine einzigen Freunde. Ich würde alles für sie tun, um sie nicht zu verlieren."
Fragend hebt sie die Brauen hoch. „Keisuke ist der andere, oder?"

Unerwartet fasse ich sehr schnell vertrauen zu ihr, als würde ich sie schon länger kennen. „Ja. Er hat seine andere Gang verraten, um Valhalla beizutreten." Meine Augen brennen, wenn ich an seinen Ausdruck zurückdenke. An diesen Schmerz, den er mit jeder Faser seines Empfindens gespürt haben muss. Ich wünsche mir, er wäre jetzt bei mir, damit ich ihn zurück in unser Universum einschließen könnte. Irgendwie spüre ich es, dass er mich gerade braucht; spüre, wie sein verletztes Herz nach meinem ruft. Doch diesmal siegt meine Vernunft darüber. Wenn ich jetzt zu ihm gehe, wird seine Welt, die schon genug gebröckelt hat, komplett zusammenstürzen.

„Ich weiß." Sie umschließt die Tablette mit ihrer Faust. „Die anderen haben die letzten Tage über nichts anderes geredet. Sie glauben, mit ihm einer der stärksten Gangs in Tokio werden zu können. Bist du denn sauer auf ihn?"

Ich beiße mir in die Unterlippe und meine Augen füllen sich heftiger mit Tränen, weil ich mir bewusst werde, dass ich ihn nicht habe aufhalten können. Ganz gleich, mit wie viel Hingabe, Respekt und Aufopferung er über Toman am Schrein gesprochen hat, hat er dennoch seinen Verrat durchgezogen. Ein noch schlimmerer Rückschlag als die Dunkelheit in meiner Seelenwelt.

„Nein, bin ich nicht", atme ich durch den Kloß in meinem Hals und presse die Zähne zusammen. Ich bin durcheinander, erschöpft, aber ich schaffe mir das Bild von meinem geliebten Feuerengel zurück. Nur hat er keine Flügel mehr. Er ist dazu verdammt, auf Erden zu bleiben. Bei mir. Und ich werde diesen verdammten Fleck zum schönsten und sichersten Ort für ihn machen. Einer, bei dem er so geliebt wird wie er ist und wie er sein möchte.

Ein Ort zum Bleiben.

Ich weiß nur noch nicht wie.

„Ich bin überzeugt davon, dass er seine Gründe hat. Keisuke würde sie niemals verraten. Nicht einfach so. Sie..." Zusammenzuckend blicke ich zu meinem Schoß, als ich dort ein fremdes Gewicht wahrnehme.

Chifuyu hat seine Hand bewegt, dort hingelegt. Augenblicklich findet die Tasse ihren Platz auf den Kacheln und meine Hand seine. Zärtlich streichle ich ihm über den Handrücken und sehe zu seinen zuckenden Lidern - doch er ist immer noch nicht stark genug, um sie zu öffnen. Sein Mund bewegt sich leicht, nur raues Gemurmel weicht hinaus, aber ich glaube zu ahnen, was er mir mitteilen möchte.

„Keine Sorge, Fuyu, ich werde ihn nicht aufgeben."
Ein sanftes Drücken reicht mir als Zeichen, um zu wissen, dass er mich gehört hat.

„Hier", Tomoko reicht mir die Tablette. „Gib' sie ihm. Das wird ihm dabei helfen, bald wieder genug Kraft zu haben."

Ratlos starre ich sie an. „Okay, und wie mache ich das?"

Sie lächelt beruhigend, als wolle sie mir meine Unsicherheit abnehmen. Und es funktioniert tatsächlich. „Du musst seinen Kopf aufrichten, damit er sich nicht verschluckt."

„Das sollte ich schaffen", spreche ich mir selber Mut zu, dann rutsche ich so über die Kacheln, bis ich an seinem Kopf angelangt bin. „Kannst du mir helfen, ihn aufrecht hinzusetzen? Eine Hand mehr wäre sehr hilfreich." Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, bei gewissen Dingen nach Unterstützung zu fragen. Allein kann ich nicht alles schaffen, auch so sehr ich mich dagegen gesträubt habe, muss ich es mir nun eingestehen. Ich hatte einen Unfall, ich kann nicht mehr vieles so wie davor, aber eine Sache ist mir nicht genommen worden: meine Gefühle, meine Hingabe und Liebe für meine Universumsjungs. Mein Leben mit ihnen.

Jedenfalls noch nicht.

Hastig nickt sie. „Natürlich."

Gemeinsam ziehen wir Chifuyu so auf, dass er mit dem Rücken gegen mich lehnt. Meine Beine schließen sich fest um seine und stützen ihn ein bisschen. „Könntest du ihm den Tee geben?" Meine Stimme wird unbeholfen. „Wegen meiner Hand kann ich..."

Sie fasst sich peinlich berührt an die Stirn. „Schon gut. Das war dumm von mir, das von dir zu erwarten. Ich dachte nur, du würdest es gerne übernehmen wollen."

„Das will ich auch", besänftige ich sie. Für uns beide scheint das hier etwas holprig zu sein, diese Freundinnensache. Ich habe noch nie eine Freundin gehabt. Sie wäre die allererste. Die allererste, menschliche Freundin. „Gemeinsam sollten wir es schaffen." Es sind diese Worte, die ich öfters verwenden muss. Gemeinsam, nicht allein.

Zusammen schaffen wir es, Chifuyu die Schmerztablette ohne Komplikationen zu verabreichen.

Danach sackt sein Kopf gegen mein Schlüsselbein und Tomoko verarztet noch die letzten Schwellungen mit Wundsalbe und Bandage. Wegen seinem Auge müsste er nochmal zum Augenarzt, eventuell ist seine Sicht eingeschränkt. Zudem vermutet sie noch eine leichte Gehirnerschütterung. Aus diesem Grund hat sie seinen schonenden Verband um seinen Kopf gebunden und sein rechtes Auge sorgsam gepflegt.

„Also, Saejin: Wieso bist du eigentlich hier?" Nachdem sie alle Utensilien eingepackt hat und mir einen frischen Blister von Schmerztabletten für Chifuyu anvertraut hat, hat sie sich auf die Theke gesetzt. Ihre Dr. Martens baumeln unruhig gegen das klapprige Holz, ihre Schokoaugen starren mich an, die Hände mit den schwarzen Nägeln fest um ihren Tee geschlossen.

Sie ist von Anfang hat mit mir ehrlich gewesen. Ich bin kein Mensch, der so etwas nicht erwidert. Genauso wie sie will ich einen neuen Menschen mit all seinen Wunden und Träumen kennenlernen und in mein Herz schließen. Für immer. Eben wie ich bin. Wenn jemand einen Platz in meinem Herzen einnimmt, dann für den Rest meines Lebens. Wie Keisuke; wie Chifuyu, dem ich in diesem Moment liebevoll die blonden Haare kraule. Er gibt kleine, brummende Geräusche von sich, als würde er diese Berührung gänzlich genießen und gebrauchen.

„Ein Freund, Kazutora, hat mich hierher mitgenommen. Ich wollte zu Keisuke und für ihn da sein, weil ich nicht will, dass er sich in irgendeine Weise schuldig fühlt. Für das hier, oder was er ist. Er denkt immer so schlecht über sich."

„Oh, das merkt man ihm gar nicht an..." Sie stützt das Kinn an der Hand ab und blickt mich mitfühlend an. „Für mich wirkt er sehr selbstbewusst. Also so richtig. Hätt' nicht gedacht, dass er etwas auf den Herzen liegt hat, außer die Sache mit dir."

Und wie er das ist. Mein Sturkopf. „Er ist wirklich gut darin, es zu verbergen. Er ist ein Einzelkämpfer. Ihm ist es egal, welchen Schmerz er erleiden muss, wenn er jemand dadurch schützen kann. Aber ich verstehe nicht ganz, wieso er das getan hat und wen er versucht zu beschützen." Mein Kinn verschwindet in Chifuyus Strähnen, sein süßlicher und vertrauter Duft beruhigt mich und mein aufgeregtes Herz. Der Frühling tut mir so, so gut. Aber auch mit Tomoko darüber zu reden ist schön und verhilft mir dabei, selbst zurück in die Umlaufbahn zukehren.

Denn in den letzten Stunden bin ich das keineswegs gewesen, ich bin orientierungslos und hilflos in der Dunkelheit geschwebt.

Wie so häufig habe ich meinen Gedanken die Kontrolle über mich überlassen. Sie haben mich geblendet, mich in meinem eigenen kleinen, dunklen Turm ausgesperrt. Dabei ist das meiste davon eine Lüge gewesen. Unser Verstand ist unser größter Feind, weil wir meistens erst bemerken, wie er uns in die Irre führt, wenn es bereits zu spät ist. Außer jemand weckt uns auf, holt uns zurück, schützt und liebt uns und sagt uns die Wahrheit, für die wir uns nicht gut genug halten. Und wie so oft stehen wir auf und kämpfen weiter. Allmählich glaube ich verstanden zu haben, was es heißt, zu leben. Zu leben heißt niemals aufzugeben.

„Du solltest mit ihm darüber reden", rät Tomoko mir, aber sie weiß nicht, dass das nicht möglich ist, dass Keisuke in mir jemand gefunden hat, bei dem er allem entfliehen kann, was sich hinter den vier Wänden dieses Raumes abspielt. Das möchte ich ihm nicht entreißen. Sie nippt grinsend an ihrem Tee. „Ich spüre da solche Vibes zwischen euch. Ihr mögt euch sehr gerne, oder nicht?"

„Er ist mein Freund." Ich sehe keinen Grund dafür, es ihr zu verheimlichen. „Ich würde für ihn sterben, wenn es sein muss."

„Oh, wow!", staunt sie und schlägt so heftig gegen die Theke, dass es laut Rums! macht. Ich fahre erschrocken zusammen. „Das kam jetzt aber ernst herüber. Das meinst du aber nicht so, oder?" Fast glaube ich eine ansteigende Sorge in ihrem Antlitz zu erkennen.

„Doch", gestehe ich ihr kleinlaut. „Wenn ich ihn so retten kann."

Plötzlich springt sie honunter und kommt zu mir hinüber. Ihr Blick ist unausstehlich bitter. „Saejin, du solltest für keinen Kerl dieser Welt dein Leben aufgeben. Du bist hübsch, hast einen süßen Stil - du könntest jeden um den Finger wickeln, glaub' mir, Süße."

Kräftig schüttle ich den Kopf. „Für mich gibt es nur ihn."

„Verrückt", murmelt sie fassungslos mit großen Augen. Wenn sie mich so ansieht, hat sie einen honigwarm-goldenen Schimmer in ihrer Schokolade. Ein wenig wie Karamell. Gelassen stützt sie sich eine Hand in die Hüfte. „Du bist echt verrückt, Saejin. Aber ich glaube, das kann ich durchgehen lassen. Aber nur das. Keine anderen Verrücktheiten, bitte."

Irritiert muss ich die Stirn runzeln. „Wie meinst du das?"

„Ich mag es, wenn man etwas verrückt ist. Das ist nicht so langweilig - aber es sollte nicht die Grenze eines Serienmörders überschreiten." Sie kichert und geht an mir vorbei. „Hast du auch solchen Hunger? In der Nähe gibt es einen richtig guten Pizzaladen. Ich würde uns eine holen. Margaritha?"

Die letzten Tage habe ich kaum etwas hinuntergedrückt. Mein Magen und meine Gedanken sind voll mit Sorgen, Dunkelheit und Unsicherheit gewesen, jetzt werden sie immer leerer, klarer, und mein Magen scheint schon auf diese Gelegenheit gewartet zu haben.

„Das wäre sehr nett von dir. Danke, Tomoko."

Sie winkt mit einem beschämten Lächeln ab. „Mach ich doch gern. Pass so lange auf unseren Patienten auf. Ich besorge lieber mal zwei Pizzen. Wette, der wacht dann auf, wenn wir essen. Ein Patient ist mal aus dem Koma erwacht, weil er meine Pizza in der Abendschicht gerochen hat. Unglaublich sag ich dir." Ich folge ihrem Augenroller zu Chifuyu. „Bis gleich, Süße." Mit diesen Worten und einem Winken geht sie aus dem Raum.

„Bis gleich", murmle ich zurück. Abermals verschwindet meine Nase in dem dichten Blondschopf bei mir. Ich nehme einen tiefen Atemzug. Er riecht so nach Frieden, so nach Hoffnung. Trotz den letzten Umständen hat er nicht an Wirkung verloren, erwärmt mich wie eine Knospe unter einer dicken Eisschicht und schlägt es auf, damit ich aufatmen kann. Seine Wärme breitet sich in mir aus, ein kleiner, erhellender Sonnenstrahl der Stärke. Dann sticht er zu. „Es tut mir leid so, Chifuyu", flüstere ich wehleidig, „so, so leid. Du hast es nicht verdient, dass er seinen Schmerz an dir herauslässt." Ich hätte es dir früher sagen müssen. Vielleicht sogar davor warnen. Dann wärst du jetzt nicht hier. In meinen Armen. Verraten, belogen und verletzt.

„Du hast recht, Saejin." Als er plötzlich zu reden anfängt, eher krächzt und hustet, hebe ich überrascht den Kopf an und schiele zu ihm. Er hat sein gesundes Auge endlich geöffnet, ein weicher Schimmer von Gletschereis trifft mich mitten in die aufgerüttelte Seele. „Baji-san hat Toman nicht grundlos verlassen. Ich weiß nicht, was er dir alles über sie erzählt hat, aber es gibt einen Verräter unter ihnen."

Mein Herz setzt aus. „Einen Verräter?", stoße ich angestrengt die warme Frühlingsluft aus. Schlagartig ist mir wieder kalt.

Seine Hand auf meinem Schoß verkrampft sich zu einer Faust. „Einer von Valhalla", ächzt er kratzig, als würde ihn das Sprechen die Lungen zerquetschen. „Ein Spitzel. Ich bin mir sicher, Baji-san möchte so herausfinden, wer er ist."

„Also macht er das, um Toman zu schützen", stelle ich laut fest. Und wer auch immer dieser Spitzel ist, er wird an seinem Tod Schuld mittragen.

Chifuyu lehnt den Kopf stärker in den Nacken, um mir so direkt in das Gesicht sehen zu können. Ein sanftes Lächeln umspielt seine aufgerissenen und zitternden Lippen, aber sein glänzender Gletscher bricht auf einmal auf und schmilzt. „Ich bin so froh, dass er es dir endlich gesagt. Endlich..." Eine vereinzele Träne rollt über seine Wange und versinkt in der Spalte seines Lächelns. „Endlich ist mein Gewissen wieder frei. Die ganzen Jahre habe ich darauf gewartet, dass du weißt, wer wir wirklich sind. Ich hatte dieses Versteckspiel echt satt - aber, mann, Baji-san wollte dich unbedingt davor schützen. Der hat mich damit wirklich in den Wahnsinn getrieben."

Diese Worte zerreißen mir das Herz.

Meine Hand findet zu seiner auf meinem Oberschenkel und umklammert sie sicher. „Ich bin auch froh, es nun zu wissen. Das erklärt mir so einiges, wie eure Fehlzeiten und die Verletzungen, die ihr immer versucht habt, vor mir zu verstecken."

„Du hast sie bemerkt, nicht wahr?" Seine Züge werden leidender, als hätte sich sein Schmerz verschlimmert.

„Jede einzelne von ihnen." Die Dunkelheit um meine Seelenwelt sammelt immer mehr Risse an, Licht und Erleichterung durchflutet mich. Einerseits bin ich glücklich, dass dieses Geheimnis nicht mehr zwischen uns steht, auf der anderen Seite ist sie tatsächlich etwas dunkel. Aber nicht dunkel genug, denn sie wird von Chifuyus auftauenden Mondlicht in die Ecke gedrängt. „Als sich Keisuke den Arm gebrochen hat, habe ich mir einfach nicht vorstellen können, dass ihm das passiert ist, weil er mit dem Arm in einem Snackautomaten steckengeblieben ist. Ein Motorradunfall hätte mich eher überzeugt."

Er seufzt aus. „Ich hab's ihm gesagt, aber der Kerl hat mir ja nicht geglaubt. Wieso hast du uns aber nicht gefragt? Wenn du es schon irgendwie geahnt hast."

Meine Kehle fühlt sich staubig an, aber langsam wird es einfacher. Alles wird einfacher, wenn ich es mit ihm teile. „Weil ich euch vertraut habe und daran geglaubt habe, dass ihr es mir irgendwann im richtigen Augenblick verraten wird. Schließlich habe ich auch so meine Geheimnisse vor euch."

Neugierig neigt er den Kopf weiter in meine Richtung. „Was zum Beispiel?"

Meine Unterlippe bebt. „Ich kann ohne euch nicht leben."

„Das ist..." Bevor er weiter aussprechen kann, unterbreche ich ihn und merke, wie meine Stimme bricht.

Es sprudelt einfach aus mir heraus, denn kaum sehe ich in seinen aufgelösten Frühling, sehe ich auch dort einen wichtigen Bestandteil meines Zuhauses. Gleichzeitig fühle ich mich bestärkt darin, ihm es zu erzählen. Es fühlt sich vielmehr nach Freiheit und Erlösung an, als würde sich meine Position in der Umlaufbahn zwischen ihm und Keisuke befestigen. Ein letztes Mal renke ich mich ein. Ein letztes Mal, um dort zu bleiben. Bis zum Ende der Zeit.

„Es ist wirklich so. Ihr seid mein Alles, Chifuyu. Ihr seid meine Heimat, mein Universum. Vor meiner Zeit in Tokio wollte ich mich... umbringen. Ich hatte keinen Sinn darin gefunden, so weiterzuleben. Als jemand, der ich nicht sein möchte."

„Scheiße, Saejin..." Er löst sich von mir und gibt ein schmerzhaftes Zischen von sich, als er seine Hände auf meine Schultern ablegt. Als verspüre er die Angst, mich in diesem Augenblick zu verlieren, hält er mich so fest wie kein anderes Mal. Er kann es womöglich nicht fühlen, aber ich tue es: wir sind wieder in der Umlaufbahn unseres Universums. Er schluckt schwer, stottert etwas. „Hast du es versucht?"

Verneinend schüttle ich den Kopf, meine Tränen setzen sich in meinen Wimpern fest und ein schwaches Schniefen verlässt meine juckende Nase. „Ich wollte mich von einer Brücke stürzen, aber dann... hat mich ein guter Freund davor bewahrt. Und, als ich hierhergekommen bin und euch getroffen habe, da habe ich zu mir gefunden. Ihr wolltet mich genauso wie ich bin und nicht jemand aus mir machen, der euch gefallen würde. Das... Das hat mir geholfen. Ungemein. Ihr seid es wirklich, meine Helden, Chifuyu. Wenn ich nur einer von euch verlieren, befürchte ich, wieder zu fallen. Und das endgültig."

Meine Worte lösen etwas in ihm auf. Er lässt mich los, nimmt mein Gesicht in seine Hände und sieht mich tief an. „Du wirst keinen von uns verlieren, Saejin, das verspreche ich dir. Wir werden immer zusammenbleiben. Wir können doch auch nicht ohne dich." Sein Gletscher ist gebrochen und traurig. „Vergiss nicht, du bist unser Sternenmädchen."

Er hat es ausgesprochen. Sternenmädchen. Mein Herz tanzt.

Im nächsten Moment fühle ich mich in die Vergangenheit zurückgesetzt, zurück an die Mapo-Brücke. Diesmal bin ich nicht allein. Diesmal sind Chifuyu und Keisuke bei mir und halten meine Hand. Diesmal muss ich es mir nicht vorstellen, diesmal bin ich es.

Der Lieblingsstern von jemand.

Ein Sternenmädchen.

Ihr Sternenmädchen.

„Genau das bin ich." Geräuschvoll atme ich aus und fühle mich auf einmal so viel leichter und behütet. Mit einem Schleier aus Tränen schenke ich ihm ein weiches und salziges Lächeln. „Ich liebe dich und Keisuke so sehr."

Für einen kurzen Augenblick weicht Chifuyus Mimik auf, dann zieht er mich in seine Arme, zieht mich zurück in seine belebende Wärme. „Ich dich auch, Saejin. Vom ganzen Herzen."


Zum ersten Mal kann ich nach meiner Begegnung mit Mamoru wieder atmen, ohne dass mir dabei meine ganze Existenz belanglos vorkommt. Meine stürmische Seele kommt zur Ruhe. Achtsam vergrabe ich mein feuchtes Gesicht an seiner Brust, fühle, wie er die Zähne zusammenbeißt, weil ihn ein Schmerz schneidet, der von allen Seiten ausgeht. Aber er hält ihm stand, gibt nicht nach, nur, um mich nicht loszulassen. Er würde diesen Stern immer mehr beachten und umsorgen als all die anderen, die er in seinem Gletscherhimmel hütet.

„Du musst dich noch ausruhen, Fuyu", erinnere ich ihn sanft, auch wenn ich mich dagegen sträube, ihn ebenso loszulassen. Gerade möchte ich nichts lieber als in der wohlwollenden Wärme seiner Nähe treiben, meine halbvertrockneten Blüten von mir werfen, um neue wachsen zu lassen. Sie werden stärker und bunter sein als nach keiner anderen Kälteperiode zuvor - denn der verborgene Frühling in seinem sternenbesetzten Gletscher wird niemals enden. Er wird mich immer aus jedem Stadium der Kälte und Traurigkeit holen können.

„Das kann ich auch so", versucht er hart auszusprechen, aber sein Leid dämmert zu laut mit, als dass ich ihn ignorieren könnte. „Ich halte das aus. Ich habe auch kein einziges Mal zusammengezuckt, als mir Baji-san die halbe, verdammte Seele rausgeprügelt hat. Hätte er seine wahre Stärke eingesetzt, hätte man mich begraben müssen."

„Du verzeihst ihm?", säusle ich gegen seinen Pullover und lehne mit der Wange dagegen, da sich schon genug Blut und Tränen darauf befinden. Würde er meine Hand nicht halten, hätte ich bereits angefangen, einige Fusseln wegzuzupfen.

Sein breites Grinsen ist wie die Melodie seiner treuen Seele. „Natürlich. Ich werde immer hinter meinem Kapitän und besten Freund stehen."

Wieso überrascht mich das nicht? Weil ich ebenfalls so reagiert hätte. „Du bist zu gut für diese Welt. Ehrlich, Chifuyu, du bist genau die Art von bestem Freund, die der eigentliche Held einer Geschichte sind. Wie Sam aus „Herr der Ringe." Er ist Frodos wahre Stärke. Ohne ihn hätte er den Ring niemals zerstört."

Sein Lachen ist warm und fließt direkt in mein Herz. „Oh man, du machst es mir echt schwer, nicht doch diese Filme anzusehen."

„Wie? Du kennst Herr der Ringe nicht?"

Er lässt mich sofort los, als Tomoko die Pizzakartons loslässt und ihn einem entsetzten Blick widmet.

„Du bist doch das Mädchen aus dem Krankenhaus!", fällt es ihm gleich ein. Seine Augen funkeln misstrauisch auf. „Hast du etwa endlich jemand gefunden, der dir seine Nummer gegeben hat?"

Jetzt fängt sie das Lachen an, während die Pizzakartons vom Boden aufhebt. „Sorry, ich fange mit Gangmitgliedern nichts an. Hätte ich das gewusst, hätte ich dich nicht mal zu ihr durchgelassen. Du bist nämlich ganz schön vorlaut."

„Besser so", schnaubt er und drückt sein Kinn zurück gegen meine Stirn, bis er mir dort einen feinen Kuss hinterlässt. Dann stützt er mit einer Hand mein Kinn hoch. „Ich werde Baji-san bei seinem Vorhaben unterstützen. Damit er nicht in irgendeine Scheiße gerät. Und wenn das vorüber ist, machen wir einen Filmmarathon zu dritt."

Als er mich wieder in die Augen sieht, kann ich nichts, außer ihn anzustrahlen. Das Mondlicht seines Gletscherhimmel ist gütig, einfühlsam und unverändert. Mein Geständnis hat seiner angekratzten Seele nicht geschadet, oder ihn von mir weggeschoben. Er sieht mich mit Mondlicht und Zuversicht an, und er sieht mich so an, als würde er auch meine dunkle Seite bewundern und wertschätzen. Und er berührt mich damit so, dass ich einen Kloß im Hals bekomme, aber das letzte Eis um mein Herz wegschmilzt. Es wird warm, so schön warm.

Jeder braucht einen Chifuyu in seinem Leben.

„Du wirst die Filme lieben", schniefe ich und bemühe mich darum, meine Mundwinkel oben zu halten.

Tomoko räuspert sich laut. „Ich habe noch jemand mitgebracht. Der ist fast jeden an die Gurgel gegangen, weil er dich nicht gefunden hat."

Das kann nicht sein...

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